Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 - 39 / 23.09.2005
Sabine Quenot

"Ich wähl' Kaffee schwarz"

Von Wählern, Nichtwählern und Erstwählern mit 40
Auf dem Spielplatz an den Gleisen der Ringbahn im Prenzlauer Berg pingpongen sich junge Menschen in den Sonntag. Bilderbuchwetter, ein sportlicher Wahltag. Auf dem Bürgersteig aufgekratzte Bürger, die im Sonntagsstaat zielstrebig zu ihrer Stimmabgabe spazieren. Im Wahllokal in der Schule am Ende der Straße stehen die Wahlberechtigten Schlange. Und hier an der Tischtennisplatte bringen sich die potentiellen Erstwähler in Form. Anfang 20, im Prenzelberg-Look mit Trainingsjacke.

Schon wählen gewesen? "Na logo", die prompte Antwort, "und die da hinten und die da drüben, die waren auch schon im Wahllokal", sagt der junge Mann und zeigt mit dem Tischtennisschläger auf ein anderes junges Paar am Volleyballnetz und die kleine Familie mit Baby im Sandkasten. Dann fragt er: "Sehe ich denn aus wie ein Nichtwähler?", mehr neugierig denn beleidigt. Gute Frage. Der Nichtwähler, das unbekannte Wesen. T-Shirts mit aufgedruckter Wahlverweigerung sind noch nie in Mode gewesen.

Ein paar Straßenecken weiter, außerhalb der Wahllokal-Bannmeile, laufen zwei Männer Mitte 30 über den Zebrastreifen. Für einen sonnigen Tag wie diesen etwas zu düster gekleidet, und auch die Augenränder sind ganz schön dunkel. Sind Sie auf dem Wahlgang? Der eine sagt: "Ja, ich gehe wählen. Ich wähl' Kaffee schwarz", und lacht nicht gerade gut aufgelegt. Der andere will noch etwas loswerden, er scheint froh zu sein, dass ihn überhaupt einmal jemand nach seiner Meinung fragt. Aber was er für eine Meinung hält, ist eine typische Antwort von Nichtwählern und ein bisschen enttäuschend: "Mich interessiert das alles nicht. Ich habe keinen Kopf dafür…" Der Kollege will weiter. Nichtwähler bleiben an diesem Sonntag lieber bedeckt.

Ob in Pankow oder Wedding, Lichtenberg oder Schöneberg, ob der vierfache Vater nach dem Frühschoppen, die berufstätige Türkin, der Auszubildende aus dem Speckgürtel oder die älteren Damen, die über die Staatsschulden schimpfen - alle waren oder wollen noch wählen. Der eine oder andere gibt vielleicht nicht zu, dass er sich der Stimme enthält. Denn Nichtwählen zugeben, ist wie beim Schulschwänzen erwischt zu werden.

Den Nichtwählern gab das Internet-Forum www.ich-gehe-nicht-hin.de in diesem Jahr eine Stimme. Hier konnten sie anonym erklären, warum sie sich der Wahl verweigern. Derjenige, der auf Weltreise ist und seine Briefwahlunterhalten wohl nicht bekommen kann, ist noch der symphatischste und harmloseste Nichtwähler. Manche sind nur trotzig: "Weil ich meine Stimme nicht abgeben, sondern behalten werde." Die Begründungen reichen von der Politikerbeschimpfung bis hin zur umfassenden Kapitalismuskritik. Ein anderer gibt eine klare Ansage: "Ich wähle erst wieder, 1. wenn die Politiker bei sich anfangen zu sparen, 2. wenn Volksabstimmungen bundesweit möglich sind, 3. wenn eine gezielte Wahl bestimmter Politiker bundesweit möglich ist, 4. wenn Politiker in Fernsehbefragungen nicht irgendeinen vorbereiteten Mist erzählen, sondern auf Fragen auch antworten."

Die Macher der Website vom überparteilichen Netzwerk "politik digital", das in Deutschland Formen der politischen Kommunikation in neuen Medien ausprobiert, haben die Idee aus Großbritannien übernommen. Bis zum Montag nach der Wahl, an dem dieses Nichtwahlstudio schloss, zählten sie in zwei Monaten knapp 13.000 Einträge und 100.000 Zugriffe. Aus den Kommentaren sei "ein gehöriges Maß an Desillusionierung mit und Entfremdung vom politischen System zu spüren", hieß es zum Projektende. Viele fühlten sich durch einen Urnengang alle vier Jahre machtlos. Dennoch gab es Einträge von politisch denkenden Menschen. Wieso sie sich vom politischen Geschehen abwenden und wie mehr Akzeptanz des parlamentarischen Systems erreicht werden kann, das wird die Auswertung in den nächsten Monaten hoffentlich ans Licht bringen.

In der realen Welt des S-Bahn-Rings arbeitet am Wahlsonntag der hoch gewachsene Schaffner. Verhalten höflich beantwortet er die Frage der Ausflügler, was denn ein Ticket für das Fahrrad kostet. "Immer die ermäßigte Karte fürs Fahrrad", sagt er. Ob er denn schon wählen war oder noch wählen wird? "Na, wie denn? Ick hab' von acht bis 20 Uhr Dienst." Ja, wie soll er da auch wählen gehen? Knapp und klar, als gäbe es daran nichts zu rütteln. Und Briefwahl? Ertappt. Und schon erzählt er. "Nee, ich sach Ihnen janz ehrlich, ick will nicht wählen. Ob der dran bleibt oder die dran kommt, ist doch allet det selbe. Es wird immer schlimmer." Am Ende stellt sich heraus, die CDU wäre für ihn doch noch schlimmer als schlimmer. Denn wenn sie gewinnt, so der S-Bahner, dann brauche er am Wochenende und im Schichtdienst nicht mehr zu arbeiten, wenn das voll versteuert werde. Ermäßigter Lohn, nein danke.

Mit in die S-Bahn steigt eine gestandene Frau ein, die ganz direkt heraus sagt: "Ich gehe nicht wählen, bin aber für die SPD!" Nach ihren Beweggründen gefragt, warum sie mit ihrer klaren Parteienpräferenz nicht doch wählen gehe, antwortet sie: "Das hängt ganz einfach mit meinem Umzug zusammen. Das ist mir zu bürokratisch, mich mit den Behörden auseinander zu setzen, ob und wo ich jetzt wählen kann." Eine Wahlbenachrichtigung habe sie nicht bekommen.

Im Wedding verkündet eine 24-Jährige zurück vom Wahllokal sichtlich sauer: "Ich darf nicht wählen!" Auch sie ist unfreiwillig zur Nichtwählerin geworden, weil sie vor einem Monat von Biesdorf hierher gezogen ist. "Das finde ich voll blöd, auf meinem Ausweis steht doch alles drauf, warum kann ich dann nicht wählen?" Sie hätte sich vorher melden müssen. Zwei verlorene Stimmen.

In einem BMW aus Köpenick sitzen vier überzeugte Wähler. Sie suchen auf der Karte nach ihrem Ausflugsziel und sind bester Laune. Am Steuer sitzt eine erklärte Erstwählerin, 40 Jahre alt. Sie habe noch nie gewählt, aber heute schon. "Ich habe überlegt, meinen Wahlzettel ungültig zu machen, aber dieses Mal zählt wirklich jede Stimme", sagt sie. Späte Erstwähler gab es einige an diesem Sonntag, die sich aufgerufen fühlten, nach jahrelanger Verweigerung zur Urne zu gehen. Ein zugezogener Wolfsburger hält diese Abstimmung für "absolut entscheidend" und rechnet mit einer höheren Wahlbeteiligung. Inzwischen wissen wir, das ist leider nicht eingetreten: 77,7 Prozent Wahlbeteiligung, 1,4 Prozent weniger als bei der letzten Bundestagswahl.

Der aktive Nichtwähler, der seiner Enthaltung Ausdruck durch eine ungültige Stimmabgabe verleiht, ist eher selten. Bei dieser Wahl gab es 1,6 Prozent ungültige Stimmen, ein Viertel mehr als bei der Bundestagswahl 2002, darunter aber auch unbeabsichtigt falsch abgegebene Stimmen, nicht abgegebene Erst- oder Zweitstimmen sowie nicht zugeklebte oder unterschriebene Briefwahlen.

Drei Tage vor der Wahl gab die Volkshochschule des Berliner Bezirks Mitte Wahlnachhilfe. Eintritt frei. Dort referierte Dorothée de Nève, Junior-Professorin an der Universität Halle, über Ursachen und Folgen der Wahlenthaltung. Die Dozentin erforscht Nichtwähler in ganz Europa. Eigentlich sei es ja schon ein eigener Forschungszweig, warum man Nichtwähler nicht untersuchen könne, sagt sie mit einem Augen-zwinkern, denn: "Bei Umfragen lügen Nichtwähler!" Sie tauchen bei den Umfragen als Unentschlossene auf oder sie behaupten, gewählt zu haben. Wozu der Aufwand? "Es gibt eine Norm, dass man wählen sollte", und deshalb lügen Nichtwähler lieber, als dass sie ihren Ruf als gute Staatsbürger verlieren. Die Wahlforscher beißen sich an ihnen ihre empirischen Zähne aus. Umso aufschlussreicher sind Internetforen wie "ich-gehe-nicht-hin", wenn auch manchmal niveaulos, wie de Nève findet. "Da kursieren die wildesten Vorstellungen über Politiker." Aber sie ist optimistisch, denn im Sumpf der Nichtwähler komme durchaus das politische Interesse zum Ausdruck, "im Parteiensystem finden sie sich nur nicht wieder".

Die Wahlbeteiligung werde zur Qualitätsfrage der Demokratie, sagt die Wissenschaftlerin. Seit den 90er-Jahren steigen die Zahlen der Nichtwähler in allen etablierten Demokratien. In den postsozialistischen Ländern ist es viel dramatischer, ein Trend auch in den neuen Bundesländern. Außerdem ist Wählen eine Generationenfrage. Die Erstwähler gehen das erste Mal zur Wahl, danach verliere der Akt an Faszination, so de Nève.

Bei ihrer Veranstaltung an der Volkshochschule kam es zu einer kontroversen Debatte mit Schülern der 13. Klasse. Die Schüler meinten, die Wähler ließen sich manipulieren. "Ich sage immer, die Wähler sind schlau", so die gebürtige Schweizerin. Doch die Wahlforschung kann die Wahlentscheidung genauso wie die Wahlabstinenz nur unbefriedigend erklären. Denn Wähler und Nichtwähler haben immer ganz individuelle Motive. Die einen wählen eine Partei nur, weil sie sich einen Kita-Platz erhoffen, für andere reicht es, dass eine Partei gegen den EU-Beitritt der Türkei ist. Bei der letzten Bundestagswahl hat de Nève fünf Gründe für Nichtwähler ausgemacht: 1. Es gibt keine Änderung/es passiert nichts. 2. Ich weiß nicht, wen ich wählen soll. 3. Ich habe kein Interesse an Politik/ist mir egal. 4. Enttäuscht von Politik/Politikern 5. Versprechen werden nicht eingehalten.

Nun ist auch diese Wahl gelaufen. Auch die Forscherin erstaunt das Ergebnis. Infratest dimap ermittelte 700.000 CDU-Wähler, die in das Lager der Nichtwähler gewandert sind. "Wähler, die das letzte Mal CDU gewählt haben, lassen die Partei in dieser entscheidenden Situation hängen." De Nève ruft: "Das ist doch verrückt!"


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.