Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 - 39 / 23.09.2005
Hartmann Wunderer

Der Beitritt zur Europäischen Union als Modernisierungschance

Kulturelle Differenzen als Bereicherung

Sind die Türkei und die anderen Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumänien europatauglich? Diese Frage bewegt die Gemüter. Die Debatten werden wohl in der nächsten Zeit noch heftiger werden. Jürgen Gerhards, Professor für Makrosoziologie an der Freien Universität Berlin, leistet mit seinen empirischen Erhebungen über divergierende Wertorientierungen in der Europäischen Union und bei den Beitrittskandidaten einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion. Zugleich sucht er nach Ursachen für diese unterschiedlichen kulturellen Orientierungen. Im Mittelpunkt der Studie stehen die Religionsvorstellungen, die Geschlechterrollenbilder, die Ideen über eine ideale Staatsform sowie die Haltung zur Demokratie, zur sozialen Ungleichheit, zu den wohlfahrtsstaatlichen Wünschen und schließlich die Vorstellungen hinsichtlich der Organisationsform der Ökonomie.

Das wenig überraschende Ergebnis ist widersprüchlich: Die Beitrittskandidaten, vor allem die Türkei, orientieren sich noch stark an einer traditionellen Geschlechterordnung mit einer Vorrangstellung des Mannes. Auf der anderen Seite kann die EU durch die Aufnahme dieser Länder mit einer Forcierung der Wirtschaftsdynamik rechnen, denn die drei Länder stehen der Leistungs- und Wettbewerbsorientierung positiv gegenüber, sie wünschen sich aber auch einen sozial regulierenden, intervenierenden Wohlfahrtsstaat. Zivilgesellschaftliche und demokratische Traditionen hingegen sind hier noch kaum verankert.

Gerhards Fazit: Je höher modernisiert ein Land ist und je gebildeter seine Bürger sind, desto stärker werden die Wertorientierungen entwickelt, auf denen die Europäische Union basiert. Eine wichtige Rolle spielen dabei religiöse Traditionsbestände. Während protestantische Orientierungen dicht am europäischen Wertekonsens angesiedelt sind, stehen Katholiken, Orthodoxe und Muslime diesem distanzierter gegenüber. Insofern wird die von Samuel Huntington behauptete kulturelle Scheideline zwischen protestantischer und katholischer Religion einerseits, orthodoxer und muslimischer Religion andererseits durch Gerhards Analysen nicht gestützt. Die Tatsache, dass die orthodoxen Beitrittskandidaten und die überwiegend muslimische Türkei nur in geringem Maß die Werteordnung der EU unterstützen, führt Gerhards nicht auf die jeweiligen Religionssysteme zurück, sondern auf den jeweils erreichten Grad der Modernisierung.

Den Gegnern eines Beitritts der Türkei hält Gerhards die Modernisierungschancen, die durch einen Beitritt dieser drei Länder gegeben werden, entgegen. Die Werteordnungen dieser Länder seien eben keine statischen Größen. "Gerade die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Werteorientierungen der Bürger an die von oben und außen oktroyierte demokratische Ordnung anpassen können." Auch Deutschland war bis 1949 ein Land mit einer schwachen demokratischen Erfahrung und die Einführung der Demokratie war nicht auf eine endogene demokratische Entwicklung der Bundesrepublik zurückzuführen, sondern auf eine Implementierung von Marktwirtschaft und repräsentativer Demokratie durch die Westmächte. Und auch die Geschlechterordnung in der damaligen bundesdeutschen Demokratie unterscheidet sich kaum von der in der gegenwärtigen türkischen Gesellschaft. Gerhards vertraut daher auf die weitreichenden kulturellen Folgen einer ökonomischen Modernisierung in den Beitrittsländern durch die Aufnahme in die EU.


Jürgen Gerhards unter Mitarbeit von Michael Hölscher

Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union. Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei.

VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005; 316 S.; 27,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.