Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 19.04.2004
Elli Kovács

"Vinum regnum - rex vinorum" aus Tokaj

Die jahrhundertealte, süße Liaison zwischen Ungarn und Frankreich

Es gibt eigentlich nur einen Grund, warum Fremde in das 750-Seelendorf Hercegkút im Nordosten Ungarns, unweit der ungarisch-slowakischen Grenze gelegen, reisen. Dort, wo der Ort endet, liegt ein Hügel, und dahinein haben die Vorfahren der heutigen Bewohner ihre ersten Wohnungen gebaut. Die UNESCO hat die Erdhöhlen, die schon bald als Weinkeller benutzt wurden, als Teil des Weltkulturerbes geschützt. Doch genau wie Erdhöhlen und Weinfässer es so an sich haben, wird die Geschichte umso interessanter, je tiefer man sich in sie vergräbt. Während des nationalen Bauernaufstandes unter Ferenc Rákóczi, also zu Beginn des 18. Jahrhunderts, wurden weite Landstriche Ungarns verwüstet. Um die Landwirtschaft wieder aufzubauen, holte Prinz Trautson 1748/49 unter der Oberherrschaft Maria Theresias deutsche Siedler in die verwilderte und entvölkerte Gegend. Es waren jene Leute, die die Erdhöhlen bauten. Sie kamen aus dem Schwarzwald und dem deutsch-französischen Grenzgebiet. Man könnte also glauben, die aus Weinbaugebieten stammenden Siedler hätten den veredelten Traubensaft mit nach Ungarn gebracht. Doch die Geschichte beginnt früher.

Als wäre es Teil eines großen Planes, stießen die mit dem Weinbau groß gewordenen Deutschen bei ihrer Ankunft in Ungarn auf eine bereits existierende, und hervorragend ausgebaute Weinbautradition. Der Wein aus der Region rund um den genauso winzigen, aber berühmten Ort Tokaj, zu der auch Hercegkút gehört, war schon damals einer der bekanntesten und besten. Die neuen Siedler mussten sich also nur der neuen Umgebung anpassen und die für sie ungewohnten Methoden übernehmen. Schon damals stellten die Kellereien in Tokaj vor allem dem von edelfaulen Trauben stammenden Süßwein, den so genannten Aszú (überreif, edelfaul) her.

Der Weinbau im Anbaugebiet Tokaj geht bis ins Mittelalter zurück. 1650 befahl der König den Bauern, die Trauben hängen zu lassen, bis die Gefahr türkischer Überfälle gebannt sei. Dadurch kreierte er erstmals die Trockenbeerenauslese, die den Wein bis nach Frankreich und in anderen europäischen Königshäusern bekannt machte. Der Prozess, Trauben an den Rebstöcken hängen zu lassen, bis, mit Hilfe von edlen Schimmelpilzen, zuckersüße Rosinen daraus entstanden sind, war bis dahin anscheinend selbst in Frankreich nicht bekannt. Der Sonnenkönig Ludwig XIV. nannte den Tokajer Aszú "vinum regnum, rex vinorum", Wein der Könige, König der Weine. Erst im 18. und 19. Jahrhundert gelang es den Franzosen, mit dem Sauternes den ungarischen Süßwein nachzuahmen.

Dabei ist der Prozess relativ einfach. Edelsüße Weine werden aus überreifen, äußerst zuckerreichen Trauben gewonnen. Dazu lässt man die Trauben einfach so lange am Rebstock hängen, bis die Traubenstiele im Herbst vertrocknen und das Wasser in den Beeren verdunstet. Der Zuckergehalt im Traubensaft steigt dadurch an. Die Edelfäule treibt die Entwicklung weiter voran. Botrytis Cinerea, wie der Pilz heißt, macht die Traubenhaut porös und lässt dadurch mehr Flüssigkeit entweichen. Außerdem verändert der Pilz den Geschmack der Beere. Seine Enzyme bilden die Aromastoffe für die typische Honignote des Süßweins.

Allerdings reift Botrytis nicht immer zu einem Heilsbringer für den Wein heran. Wenn es zu früh regnet und sich der Edelpilz auf die noch nicht ausgereiften Trauben setzt, entsteht die so genannte Rohfäule mit unangenehmem Geschmack. Erst bei einem Zuckergehalt von 65 bis 70 Grad Öchsle beginnen die Trauben in gewünschter Weise zu faulen. Das heißt, der Wein kann also nur dort zum dem edlen Tropfen gedeihen, wo es besondere klimatische Bedingungen gibt. Und das ist der Grund, warum der Wein vielleicht tatsächlich zuerst in Tokaj entstanden ist. In Kalifornien zum Beispiel sind die Sommer zwar heiß und trocken, der Herbst für Botrytis aber nicht feucht genug. Und auch wer in Deutschland süßen Wein herstellen will, ohne zu panschen, muss sich besonders anstrengen.

Um die so genannte Auslese, die erste Qualitätsstufe mit einen Zuckergehalt von 83 bis 105 Grad Öchsle, zu bekommen, müssen die Trauben zunächst ausgelesen werden. Das heißt, der Winzer entfernt zur Lesezeit in Handarbeit die schlechteren Trauben und lässt nur noch die ganz besonders kräftigen und gesunden am Stock. Das lohnt sich allerdings nur, wenn der Sommer trocken und sonnig genug war.

Wenn im sich späten Herbst dann die Feuchtigkeit und mit ihm der Edelpilz über die Trauben hermachen, kann der nötige Zuckergehalt von 110 bis 128 Grad Öchsle entstehen. Der daraus gewonnene Wein nennt sich Beerenauslese.

In besonders guten Jahrgängen, wenn es im Herbst nicht zu viel regnet, also nur mit besonders viel Glück, erreichen die Trauben sogar noch einen höheren Zuckerwert (150 Grad Öchsle). Es entsteht die so genannte Trockenbeerenauslese. Die Trauben sind am Stock zu zuckersüßen Rosinen getrocknet. Mit viel Mühe und in tagelanger Arbeit presst der Winzer daraus den Most.

Die nächste Stufe sind die echten Eisweine mit 150 bis 200 Grad Öchsle. Allerdings wagen nur noch die ehrgeizigsten und mutigsten Winzer diese Produktion. Man stelle sich vor, der Jahrgang war bis dahin perfekt. Doch statt die wertvollen Trauben nun zu ernten, um einen hervorragenden Wein zu machen, lasse man die Trauben noch hängen und warte auf das kleine Quäntchen mehr an Glück: Eiswein entsteht nicht durch Sonne und schon gar nicht bei Regen sondern nur durch trockenen Frost. In den Trauben trennt sich durch das Gefrieren das Wasser aus dem Most. Zucker und Aromastoffe werden noch einmal konzentriert.

Eiswein gedeiht in Ungarn, wo der Sommer heiß und der Herbst mild, aber dennoch gelegentlich feucht ist, nicht. Dafür aber eine umso bessere Trockenbeerenauslese, eben der Wein aus Tokaj, der Tokaji Aszú. Um ihn herzustellen, müssen die Winzer die edelfaulen Trauben auch heute noch per Hand und in mehreren Durchgängen lesen. Die Beeren werden einzeln vom Rebstock gepflügt. Dann, so schreibt es die Tradition vor, vermischen die Produzenten die Trauben in einem bestimmten Verhältnis mit dem vorher aus der gleichen Rebsorte gewonnen Grundwein (70 Prozent Furmint, 28 Prozent Lindenblättriger, ein bis zwei Prozent gelber Muskateller). Die Maische wird erneut gepresst. Aus dem so gewonnenen Most entsteht nach mehrjähriger Lagerung der Wein. Je mehr Bütten (traditionelle Holzbehälter mit 25 Kilogramm Traubeninhalt) edelfauler Beeren die Winzer dem 136-Liter-Fass Traubenmost beimischen, desto süßer und aromatischer wird hinterher der Wein. Das Mischungsverhältnis steht auf der Flasche. Zwei, drei oder vier "puttony" (das ungarische Wort für Bütten) pro Fass sind gut. Je nach Geschmack, Geldbeutel, Lust und Laune kann sich der Weinkenner aber auch mal einen fünf oder sechs puttonyos Aszú gönnen.

Während des Sozialismus haben die Ungarn begonnen, den Tokaji Aszú in genossenschaftlich organisierten Großkellereien herzustellen. Er wurde auch in den Westen verkauft und brachte so Devisen. Bei der Massenherstellung gingen allerdings nicht nur das traditionelle Winzerflair, sondern auch ein Großteil der Herstellungstradition verloren. Aus der edlen Beerenauslese wurde ein überall bekanntes, aber im Grunde qualitativ minderwertiges Massenprodukt. Die Rettung kam nach der Wende, und zwar, die Ungarn werden es nicht gerne hören, aus Frankreich, wo schon Jahrhunderte zuvor erst Lob und Bewunderung und später dann die Konkurrenz entstand.

Der französische Großkonzern AXA-Millésimes, der von Hause aus eigentlich nichts mit der Weinherstellung zu tun hat, erkannte das wirtschaftliche Potential der geschichtsträchtigen Winzerregion. Er kaufte ein altes, etwas außerhalb von Tokaj gelegenes Weingut und beauftragte französische wie internationale Önologen damit, die alte Tradition des Weins neu zu beleben. Die Umgebung bietet dafür den nahezu perfekten Rahmen. Im 18. Jahrhundert gehörten das Gebäude und die mehr als 160 Hektar Land zum Besitz der Adelsfamilie Rákóczi. Spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts soll dort Wein produziert worden sein. Auf Gut Disznókö reift der Wein heute zwar aus hygienischen Gründen zunächst in Edelstahltanks heran. Erst zum Schluss, wenn die Hauptgärung abgeschlossen ist, veredeln echte Fässer und der alte, tief in den Tuffstein hineinreichende Keller das Getränk. Das alte Gebäude haben die Investoren aber erhalten und ein französisches Restaurant darin eingerichtet.

Nun produziert nicht nur Disznókö guten Tokaji Aszú. Selbst im verschlafenen Hercegkút, wo die Menschen jahrzehntelang Wein nur für den Eigenbedarf hergestellt und ansonsten jede Traube an die Genossenschaft verkauft haben, entdecken immer mehr junge Winzer den professionellen Erzeugeranbau. Das heißt, sie bewirtschaften die Rebstöcke, ernten, vinifizieren, experimentieren im Keller und füllen zum Schluss selber ab, und das alles in erstaunlich guter Qualität. Einige junge Erzeuger spezialisieren sich auf trockenen Wein statt des traditionellen Aszú. Andere wiederum wandeln ihn kreativ ab. Der ein oder andere von ihnen hätte mit Sicherheit eine internationale Auszeichnung verdient. Doch die bekommen statt dessen die Winzer von Disnókö. Dahinter stecken Geld, Verbindungen und eine gute Marketingstrategie. Denn der französische Konzern will seinen Wein nicht nur dem ungarischen, sondern auch dem englischen, amerikanischen, deutschen und vor allem dem französischen Weinkenner verkaufen. Seinen Wein einmal im Jahr einer Jury zu präsentieren gehört, ebenso wie ein mehrsprachiges Farbprospekt, einfach dazu.

Doch zumindest in einer Hinsicht haben die Winzer von Herzegkút denen von Disnókö etwas voraus. Sie haben alte Keller, gebaut nicht nur für Wein, sondern für die dazu gehörenden Menschen. Einmal im Jahr versammeln sich dort die Bürger der umliegenden Dörfer und prämieren - auch als Marketing-Gag - ein ganz besonderes Getränk, den so genannten Bürgermeisterwein. Elli Kovács


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