Zur Begrüßung hat jedes Kind ein anderes Kind auf einem Din-A4-Blatt vorgestellt und den Zettel anschließend an die Wand gehängt. "Sie spielt gerne volibal", hat Anastasia über Lena herausgefunden. Über Saskia lernt man, dass sie "gerne Pitza" isst und über Ahmed, dass er "gamebeu" spielt.
Ahmed, Anastasia, Lena, Saskia und die sechs anderen im Raum gehen an verschiedenen Schulen in Bremen in eine dritte Klasse. Ihre Eltern stammen aus Marokko und der Türkei, aus Russland und dem Libanon. Wenn sie jetzt, mitten in den Sommerferien, nicht im idyllischen Verden an der Aller in einem Klassenzimmer sitzen würden, säßen sie in den kleinen Wohnungen ihrer Eltern - oder in einem Land, das sie oft nur aus Erzählungen der Eltern kennen. Und egal ob im Urlaub bei der Großmutter an der türkischen Südküste oder vor dem Fernseher in Bremen-Walle: Kaum einer von ihnen hätte in den großen Ferien besonders viel - und richtiges - Deutsch gesprochen.
Nach sechs Wochen Freizeit wären sie in die vierte Klasse gekommen - und hätten sich dort vermutlich schlechter verständlich machen können als vor den Ferien. Das legen jedenfalls die Erkenntnisse US-amerikanischer Wissenschaftler an der John Hopkins-Universität in Baltimore nahe. In einer zehn Jahre laufenden Studie haben sie beobachtet, dass Kinder aus bildungsfernen Familien in den drei Monate langen US-Sommerferien gegenüber ihren Mitschülern deutlich zurückfallen. Das gilt nicht nur, aber auch für Migrantenkinder, die in den Ferien mit ihren Eltern in deren Heimat reisen und dort ihr Englisch teilweise einfach wieder verlernen. In Baltimore arbeitet deswegen ein Institut für "Summer Learning" daran, dem "Summer Setback" zu begegnen - vor allem mit "Summer Camps", in denen die Schüler auch in den Ferien Lesen, Englisch oder Mathe lernen.
Das erste deutsche Sommercamp fand in den vergangenen Sommerferien in drei Schullandheimen im Bremer Umland statt. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin hat das Konzept entwickelt und in der durch PISA und IGLU wegen der katastrophal schlechten Ergebnisse der Hansestadt besonders aufgeschreckten Bremer Schulbehörde einen dankbaren Partner gefunden. Aus 23 Grundschulen und 250 Bewerbungen wählte man per Zufallsprinzip 150 Drittklässler aus, die drei Wochen lang gezielt in der deutschen Sprache gefördert werden. Die meisten, aber nicht alle, waren Kinder aus Einwandererfamilien. Das Programm, das den Kindern geboten wurde, war dabei so gestrickt, dass die Acht- bis Zwölfjährigen nicht gleich wieder wegliefen: Vormittags von 9 bis 11 Uhr gab es "DaZ" (Deutsch als Zweitsprache)-Unterricht für alle; nachmittags und abends aber widmete man sich auf dem Gelände in Grünen spaßvolleren Dingen: einem täglichen Theaterworkshop, Schatzsuche, Wüstenolympiade oder einer Kinderdisco. Einer krähte zwar gleich am ersten Tag "Iiiih, hier gibt´s ja Unterricht", erzählt ein Betreuer; letztlich aber sei die Ausfallquote gering gewesen.
Um 10 Uhr aber stand jeden Morgen Schulbank auf dem Programm. Ahmed, Anastasia, Lena, und die anderen quälen sich. Auch Hasret, die erzählt, dass die einzigen in ihrer Familie, die Deutsch können, ihre Brüder sind, tut sich sichtlich schwer. Vier Papierschnipsel liegen vor ihr auf dem Tisch. Sie soll sie zu einer sinnvollen und grammatikalisch korrekten Aussage zusammensetzen. "Alle Kinder und Betreuer spielen jeden Morgen auf dem Spielplatz" könnte eine lauten, eine andere "Jeden Morgen spielen alle Kinder und Betreuer auf dem Spielplatz". Hasret schreibt: "Alle Kinder und Betreuer jeden Morgen spielen auf dem Spielplatz." Seit Tagen predigt die Lehrerin Mirja Rauschendorf immer wieder: Das Verb bleibt, egal was passiert, im Deutschen immer an der gleichen Stelle. Oder, so steht es groß und blau an der Wand geschrieben: "Das Verb ist der Chef." "Was ist das Verb?" fragt sie Hasret. "Betreuer?".
Wer die zehn Kinder beobachtet, bekommt eindrücklich vermittelt, wie schwer es ist, sich in der deutschen Sprache zurechtzufinden, wenn sie einem nicht von zu Hause mitgegeben wird. Es hapert an Grammatik und Rechtschreibung, aber auch an der Lesekompetenz. Wenn die Kinder vier mal zwei Sätze so in eine Reihe bauen sollen, dass daraus eine Geschichte wird, scheitert etwa die Hälfte. "Und wer einfache Aufgaben nicht versteht", sagt Mirja Rauschendorf, "der kommt nicht nur in Deutsch, sondern auch in Mathe und Sachkunde nicht mit." Das schulische Scheitern ist programmiert, in Bremen übrigens mehr als anderswo: Laut der Grundschulstudie IGLU-E fehlen jedem vierten Bremer Schüler grundlegende Lesekompetenzen; jeder Dritte hat deutliche Rechtschreibprobleme.
Im Alltag fällt das häufig gar nicht auf. Jeder der zehn Schüler hat Strategien entwickelt, sich irgendwie verständlich zu machen. Hasret lässt das Deklinieren und Konjugieren gerne ganz sein. Sie sagt Sätze wie: "Mama nicht mehr arbeiten" oder "Brüder spielen Fußball". Wenn sie Artikel verwenden müsste und nicht weiß, ob es der oder die Tisch heißt, nuschelt sie sie in sich hinein. Oder sie formuliert Sätze so, dass ihr Gegenüber sie fast ohne es zu merken, vervollständigt. "Mit solchen Vermeidungsstrategien kommen Kinder häufig jahrelang durch", sagt Petra Stanat, die das "Summer Camp" für das MPIB konzipiert hat und nun wissenschaftlich begleitet. Auf Dauer aber gäbe es schulischen Erfolg nur für Schüler, die auch der akademischen Sprache mächtig seien. Herauszufinden, wo Brüche und Brücken zwischen Alltags- und akademischer Sprache sind, ist deswegen auch ein Auftrag der wissenschaftlichen Begleitforschung.
Petra Stanat hat aber noch zahllose weitere Aufträge. Denn auch wenn man es kaum glauben mag, weiß man in Deutschland fast ein halbes Jahrhundert nach Ankunft des ersten Gastarbeiters immer noch fast nichts darüber, woran genau die Kinder der Einwanderer eigentlich scheitern. Bis heute hat niemand untersucht, welche Unterrichtsformen Migrantenkindern nützen und welche sie behindern. Es gibt keine Wirkungsforschung zu verschiedenen Konzepten von Sprachunterricht, keine Aufsatz- und Diktatanalysen. "Der Forschungsstand", sagt Stanat nüchtern, "ist schlicht desolat." Wie im übrigen auch die Personallage, wenn es darum geht, an dem bedrohlich schlechten schulischen Abschneiden der zweiten und dritten Generation etwas zu ändern. Erst vor wenigen Jahren fiel auf, dass Deutsch für Hunderttausende Kinder in Deutschland keine Fremd-, sondern eine Zweitsprache ist und auch ihre Lehrer anders ausgebildet gehören als solche, die Zugereisten die Sprache beibringen. Und selbst im "Summer Camp", wo auf zehn Kinder vier Erwachsene kommen, arbeiten einige "DaF"- und nicht "DaZ"-Lehrer. Letztere gibt es nämlich bisher kaum.
In einigen Monaten wird man wenigstens wissen, was das gemeinsame Lernen in den Ferien den 150 Bremern und Bremerinnen gebracht hat. Im Erfolgsfalle, sicherte Bildungssenator Willi Lemke bei einem Besuch immerhin zu, das "Summer Camp" für bis zu 200 Kinder im kommenden Sommer aus dem Bremer Haushalt finanzieren zu wollen. Wenn auch, wie Lemke sagte, nach gründlicher Durchsicht, "ob nicht hier und da doch noch ein bisschen eingespart" werden könne.
Den ersten Durchlauf des europaweit ersten "Summer Camps" hat man sich nämlich ordentlich etwas kosten lassen: Der notorisch unterfinanzierten Bremer Behörde für Bildung und Sport gelang es, die Jacobs Foundation als Sponsor zu gewinnen. Mit Hilfe von 550.000 Euro wurde ein Sommerangebot für 150 Kinder geschaffen, das an Ausstattung nichts zu wünschen übrig ließ: Auf je zehn Kinder kamen ein Sprachlehrer, ein Theaterpädagoge sowie zwei Freizeitpädagogen.