Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 02.01.2006
Suzanne S. Schüttemeyer

Das Internet als "fünfte Gewalt"

Die neue Ausgabe der Zeitschrift für Parlamentsfragen
Zum zweiten Mal seit 1966 tritt eine Große Koalition aus Union und SPD im Bund an. Die Wähler haben mindestens Anspruch auf die Vermutung, dass sich darin - alles in allem - ihr Votum abbilde. Die neue Regierungsformation und ihre Programmaussagen verdienen insofern mindestens demokratischen Anfangsrespekt. Stattdessen waren die Verbands- und Kommunikationseliten umgehend mit vernichtenden Kommentaren zur Stelle. Diesen lauten "Sprechern" sei nebst der (Be-)Achtung des Wählervotums pragmatisch die Weisheit Henry Kissingers in Erinnerung gerufen, derzufolge ein Kompromiss nur dann gerecht und brauchbar ist, wenn alle damit etwa gleich unzufrieden sind.

Auffällig ist inzwischen aber auch, dass den emsigen Nörglern und medialen Draufgängern zunehmend eine öffentliche, wenngleich nicht veröffentlichte Haltung gegenübersteht, die - bei aller Anerkennung von Kritik- und Kontrollnotwendigkeit - den Nutzen ewiger Kassandrarufe bezweifelt und auf die verstärkende Wirkung der eben auch vorhandenen positiven Signale setzt.

Ob diese Öffentlichkeit, die nicht den Gesetzen der Medienlogik gehorcht, künftig an Bedeutung gewinnen wird, lässt sich schon jetzt in anderen Ländern studieren. Eun-Jeung Lee zeigt, wie das Internet in Südkorea zur "fünften Gewalt" geworden ist und mit Millionen aktiver Bürger eine massive Konkurrenz für die traditionellen (Informations-)Eliten darstellt. Vor übertriebenen Hoffnungen auf Demokratisierungsschübe durch computervermittelte Kommunikation warnt Ralf Lindner. Er hat untersucht, wie Parteien und Interessengruppen in Kanada das Internet nutzen. In Deutschland scheint es nach wie vor nur von einer kleinen "elektronischen Informationselite" als politisches Medium wahrgenommen zu werden, so Rüdiger Schmitt-Beck und seine Mitautoren. Hier öffnen sich noch weite Perspektiven.

Ob es gelingt, die nicht nur in der Bundesrepublik drückende Last der Staatsverschuldung zu reduzieren, hängt nicht unwesentlich von institutionellen Faktoren ab. Eric Seils untersucht in 14 parlamentarischen Demokratien rechtliche Vorkehrungen, die verhindern helfen, dass individueller Nutzen auf Kosten der Gesamtheit der Steuerzahler erzielt wird. Danach ist der Zugriff auf das Budget in Deutschland eher schwierig. Insofern bedarf es hier keiner institutionellen Reformen im Haushaltsprozess. Es liegt am Willen und Mut der Handelnden, das Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen.

Politischer Mut ist auch für die überfällige Föderalismusreform gefordert. Edzard Schmidt-Jortzig inspiziert die Erfahrungen der im Dezember 2004 gescheiterten Bundesstaatskommission und empfiehlt, künftig in Teilschritten vorzugehen, einen Konvent einzuberufen und vor allem, nicht wieder im "Vorsitzendenverfahren" zu operieren. Stefan Benz analysiert die 161 Zuschriften von Interessengruppen und einzelnen Bürgern, die bei der Kommission eingingen. Die meisten plädierten eher für die Beibehaltung des Status quo. Reformkonsens muss also nicht nur zwischen den Parteien, sondern mindestens ebenso dringend in der Gesellschaft gesucht werden.

Christian Ernst und Lars Johnsen diskutieren das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem es die Besetzung der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss für verfassungswidrig erklärt hatte. Sie führen rechts- und politikwissenschaftliche Ansätze zusammen und kommen zu dem Schluss, dass die Sicherung effektiver Gesetzgebungsarbeit ein legitimes Ziel ist, das es erfordert, die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse im Vermittlungsausschuss abzubilden. Folglich sei die Einführung eines Korrekturfaktors mit bestehenden Verfassungsgrundsätzen vereinbar. Die Mathematiker Friedrich Pukelsheim und Sebastian Maier bieten hierfür eine "schonende Mehrheitsklausel" an, deren Abweichungen von der Spiegelbildlichkeit der Ausschussbesetzung den vom BVerfG aufgestellten Kriterien genügen.

Das nach Jahrzehnten des Forderns und Ringens 2001 in Kraft getretene Gesetz über Parlamentarische Untersuchungsausschüsse (PUAG) hat viel Beifall gefunden. Die Praxis zeigt indes, dass zahlreiche Auskunftsverweigerungen parlamentarische Untersu-chungen ineffektiv machen. Um deren Missbrauch einzudämmen, schlägt George Alexander Wolf ein limitiertes Beweisverwertungsverbot vor. Auch Klaus Ferdinand Gärditz stellt dem PUAG ein prinzipiell gutes Zeugnis aus, nachdem er dessen Rechtsschutzsystem kritisch durchleuchtet hat.

Wenn Fraktionen und Abgeordnete ernst genommen werden wollen, müssen sie politisches Gewicht und Sachverstand in die Wagschale werfen können. Dies war im Alltag der Großen Koalition von 1966, wie Hans Apel ihn beschrieb, nicht der Fall: "Uns braucht man nicht einmal im Plenum für die Mehrheiten. Zweimal in der Woche spiele ich Fußball in der Mannschaft des Bundestages." Seither ist viel geschehen, um den Bundestag in dieser Hinsicht besser zu rüsten. Helmar Schöne untersucht, welche Rollen die Leiter der Fraktionsverwaltungen und die Referenten der Arbeitskreise einnehmen. Beide Positionen stärken die Fraktionsführungen. Aber auch die Arbeitsbedingungen der einfachen MdB's sind entschieden besser als vor 40 Jahren; sie brauchen sich nicht mit Fußball zufrieden zu geben. Mut und Wille sind von ihnen genauso wie von den Regierenden gefragt.


Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen (Hrsg.)

Zeitschrift für Parlamentsfragen. Heft 4/2005.

VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005; 190 S., Einzelheft: 13,50 Euro, Jahresabonnement (4 Hefte) 38,- Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.