Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 12 / 20.03.2006
Johanna Metz

Ein Individualist mit viel Courage

Damals ...vor 20 Jahren am 22. März: Der Bundestag nimmt Abschied von Eugen Gerstenmaier

Ihr zweithöchstes Gebäude verdankt die Stadt Bonn ausgerechnet einem ziemlich kleinen Mann: dem nur 1,68 Meter "großen" damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier (CDU). Er hatte sich Mitte der 60er-Jahre für den Neubau des neuen Abgeordnetenhochhauses stark gemacht, und damit die Pläne des Architekten, einen Flachbau zu errichten, durchkreuzt. Fertiggestellt wurde der kolossale Bau im Jahre 1969: 106 Meter und 29 Etagen hoch ragte er selbstbewusst in den Himmel über den Rheinauen und war damit höher als jedes andere Gebäude in seiner Umgebung. Im Volksmund hieß es fortan nur "Langer Eugen" - in liebevoller Anspielung auf die bescheidene Körpergröße seines Förderers.

Doch trotz dieser architektonischen Spuren, die Eugen Gerstenmaier in Bonn hinterlassen hat, kennen den gebürtigen Schwaben heute nur noch wenige. Und das obwohl er mit einer über 14-jährigen Amtszeit der längste amtierende Bundestagspräsident der Bundesrepublik war. Zwischen 1954 und 1969 hatte er drei Kanzler kommen und gehen sehen: zunächst Konrad Adenauer, später Ludwig Erhard und schließlich Kurt Georg Kiesinger.

Als Gerstenmaier am 13. März 1986 im Alter von 79 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls starb, ehrte der Bundestag seinen langjährigen Präsidenten am 22. März daher mit einem Staatsakt, bei dem ihn Politiker aller Fraktionen ausdrücklich würdigten. So hob Bundespräsident Richard von Weizsäcker hervor, dass Gerstenmaier den "Geist und die Richtung unseres heutigen Staates maßgeblich mitgeprägt habe", Bundestagspräsident Philipp Jenninger sagte, er habe das Selbstverständnis der Parlamentarier gefestigt und "dem Bundestag seine Gestalt gegeben". Auch Bundeskanzler Helmut Kohl lobte seine Verdienste: "Eugen Gerstenmaier hat dazu beigetragen, dass für Deutschland nach dem Krieg an Ehre gerettet wurde, was noch zu retten war."

Das hatte der promovierte Theologe früh und mit großem Engagement getan: Während des NS-Regimes war er einer der Mitorganisatoren des Widerstandes gegen Hitler gewesen - zum einen als Mitglied der "Bekennenden Kirche", zum anderen als Angehöriger des "Kreisauer Kreises" um Graf von Moltke, einem Zentrum des bürgerlichen Widerstands, das Konzepte für eine grundlegende Neugestaltung Deutschlands nach dem Sturz des NS-Regimes entwick-elt hatte. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler wurde Gerstenmaier verhaftet und vor den Volksgerichtshof gestellt. Anders als viele Mitverschwörer verurteilte man ihn aber nicht zum Tode, sondern bestrafte ihn "unverständlich milde", wie er später sagte, mit sieben Jahren Zuchthaus.

Nach Kriegsende wurde er Mitbegründer des "Evangelischen Hilfswerks", das er bis 1951 leitete. Auf Umwegen fand er in den Bundestag: im Jahr 1949, kurz nachdem er in die CDU eingetreten war. Schnell stieg er zum Bundestagspräsidenten auf - eine erstaunliche Karriere für einen Quereinsteiger und Spätberufenen wie ihn. Oft musste er sich in dieser Funktion auf seine berühmt-berüchtigt scharfe Zunge beißen, was für den wortgewandten Schwaben mit dem großen Hang zur Individualität nicht immer einfach war. Besonders Adenauer brachten Gerstenmaiers eigenmächtige Vorstöße hin zu einer Weiterentwick-lung der deutschen Ostpolitik oder die Aufwertung West-Berlins als Tagungsort des Parlaments bisweilen mächtig auf die Palme. Gerstenmaier ließ sich davon nicht beirren: Zwischen 1955 und 1965 berief er allen Protesten zum Trotz neun Plenarsitzungen im Reichstag ein. Darüber hinaus warb er für eine grundlegende Reform der Parlamentsarbeit. Er wollte die Zahl der Angeordneten verringern, Landtags- und Bundestagswahlen zusammenlegen und die Legislaturperiode auf fünf Jahre erhöhen. Durchsetzen konnte er sich mit diesen Vorstellungen allerdings nicht. Einer der Mitbegründer der CDU, Heinrich Krone, schrieb 1958 über ihn: "Ein eigenwilliger Kopf, dieser Gerstenmaier. Einer, der Mut hat, und, wenn es geboten ist, den Kopf auch hinhält."

Ohne Tragik ist es nicht, dass ausgerechnet er, den auch politische Gegner für einen der gebildetsten Politiker seiner Zeit hielten und der das Ansehen des Parlaments so gefestigt hatte, am Ende über einen politischen Skandal stolperte: Für ein Lehramt, dass er während der NS-Zeit nicht ausüben durfte, hatte er eine ungewöhnlich hohe Wiedergutmachungsleistung erhalten. Daraufhin trat er am 31. Januar 1969 zurück. Seine aktive politische Laufbahn war damit beendet, er schrieb seine Memoiren und erlitt 1985 einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.