Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 19.04.2004
Kathrin Lauer

Die SS machte vor dem Tod Fotos

Eine neue Gedenkstätte erinnert an die vergasten ungarischen Juden

Auschwitz-Birkenau, 26. Mai 1944. Die zwei Brüder, neun und elf Jahre alt, stehen nebeneinander auf einem Bahnsteig. Sie tragen Wintermäntel, trotz der frühsommerlichen Jahreszeit. Auf der Brust ist ein gelber Stern angeheftet. Der kleinere der beiden Jungen blickt direkt in die Linse des Fotografen, der Größere schaut mit zusammen gezogenen Augenbrauen konzentriert vorbei. Knapp zwei Tage zuvor waren Zelig und Jakob, so hießen die Brüder, mit ihren Eltern und vier weiteren Geschwistern aus dem Ort Bilke in der damals zu Ungarn gehörenden Karpato-Ukraine deportiert worden. Stunden nach dieser Aufnahme, die ein SS-Mann nach ihrer Ankunft in Auschwitz machte, starben die beiden Kinder in der Gaskammer. Es ist eines der erschütterndsten Fotos der Ausstellung, mit der am 15. April die neue Holocaust-Gedenkstätte in Budapest eröffnet wurde, zum 60. Jahrestag der Deportation der ungarischen Juden.

Die Sammlung, zu der das Bild mit den Brüdern aus Bilke gehört, zählt zu den wichtigsten Dokumenten über den Holocaust in Ungarn. Es ist das berühmte Auschwitz-Album, das sich im Besitz der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel befindet. Die 235 Fotos wurden im Sommer 1944 gemacht, als die Transporte ungarischer Juden in Auschwitz eintrafen. Die Mitarbeiter des Foto-Labors im Vernichtungslager erhielten ausnahmsweise von der SS die Genehmigung, die "Endlösung" zu fotografieren.

Von 1939 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war Ungarn unter der Führung von Admiral Miklós Horthy mit Nazi-Deutschland verbündet. Im März 1944 wurde das Land von deutschen Truppen besetzt, nachdem Horthy insgeheim Kontakte zu den West-Alliierten gesucht hatte und für Hitler als unzuverlässig galt. Im Sommer 1944 begann die Deportation von 437.000 Juden nach Auschwitz. Im Oktober bat Horthy die Sowjetunion um einen Waffenstillstand. Daraufhin wurde er von den Deutschen in Haft genommen, an die Macht gelangten die Pfeilkreuzler unter Ferenc Szálasi. Sie übten eine Schreckensherrschaft gegen Juden aus, die bis zum Einmarsch der Roten Armee in Budapest am 13. Februar 1945 dauerte.

In Ungarn leben nach Schätzungen jüdischer Soziologen derzeit etwa 100.000 Juden. Antisemitismus ist immer noch verbreitet und wird von rechten und rechtsextremen Parteien offen oder unterschwellig in der politischen Debatte genutzt. Die Kommunisten hatten die Aufarbeitung dieses Themas unterlassen. Die genaue Zahl der von den Nazis ermordeten ungarischen Juden ist immer noch nicht bekannt. Jüdische Organisationen im Land schätzen sie auf 600.000 Menschen. 60.000 Opfer sind bisher namentlich bekannt. Ziel der Gedenkstätte ist es, die öffentliche Aufklärung nachzuholen. Eine Forschungsstelle soll Daten zum ungarischen Holocaust zentralisieren.

Um die Gestaltung der Gedenkstätte gab es unter den jüdischen Experten in Ungarn heftigen Streit. Anlass für großen Ärger im Kuratorium der staatlichen Stiftung, die die Gedenkstätte leitet, war, dass die ständige Holocaust-Ausstellung zur Eröffnung nicht fertig geworden ist. Die Reproduktionen des Auschwitz-Albums wurden als Ersatz-Exponat genommen. Uneinigkeit herrscht auch über den darzustellenden Zeitraum. Führende Kuratoriums-Mitglieder meinen, es reiche nicht, den ungarischen Holocaust auf die Jahre 1938 bis 1945 einzugrenzen. Dies sei "Geschichtsfälschung", meint der Vorsitzende des Verbands der Jüdischen Gemeinden Ungarns, András Heisler. Schließlich habe es bereits 1920 das erste antisemitische Gesetz gegeben. Die ausschließliche Präsentation des Auschwitz-Albums bedeute, dass Vorgeschichte und Verantwortung der ungarischen Seite verschwiegen werde. Dem widersprach der Gedenkstätten-Direktor András Darányi. Immerhin zeige die Bilderfolge den gesamten Verlauf des Massenmords, von der Ankunft in Auschwitz bis zur Gaskammer. Darányi ist knapp über 30 Jahre alt. 25 Mitglieder seiner Familie wurden von den Nazis ermordet.

Hintergrund für die Verspätung ist auch, dass das gesamte Projekt mit Verzögerung angegangen wurde. Die bis Mai 2002 regierenden Rechtskonservativen gaben erst Ende 2001 grünes Licht für die staatliche Finanzierung von insgesamt 1,7 Milliarden Forint (etwa 6,7 Millionen Euro). Die sozialliberale Regierung musste die Bauarbeiten im Eiltempo durchziehen, um bis zum 60. Jahrestag des Holocaust fertig zu werden. Dafür kann sich das Objekt architektonisch sehen lassen. Die meterhohe Hofmauer ist einer der besten Einfälle des Architekten István Mányi, der die Gedenkstätte im Auftrag des ungarischen Staates gestaltet hat. An der Innenseite sollen die Namen der bisher bekannten Holocaust-Opfer angebracht werden. Später sollen die restlichen hinzukommen, soweit sie sich recherchieren lassen.

Kernstück des Komplexes, der Pathos und Strenge vereint, ist eine alte Synagoge, die 1924 vom Architekten Lipót Baumhorn (1860 - 1932) konzipiert worden war. Bis 1986 wurden noch Gottesdienste abgehalten, danach wurde das Gebäude wegen der schwindenden Gemeinde aufgegeben und verfiel. Jetzt wurde es renoviert. Einlass in die grau-beige-farbenen Kalkstein-Mauern, die wie eine Kombination aus mittelalterlicher Festung und Klagemauer wirken, findet man durch ein enges Tor. Es ist eine etwa dreimal mannshohe, schmale Stahlplatte. Sie erinnert an die Türen jener Viehwaggons, die damals mit den Todeskandidaten nach Auschwitz rollten. Die alte Synagoge soll nur noch als Versammlungsort dienen. Die Kellerräume sollen der ständigen Ausstellung Platz bieten.

Bis dahin bietet das Auschwitz-Album ein beklemmendes Zeugnis des ungarischen Holocausts. Ausgerechnet Lili Jákob, die Schwester der beiden ermordeten Brüder aus Bilke, fand es, kurz nachdem die deutschen Bewacher des KZ Dora-Nordhausen im Frühjahr 1945 vor den Amerikanern geflohen waren. Die 19-Jährige überlebte. Auf 40 Kilo abgemagert, suchte sie in einer Baracke ihrer Schergen nach Essbarem. Die Fotos lagen im Nachtkästchen eines SS-Mannes. Auf einem der ersten erkannte Lili Jákob ihre beiden Brüder, die sie nie wieder sehen sollte. Kathrin Lauer


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