Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 08 - 09 / 20.02.2006
Daniela Weingärtner

Der kleinste gemeinsame Nenner

Nach harten Auseinandersetzungen beschlossen - die europäische Dienstleistungsrichtlinie

Wie die einzige Überlebende einer Schiffskatastrophe wurde Evelyne Gebhardt letzte Woche nach der Abstimmung über die Dienstleistungsrichtlinie von ihren sozialistischen Fraktionskollegen geherzt und gedrückt. Gebhardt hatte die schwierigen Verhandlungen mit den Konservativen im Europaparlament geleitet. Fraktionschef Martin Schulz offerierte einen großen Blumenstrauß und einen Kuss auf den Mund, der Jubelstürme im Plenum auslöste. Nach zwei Stunden Abstimmung waren fast alle erleichtert und zu Albernheiten aufgelegt. Die große Koalition aus Konservativen und Sozialisten hatte gehalten. Eine bequeme Mehrheit von 391 Abgeordneten hatte das Gesetz in seiner abgemilderten Form beschlossen.

Damit ist nach zweijährigem Streit um die "Bolkestein-Richtlinie" eine Zwischenetappe erreicht. Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy hatte bei der Debatte am 14. Februar im Europaparlament versprochen, alle Änderungen zu übernehmen, die von einer breiten Mehrheit getragen sind. Läuft alles nach Plan, sollen bereits auf dem Lissabon-Gipfel im März die Regierungschefs die Kernpunkte des neuen Vorschlags absegnen. Dann könnte schon Ende dieses Jahres die zweite Lesung im Europaparlament stattfinden. Spätestens 2011 soll das von McCreevys Vorgänger, dem holländischen Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein, erfundene Gesetz in Kraft treten.

Es hat allerdings mit seiner ursprünglichen Form nicht mehr viel gemein. Das zunächst im Gesetz vorgesehene Prinzip, dass Dienstleister überall in der EU nach den Vorschriften ihres Heimatlandes arbeiten, das so genannte Herkunftslandsprinzip, ist gestrichen. Es wird von Gewerkschaften und sozialen Protestbewegungen abgelehnt, weil sie fürchten, dass die schlechtesten Sozialstandards und niedrigsten Löhne überall in der EU zum Maßstab werden könnten. Genau aus dem gleichen Grund befürworten osteuropäische Politiker das Herkunftslandsprinzip, weil es die Marktchancen ihrer Dienstleister in Westeuropa verbessert hätte.

In Straßburg waren am 14. Februar noch einmal 40.000 Menschen auf der Straße, um ihren Protest gegen die "Bolkestein-Richtlinie" zum Ausdruck zu bringen. Nach der Abstimmung zwei Tage danach äußerte sich John Monks, der Vorsitzende des Europäischen Gewerkschaftsbundes, sehr zufrieden. "Wir müssten blind sein, wenn wir nicht anerkennen würden, dass große Fortschritte erreicht worden sind." 213 Parlamentsmitglieder stimmten dennoch gegen die Richtlinie. Den Grünen und der Linkspartei geht die Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte zu weit. Sie kritisieren, dass der Text an vielen Stellen widersprüchliche Auslegungen zulässt. Einige Konservative aus Osteuropa und viele Liberale lehnten das Gesetz ab, weil sie das ursprüngliche Ziel verfehlt sehen, den Markt für grenzübergreifende Dienstleistungen zu öffnen, dadurch mehr Arbeitsplätze zu schaffen und das Wachstum anzukurbeln.

"Löchrig wie ein Schweizer Käse"

Der Text sei "löchrig wie ein Schweizer Käse", erklärte die deutsche Grüne Heide Rühle. Viele Passagen seien so schwammig formuliert, dass es am Ende dem Europäischen Gerichtshof zufallen werde, den Text auszulegen. Doch klarere Regeln schienen den meis-ten Abgeordneten und der Kommission angesichts des enormen öffentlichen Widerstandes nicht mehr durchsetzbar. So einigten sich Konservative und Sozialisten in monatelangen Verhandlungen auf eine lange Liste von Ausnahmen und ausdrücklichen Verboten.

Noch einen Tag vor der Abstimmung war nicht klar, ob der Spagat zwischen den politischen Positionen gelingen würde. Sogar während des 400 Änderungen umfassenden Abstimmungsmarathons drohte noch einmal alles zu platzen. Denn die Konservativen stimmten mit den Liberalen dafür, private Gesundheitsdienste nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen.

Darauf drohte die sozialistische Berichterstatterin Evelyne Gebhardt, ihre Fraktion werde mit den Grünen und der Linkspartei stimmen, wenn die Absprachen von den Konservativen nicht eingehalten würden.

Die Drohung fruchtete: Für die restlichen Änderungen hielten sich beide große Parteien genau an die vorab vereinbarte Abstimmungsliste. Die privaten Gesundheitsdienste bleiben von der Richtlinie ausgenommen.

Da die meisten Befürchtungen der Gewerkschaften und viele Sorgen der Liberalisierungsfreunde in Einzelbestimmungen aufgefangen werden, ist eine sehr lange Positiv- und eine ausführliche Negativliste entstanden. Das macht den Text weniger rechtssicher als es eine einfache Grundregel wie das Herkunftslandprinzip gewesen wäre. Stattdessen gilt nun - von den zahlreichen Ausnahmen abgesehen - "die Freiheit, Dienstleistungen anzubieten". Darauf immerhin können sich ausländische Anbieter berufen, wenn sie sich bürokratischen Schikanen, unerfüllbaren Auflagen oder langwierigen Zulassungsprozeduren ausgesetzt sehen.

Der Vorteil im Vergleich zur bisherigen Gesetzeslage besteht auch darin, dass jedes Mitgliedsland eine Behörde benennen muss, die für alle Anfragen und Formalitäten zuständig ist. Der Hindernislauf von Amt zu Amt, die Jagd nach vorgeschriebenen Stempeln, die oft nur der Abschreckung diente, hat ein Ende. Es bleibt den Mitgliedstaaten aber erlaubt, von Firmen, die Arbeitnehmer entsenden wollen, eine Genehmigung des Gastlandes zu verlangen. Sie können auch vorschreiben, wie in Frankreich und Belgien üblich, dass ein Betrieb den Arbeitnehmer mehrere Tage vor dem Einsatz anmelden muss. Das führt zum Beispiel dazu, dass ausländische Wartungsdienste oder Software-Serviceunternehmen in Frankreich und Belgien nicht konkurrenzfähig sind. Auch umfassende Betriebsunterlagen können weiterhin verlangt werden und den bürokratischen Aufwand enorm erhöhen. Betriebs- und Steuerprüfungen am Ort der vorübergehenden Dienstleistung sind ebenfalls weiter zulässig. Viel Zündstoff birgt auch die Regelung, dass jedes Land selbst entscheiden kann, welche Dienste unter die Daseinsvorsorge fallen. Diese im Juristendeutsch "Dienste von allgemeinem Interesse" genannten Leistungen wie Gasversorgung, Nahverkehr oder Schulen waren bis zuletzt im Parlament heiß umstritten. Sie sind nun vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen.

Wenn zum Beispiel in Deutschland das staatliche Schulwesen zur Daseinsvorsorge gehört, die Müllabfuhr aber nicht, dann dürfen für staatliche Lehrer weiterhin besondere Auflagen gelten, für Müllentsorger müssen sie entfallen. Bleibe es bei dieser Regelung, müsse am Ende der Europäische Gerichtshof entscheiden, "ob für Dienste der Daseinsvorsorge gegen Entgelt möglicherweise doch das Herkunftslandprinzip gilt", klagt die grüne Abgeordnete Elisabeth Schrödter.

Dienstleister dürfen in der Ausübung ihrer Tätigkeit beschränkt werden, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung, der Gesundheitsschutz, der Umweltschutz oder die soziale Sicherheit im Gastland beeinträchtigt werden könnten.

Ausdrücklich von der Richtlinie ausgenommen sind Zeitarbeitsagenturen, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, Sicherheitsdienste, Rechtsberatung, hoheitliche Tätigkeiten wie Notariatswesen, Gesundheitsdienste, Sozialdienste wie Kindergärten oder sozialer Wohnungsbau, Transportunternehmen und Lotterien. Auch alle Berufe und Bereiche, die bereits durch eigene Richtlinien geregelt sind, zum Beispiel die Anerkennung von Berufsqualifikationen oder die Entsendung von Arbeitnehmern, fallen nicht unter das neue Gesetz.

Es gibt aber auch eine "schwarze Liste" von Hindernissen, die als unbegründete Schikane und Abschottungstricks des jeweiligen Landes bewertet werden. So kann kein Unternehmen künftig mehr verpflichtet werden, eine Niederlassung im Hoheitsgebiet zu unterhalten, eine bestimmte Infrastruktur wie eine Kanzlei oder Praxis einzurichten, einen besonderen Ausweis für die Dienstleistung zu beantragen oder besondere Anforderungen an Ausrüstungsgegenstände zu erfüllen. Der Malermeister aus Aachen muss also nicht mehr in einen Lieferwagen mit belgischem Kennzeichen umsteigen, wenn er in Lüttich einen Auftrag ausführen will. Der Umzugsunternehmer aus Berlin braucht für seinen Lastenaufzug keine französische Sonderzulassung, wenn er Möbel für einen Kunden nach Paris bringt.

600.000 neue Jobs erhoffen sich Experten von einem liberalisierten Dienstleistungsmarkt. Zwei Studien, die zu diesem Ergebnis kommen, gehen aber noch von den Bestimmungen des ursprünglichen Richtlinienentwurfs von Frits Bolkestein aus. Wie groß das Wachstumspotenzial durch die nun vom Parlament beschlossene Fassung sein könnte, wagt derzeit niemand abzuschätzen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.