Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 - 39 / 23.09.2005
Susanne Kailitz

Aufgekehrt...

In einer Glosse, so die Theorie, beschreiben Journalisten ironisch die Geschehnisse und spitzen zu. In der Praxis ist es allerdings gelegentlich so, dass alles, was eine Glosse orginell machen könnte, längst von der Realität vorweg genommen wurde. So wie jetzt etwa: Es gibt keinen noch so absurden Einfall, der nicht schon längst als ernsthaft verkündeter Gedanke über den Ticker läuft, und keine widersinnige Idee, die nicht gerade erbittert diskutiert würde.

Oder hätten Sie sich bis zum 18. September vorstellen können, dass bei einer Wahl alle angetretenen Parteien gewinnen können? Wo bisher galt, dass immer einer das verlieren muss, was ein anderer dazubekommt, gilt nun: Alle sind Sieger. Und fast alle Kanzler. Soviel Einigkeit war selten. Was macht es da schon, dass es vor der Wahl stabilere Mehrheiten gegeben hat als danach? Klarheit hat der Wahlsonntag zwar nicht gebracht - dafür aber das ganze Land in ein kollektives Urlaubsfeeling versetzt. Alle schwelgen im Farbenrausch und träumen von einer entspannten Urlaubsinsel. Angela Merkel mit Rastafrisur und Guido Westerwelle im Baströckchen als Jamaika-Koalitionäre sind nichts mehr, das bösartige Journalisten als Schreckensbilder malen, sondern ernsthafte Optionen. Gar nicht zu reden von den schönen Wortschöpfungen: Früher garantiert Anwärter auf den Titel "Unwort des Jahres", avanciert die "Schwampel" heute zur Lieblingsvokabel von Parteistrategen und Meinungsforschern. Letztere kriegen zwar gerade mächtig Prügel, müssen aber keine Angst vor der Zukunft haben, denn nach der Wahl ist vor der Wahl - und wer mit seinen Prognosen noch im September meilenweit daneben lag, der kann es vielleicht im Januar nochmal probieren. Auch das ist eine Idee, die diese Wahl hervorgebracht hat: Gewählt wird so lange, bis es passt.

Das macht Ihnen Angst? Keine Panik. Vielleicht ist das, was gerade passiert, nur ein chemisch ausgelöster Spuk. Der Grüne Christian Ströbele hat einen Verdacht: Mit Blick auf Kanzler Schröders Gebaren in der Elefantenrunde vermutete er, die Freigabe des Hanfanbaus sei längst heimlich durchgesetzt. Das würde einiges erklären - und Hoffnung machen, denn der kollektive Politikerrausch wäre bald vorbei. Nur die Kopfschmerzen danach, die werden grausam sein. Aber das ist Stoff für die nächste Glosse.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.