Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 19.04.2004
Thomas von Ahn

Die Zeitungen erschienen schwarz umrandet, das ganze Land trug Trauer

Der Vertrag von Trianon und die ungarischen Minderheiten

Die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Trianon im Versailler Grand-Trianon-Palais war für Ungarn ein Schock. Am 4. Juni 1920 war das ganze Land in Trauer gehüllt: Schulen und Geschäfte blieben geschlossen, die Zeitungen erschienen schwarz umrandet, und in Budapest gingen Hunderttausende auf die Straße, um schweigend ihren Protest kundzutun. Die Bestimmungen des Vertrags wurden als unerhörte Ungerechtigkeit empfunden, wobei die erheblichen Territorialverluste am schwersten wogen. Gut zwei Drittel des Staatsgebiets gingen verloren (das Deutsche Reich hatte lediglich zehn Prozent seines Gebietes abtreten müssen). Die neuen Grenzen umfassten zudem nicht mehr den gesamten, größtenteils einheitlichen ungarischen Siedlungsraum: Von den über drei Millionen Ungarn, die Bürger anderer Staaten wurden, lebten 1,6 Millionen in Rumänien, eine Million in der Tschechoslowakei und eine halbe Million in Jugoslawien. Diese ethnisch willkürliche Grenzziehung stellte eine grobe Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker dar, das die Westmächte bei der geopolitischen Neuordnung Osteuropas nach Kriegsende eigentlich hätte leiten sollen.

Das vormals mächtige Königreich, in dem die Ungarn die staatstragende Volksgruppe bildeten, war ein europäischer Kleinstaat ohne außenpolitischen Spielraum geworden. Die Menschen mussten mit den verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Friedensvertrages kämpfen. Hunderttausende Magyaren, die sich mit einem Leben als Minderheit nicht abfinden mochten, flohen auf das Gebiet Trianon-Ungarns. Die Folge war eine "nationale Identitätsstörung" von kollektivem Ausmaß - ein Trauma, das die politischen Akteure der Zwischenkriegszeit geschickt für ihre Interessen ausnutzten. An ihrer Spitze stand der letzte Befehlshaber der k.u.k-Marine, Miklós Horthy. Sein Regime verstand es, die Frage nach der eigenen Verantwortung an der desolaten Lage zu umgehen. Es fand einen Sündenbock: die Juden. Schnell war ihnen die Schuld am Niedergang des ungarischen Königreichs in die Schuhe geschoben, war doch ein erheblicher Anteil der Führer und Funktionäre der Ungarischen Volksrepublik und der Räterepublik, die auf den Zusammenbruch der österreich-ungarischen Monarchie gefolgt waren, jüdischer Abstammung. Den Pogromen, die von Horthy nahestehenden Kommandos durchgeführt wurden, fielen weit mehr als tausend Menschen zum Opfer. Den Großteil der Bevölkerung einte die Meinung, dass es für die Wiederherstellung des alten Glanzes der Nation nur den Weg gebe: "Alles zurück!" Bis zum ersten Revisionserfolg sollte es noch fast 20 Jahre dauern.

Den magyarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten nützten der "neobarocke Formalismus" und das "ohnmächtige Drohen mit der Faust", wie der Historiker Gyula Szekfü 1934 das Gebaren der Politiker und Propagandisten in Budapest beschrieb, herzlich wenig. Tatsächlich ist von den meisten Revisionisten übersehen worden, dass das Leben der Ungarn jenseits der Grenzen in anderen Bahnen verlief. Sie waren in allen Ländern mehr oder weniger starken Diskriminierungen ausgesetzt, die wahlweise im Zeichen eines "Tschechoslowakismus", einer großserbisch dominierten "Jugoslawischen Staatsidee" oder einer "Groß-Rumänien"-Konzeption standen und zu einem pragmatischeren Umgang mit der neuen Situation zwangen.

Die Enteignung von Kirchenbesitz im Zuge von Bodenreformen wog vor allem in Rumänien und Jugoslawien schwer. Die gläubigen Gemeinden konnten kaum noch ihre Schulen betreiben und ihren kulturellen und seelsorgerischen Aufgaben nachgehen. Dabei hätte gerade dies zur Organisation des neuen Minderheitenstatus beigetragen. Ungarischsprachige Schulen waren in allen Nachbarstaaten von Schließungen betroffen. Dies erschwerte nicht nur die Wahrung der eigenen Identität, es erhöhte auch den Assimilationsdruck auf die ungarischsprachige Bevölkerung. In Jugoslawien blieb die politische Repräsentation der magyarischen Minderheit fast vollkommen unterbunden. Anders verhielt es sich in der Tschechoslowakei, wo schon bald zwei ungarische Parteien ihre Aktivitäten entfalten konnten. Die Vertreter der Minderheiten unterließen es zwar bewusst, Revisionspläne zu formulieren. Dennoch waren Hungarozentrismus und Revisionismus auch jenseits der Grenzen ein Thema.

Erste Erfolge der ungarischen Revisionspolitik stellten sich erst nach der Machtergreifung Hitlers ein. Als er plante, "Südosteuropa" in seine Großmachtstrategie einzubeziehen, erhoffte man sich in Budapest, mit seiner Hilfe verlorene Gebiete zurückzuerhalten. Doch die gegenseitige Annäherung ging nicht ohne Reibungen ab. Hitlers vielzitierter Ausspruch "wer mittafeln will, muss allerdings auch mitkochen", bezieht sich auf die ungarische Weigerung, bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei die Rolle des agent provocateur zu übernehmen. Selbst die extremsten Revisionisten nahmen daher erleichtert zur Kenntnis, dass das Problem der ungarischen Bevölkerung in der Tschechoslowakei im Rahmen des Münchner Abkommens - also mit dem Einverständnis der Westmächte - geregelt werden sollte. Doch die Verhandlungen scheiterten, sodass lediglich Italien und das Deutsche Reich einen Kompromiss vorantrieben und im November 1938 den Ersten Wiener Schiedsspruch verkündeten. Dieser verordnete die Rückgabe des von Magyaren bewohnten Gebiets der Slowakei (Oberungarn).

Als Hitler im Frühjahr 1939 in Prag einmarschierte und Ungarn die Teilnahme an der militärischen Operation anbot, die die Liquidation der "Rest-Tschechei" zum Ziel hatte, schreckten Horthy und Ministerpräsident Teleki vor einer Kriegshandlung nicht mehr zurück und ließen ungarische Truppen die Karpato-Ukraine besetzten. Trotzdem versuchte Teleki noch den Spagat zwischen optimaler Revision und minimaler Abhängigkeit zum Deutschen Reich. Der 1939 erfolgte Austritt aus dem Völkerbund kündigte jedoch an, dass dies misslingen sollte. Zwar konnte noch ein weiterer Schiedsspruch Abhilfe schaffen, als sich in der Grenzfrage mit Rumänien plötzlich zwei Verbündete des Deutschen Reiches einander gegenüberstanden - Ungarn wurde diesmal das nördliche Siebenbürgen zugesprochen. Als Hitler jedoch den Entschluss fasste, Jugoslawien zu erobern - mit dem Ungarn kurz zuvor einen Freundschaftsvertrag abgeschlossen hatte - und dafür seinen Anspruch auf das ungarische Militär anmeldete, stand Teleki vor den Trümmern seiner Politik: Entweder galt es, Hitler in den Krieg zu folgen, die Revision zu vervollständigen, die für diesen Fall angezeigte Kriegserklärung Englands in Kauf zu nehmen, oder Hitler zu widerstehen, die Sympathie der Westmächte zu bewahren, aber die Gefahr deutscher Besetzung in Kauf zu nehmen. Teleki wählte für sich eine dritte Variante: den Freitod. Die ungarische Armee aber besetzte in nur wenigen Tagen die Batschka.

Die späte Teilnahme am Zweiten Weltkrieg an der Seite des Deutschen Reiches ersparte Ungarn weder, dass es von Hitler im Frühjahr 1944 besetzt wurde, noch dass 1947 in Paris wieder der Status quo ante festgeschrieben wurde. Dass nach Kriegsende keine ethnischen Grenzkorrekturen verhandelt wurden, lag jedoch nicht an den Westmächten. Solche Pläne scheiterten an der Haltung Moskaus, wo man im Hinblick auf die eroberten rumänischen Gebiete Ungarn gegenüber keine Zugeständnisse machen wollte.

Im Zeichen der Moskauer Blockdisziplin war es nicht statthaft, den neuen alten Status anzuzweifeln. Ebenso wenig war es möglich, das Schicksal der Minderheiten zur Sprache zu bringen, obwohl sich ihre Lage nicht wesentlich verbesserte. In Ungarn entzog sich das Minderheitenthema erst in post-stalinistischer Zeit seiner Tabuisierung. Zum richtigen Politikum avancierten es aber erst wieder, als es von der ungarischen Oppositionsbewegung dank zunehmender Reisefreiheit "wiederentdeckt" wurde. Die von ihr entwickelten Standpunkte prägen noch heute die ungarische Minderheitenpolitik. Thomas von Ahn

Thomas von Ahn arbeitet am Zentrum für Hungarologie der Universität Hamburg.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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