Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 02.01.2006
Otto Singer

Endlich raus aus dem Teufelskreis

Jeffrey Sachs sieht Chancen für eine gerechtere Welt
Unterentwicklung ist kein unabwendbares Schicksal. Mit viel Geld und dem wohlkoordinierten Einsatz dieser Mittel kann die Armut auf der Welt beendet werden. Dies ist die Kernthese des Buches von Jeffrey Sachs. Der Leiter des Earth Institutes an der New Yorker Columbia University fordert höhere Entwicklungshilfebudgets und eine zielgerichtete, der konkreten Situation des einzelnen Landes besser angepasste Entwicklungspolitik. In Einzelfragen reizt das animierende Buch durchaus zum Widerspruch.

Sachs ist gleichzeitig Direktor des Millenium-Projekts der Vereinten Nationen, das vor einem knappen Jahr eine Konzeption zur Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele vorgelegt hat ("Investing in Development"). Kurz darauf kam das Buch von Sachs heraus, das mit ähnlichen Vorschlägen aufwartet, aber zugleich einen vertieften Einblick in ökonomische Entwicklungsprozesse bietet.

Zu den Stärken des Buches gehört eine Darstellung der Entwicklung des "modernen Wirtschaftswachstums". Der Autor beschreibt in verständlicher Weise die im internationalen Vergleich höchst unterschiedlichen Verläufe ökonomischen Wachstums. Zugleich vermittelt er ein anschauliches Bild der enormen Kluft zwischen den reichsten und den ärmsten Teilen der Welt und den Abstufungen dazwischen.

Für Sachs ist die ökonomische Entwicklung kein Nullsummenspiel, in dem der Wohlstand einiger weniger sich zwangsläufig in Verlusten der anderen niederschlagen müsse. An Wachstumsprozessen könnten prinzipiell alle Gesellschaften teilhaben. Sachs geht es weniger um die unterschiedlichen Wachstumsraten in den relativ wohlhabenden Teilen der Welt; ihn interessiert vor allem das Zurückbleiben der ärmsten Gesellschaften. Er verweist darauf, dass es keine einzelne, umfassende Erklärung dafür gibt, warum bestimmte Regionen in extremer Armut verharren. Er sieht die ärmsten Teile der Welt in einer Armutsfalle, der sie aus eigener Kraft nicht entkommen können.

Die Ursachen dafür seien vor allem geografische Gegebenheiten. Obwohl sich Sachs ausdrücklich gegen einen geografischen Determinismus wendet, lässt sich doch nicht übersehen, dass er den geografischen Besonderheiten einer Region eine besondere Rolle beimisst. Diese gelte gerade für Afrika, das unter besonders ungünstigen geografischen und klimatischen Voraussetzungen leide. Krankheiten wie Malaria, Bilharziose und Dutzende weitere Tropenkrankheiten würden dadurch begünstigt, gleichzeitig gebe es in Afrika nur wenig schiffbare Flüsse, viele Menschen lebten im Landesinneren.

Gerade der Zugang zu den Weltmärkten sei zentral für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes: Nur über den leichten Austausch mit dem Rest der Welt könne eine Wirtschaft schnell auf der Technologieleiter nach oben klettern. In Konkurrenz mit ausländischen Herstellern lernten zudem einheimische Unternehmen am ehesten, wie man effizient weltmarktfähige Produkte herstellt. Große Teile Afrikas seien von diesen Vorteilen wegen ihrer schlechten Verkehrswege ausgeschlossen.

Auch andere Ursachen der Armut werden angesprochen. Dazu gehören insbesondere Staatsversagen, Geopolitik und Bevölkerungsentwicklung. Die Bekämpfung der Armut müsse am jeweils festgestellten Ursachenbündel - der "Differentialdiagnose" - ansetzen. Sachs hat dafür eine Checkliste zur Überprüfung der jeweils besonderen Situation eines Landes vorgelegt. Eine solche Vorgehensweise ist keineswegs neu. Die Betrachtung von besonderen Risikofaktoren (etwa demografischen Trends, klimatischen Problemen, Staatshandeln und kulturellen Schranken) entspricht seit langem dem üblichen Verfahren in der multilateralen beziehungsweise bilateralen Entwicklungspolitik.

Auch die im Buch skizzierten Lösungsvorschläge folgen prinzipiell dem herkömmlichen Muster. Der zentrale Unterschied liegt allerdings darin, dass die vorgeschlagenen Hilfsmaßnahmen eine völlig neue Größendimension erreichen. Alles zusammengenommen ist nach Auffassung von Sachs eine Ausweitung der öffentliche Entwicklungshilfe auf etwa 135 Milliarden Dollar erforderlich - etwa doppelt so viel, wie heute tatsächlich an Entwicklungshilfe ausgegeben wird.

Machbarkeitseuphorie

Auffällig, ja irritierend, ist die technokratische Machbarkeitseuphorie, die das gesamte Buch durchzieht. Sachs suggeriert, dass sich ein großer Mitteleinsatz im Selbstlauf in einen Wachstumsprozess umsetzen wird ("big push"). Er sieht auch kein wesentliches Problem für die "Verarbeitung" der Hilfeleistungen auf der Seite der Hilfeempfänger. Die Absorption von zusätzlichen externen Finanzmitteln dürfte etwa in einem Land wie Tansania - das seit Jahren externe Hilfeleistungen von mehr als zehn Prozent des Volkseinkommens erhält - auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen. Überdies müsste bedacht werden, dass die Finanzströme in die Entwicklungsländer nicht immer nur Gutes bewirken. Sie dienen häufig den eigennützigen Interessen einflussreicher und zugleich reformresistenter Gruppen.

Man wird deshalb nicht umhin kommen, auch andere Studien zu Rate zu ziehen. Zu nennen ist insbesondere der Entwicklungsökonom William Easterly, der sich kritisch mit dem Ansatz von Sachs auseinandersetzt. Überdies sollten auch kulturelle Schranken der Entwicklung ernster genommen werden, als Sachs dies tut. Eine Reihe von Studien macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass es nicht ausreicht, Kapital und technisches Wissen in unterentwickelte Volkswirtschaften zu transferieren, um wirtschaftliche Entwicklung zu erzeugen. Hier lohnt insbesondere die Lektüre von David Landes ("Wohlstand und Armut der Nationen"), der die Kultur als einen entscheidenden Entwicklungsfaktor ausgemacht hat.


Jeffrey D. Sachs

Das Ende der Armut. Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt.

Siedler Verlag, München 2005; 450 S., 24,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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