Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 47 / 21.11.2005
Stefan von Borstel

Deutsche Unternehmen im Ausland schaffen Arbeitsplätze zu Hause

Jobverlust: In den Betrieben geht die Angst um

Stellenabbau ist ein hässliches Wort. Arbeitgeber nehmen es nicht gern in den Mund, sie reden dann lieber von "Neuausrichtung der Produktionskapazitäten", "Zukunftssicherung" und "sozialverträglichen Lösungen". So auch bei Carl Zeiss Vision, dem zweitgrößten Brillenhersteller der Welt aus dem süddeutschen Aalen. "Die Produktion von bestimmten Einfachgläsern und Prozessschritte mit geringer Wertschöpfung sind angesichts der hohen Arbeitskosten am hiesigen Standort wirtschaftlich nicht mehr darstellbar", teilte das Unternehmen Ende September mit. Standardgläser sollen daher künftig in Ungarn produziert werden.

In Aalen fallen damit 400 Arbeitsplätze weg. "Nur ein gesundes und ertragreiches Unternehmen kann sich im internationalen Wettbewerb behaupten und Arbeitsplätze erhalten", begründete das Unternehmen seinen Schritt. Unter den deutschen Arbeitnehmern geht eine Angst um: die Angst vor der Globalisierung. Die Angst, dass der Arbeitsplatz ins günstigere Ausland verlagert wird oder dass man hierzulande mit Billiglöhnen in Ungarn oder den Sozialstandards von China mithalten muss. Die Ängste sind nicht unbegründet. Nach einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) werden bis Ende 2007 rund 150.000 deutsche Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Die Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) schätzt, dass die Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer Deutschland in den nächsten zehn Jahren rund zwei Millionen Arbeitsplätze kosten wird. Im schlimmsten Falle könnte so fast jeder vierte von rund acht Millionen Industriearbeitsplätzen verloren gehen.

Dabei kennt die ökonomische Theorie nur Gewinner der Globalisierung - zumindest langfristig.

Die internationale Arbeitsteilung, so das Kalkül der Ökonomen, erhöht Wohlstand und Beschäftigung für alle. Alle müssen nicht alles machen, sondern spezialisieren sich auf das, was sie am besten können: Entwicklungs- und Schwellenländer mit niedrigen Löhnen konzentrieren sich auf arbeitsintensive und einfache Produkte - hochentwickelte Industrienationen auf technisch anspruchsvolle und kapitalintensive Güter. "Es kann damit gerechnet werden, dass Deutschland mittelfristig insgesamt wie auch die meisten anderen entwickelten Industrieländer zu den Globalisierungsgewinnern zählt", konstatierte die Enquetekommission des Bundestages zur Globalisierung der Weltwirtschaft schon vor drei Jahren. Die internationale Verflechtung führt zu einem deutlich höherem Wettbewerbs- und Innovationsdruck. Die Arbeitsmarktchancen gut qualifizierter und hochproduktiver Beschäftigter steigen dadurch. Doch es gibt auch Verlierer: "Weniger gut qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geraten in eine zunehmend schwierige Lage, da sie sich mit ihrer geringen Qualifikation in den Wettbewerb mit Beschäftigten aus Niedriglohnländern begeben. Ihre Arbeitsmarktsituation und wahrscheinlich auch ihre Einkommensposition verschlechtern sich", stellte die Enquete-Kommission nüchtern fest. Im schlimmsten Fall kann das für die Betroffenen auch Arbeitslosigkeit heißen: "Jobverluste in einigen Branchen gehören genauso wie neue Jobchancen in anderen Branchen zu den unvermeidlichen Begleiterscheinungen der Globalisierung", schreibt die OECD in ihrem Beschäftigungsbericht 2005.

Doch während sich der Stellenaufbau in der Regel im Stillen vollzieht, steht der Stellenabbau im Fokus der Öffentlichkeit. Fast jeden Tag geht ein neues Beispiel durch die Presse: In Hannover soll ein Werk des Reifenherstellers Continental geschlossen werden. Der Konzern produziert dort gerade noch 1,5 Millionen Reifen im Jahr, im rumänischen Temesvar sind es dagegen mehr als zehn Millionen, im tschechischen Werk sogar rund 18 Millionen. Die Stillegung des deutschen Werkes würde 400 Stellen kosten. In Nürnberg protestieren Beschäftigte des Haushaltsgeräteherstellers AEG gegen eine Abwanderung ihrer Arbeit nach Polen. Im sauerländischen Hemer fürchten die Arbeitnehmer des Badarmaturenherstellers Grohe die Verlegung ihrer Arbeitsplätze nach China und Thailand.

In Schweinfurt und in Hannover schließt der Computerkonzern IBM zwei Rechenzentren. Die Arbeitsplätze werden nach Osteuropa verlagert. Betroffen sind 622 Mitarbeiter.

In Köln kündigt Linde Kältetechnik an, mehr als die Hälfte der rund 2.500 Stellen in Deutschland abzubauen. Die Produktion wird nach Tschechien und Frankreich verlagert. Der europäische Marktführer bei Kältetechnik war erst ein Jahr zuvor von einem US-Konzern übernommen worden.

Der ostdeutsche Motorradhersteller MZ aus Zschopau verlagert einen Teil seiner Produktion nach Asien. Der Betrieb trennt sich von 80 der insgesamt 170 Beschäftigten. "Durch die Restrukturierungsmaßnahmen wir MZ mit einer schlankeren und effizienteren Unternehmensstruktur in der Lage sein, seine Marktstellung auszubauen", kommentierte die Geschäftsführung den Stellenabbau.

Immer mehr Unternehmen nutzen die Drohkulisse der Standortverlagerung, um ihre Belegschaften zu Zugeständnissen bei Lohn und Arbeitszeit zu bewegen - von Siemens über Volkswagen bis Opel. Dabei ist die Globalisierung kein neues Phänomen. Einige Branchen, wie die fertigungsintensive Textilindustrie, sind schon weitgehend aus Deutschland verschwunden. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Ost-Erweiterung der Europäischen Union und dem langen Marsch Chinas und Indiens in die Weltwirtschaft hat sich das Globalisierungstempo noch einmal deutlich verschärft. Nach Schätzungen der OECD gehen in den westlichen Industrieländern zwischen vier und 17 Prozent aller Entlassungen auf das Konto des internationalen Wettbewerbs.

Es könnte noch schlimmer kommen. Nach einer Studie der Unternehmensberatung BCG steht die Auslagerung von Produktionskapazitäten in die Niedriglohnländer Osteuropas und Asiens erst am Anfang. Die Importe aus diesen Ländern machten 2003 erst sechs Prozent dessen aus, was die deutsche Industrie beschafft. Bis 2015 dürfte sich dieser Anteil verdoppeln. Aber nicht alle Branchen sind gleich betroffen. Während Lebensmittel- und Pharmaindustrie kaum abwandern werden, verabschieden sich die Hersteller von Unterhaltungselektronik, Elektrogroßgeräten, Halbleitern und Möbel zu großen Teilen aus Deutschland, sagt die Studie voraus.

Denkbar sind auch Mittelwege. Die heute noch lokal geprägte Automobilfertigung könnte zunehmend Bauteile und Systeme aus Niedriglohnländern beziehen, aber aus Logistikgründen Montagewerke in Deutschland aufrechterhalten. Mit dem Aufbau von leistungsfähigen Zulieferern auch in den Niedriglohnländern steigt aber die Gefahr, dass auch die Endmontage Deutschland verlassen könnte. Am stärksten von der Verlagerung betroffen sind weitgehend standardisierbare, arbeitsintensive, gut zu transportierende Produkte, bei denen Lieferzeiten und Risiken zu kontrollieren sind. Durch neue Arbeitszeitmodelle oder auch Lohnverzicht könne die Verlagerung zwar verlangsamt, aber nicht aufgehalten werden. Als Ausgleich müssten Jobs im Dienstleistungsbereich und in Zukunftsbranchen geschaffen werden, empfehlen die Unternehmensberater.

Dabei bleibt es nicht bei der Verlagerung von Produktion ins Ausland, zunehmend verlagern deutsche Unternehmen ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten an ausländische Standorte. Nach einer Erhebung des DIHK investiert bereits jedes dritte Unternehmen in Forschungsaktivitäten außerhalb der deutschen Grenzen. "Forschung und Entwicklung folgen vielfach der Produktion ins Ausland", warnte DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun, dessen Medizintechnikonzern Braun Melsungen schon lange weltweit tätig ist. "Die Idee, Deutschland könnte ein Land der Blaupausen-Exporteure werden, greift nicht", sagt Braun. Bei den Forschungsaktivitäten sind es nicht nur die niedrigen Löhne, die ins Ausland locken. Auch ein technologiefeindliches Klima treibt die Firmen und Wissenschaftler ins Ausland. Hier wirken die Gesetze der Globalisierung: Geforscht wird da, wo die Bedingungen dafür am besten sind.

Ein düsteres Bild malt auch der Münchner Wirtschaftsprofessor Hans-Werner Sinn. Er sieht den Exportweltmeister Deutschland auf dem Weg in die "Basar-Ökonomie". Auf der Flucht vor den hohen deutschen Löhnen beziehen die Unternehmen immer mehr Vorleistungen aus dem Ausland: "Im Endeffekt schrauben Firmen die in Niedriglohnländern vorfabrizierten Teile in Deutschland nur noch zusammen, kleben ein "Made in Germany"-Schild auf die fertige Ware und verkaufen sie dann über den deutschen Tresen weiter in die Welt."

Die Wirtschaftsverbände verteidigen die Produktionsverlagerungen ins Ausland. "Durch die Internationalisierung ihrer Wertschöpfungsketten bleiben die deutschen Unternehmen auf den heimischen und internationalen Märkten wettbewerbsfähig und sichern damit auch hierzulande Beschäftigung und schaffen Ausbildungsplätze", argumentiert der Deutsche Industrie- und Handelskammertag.

Der DIHK belegt dies in einer einer Umfrage unter 4.400 Unternehmen, die im Ausland aktiv sind. Danach schaffen international tätige deutsche Unternehmen insgesamt mehr Arbeitsplätze in Deutschland als sie einsparen. Nur die günstig produzierten Importe sicherten die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Waren und damit auch 3,6 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland, erklärt auch der Präsident des Außenhandelsverbands, Anton F. Börner. "Das Rad der Globalisierung kann nicht zurückgedreht werden", sagt Börner. 400 Zeiss-Mitarbeiter in Aalen wünschten, es wäre anders.


Stefan von Borstel ist Korrespondent im Parlamentsbüro der "Welt"in Berlin.


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