Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 12 / 20.03.2006
Susanne Kailitz

Aufgekehrt...

In der Psychoanalyse ist die Sache klar: Schuld an Neurosen, Depressionen und Traumata aller Art sind immer die Mütter. Sie lieben entweder zu viel oder zu wenig - nur richtig machen sie es nie und sind damit verantwortlich für alles, was seelisch schiefgehen kann. Doch nun kann die vielgescholtene Personengruppe aufatmen und den schwarzen Peter getrost weitergeben. Betrachtet man nämlich das Große und Ganze, also die Gesellschaft, sind ganz andere Schuld an der Misere: die Nichtmütter und -väter.

An den Nachwuchsverweigerern liegt es, dass das Rentensystem am Boden liegt und, fast schlimmer noch, das deutsche Volk auf absehbare Zeit aussterben wird. Zu diesem Schluss kommen die "Bild"-Zeitung und der Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik der Universität Köln, Johann Eekhoff. Eine Lösung für das Dilemma hat der ehemalige Staatssekretär auch gleich parat: Kinderlose sollen auf die Hälfte ihrer Renten verzichten. Schließlich sind sie schuld, dass das Rentensystem nicht funktioniert und hätten niemals darin aufgenommen werden dürfen. Etwas gnädiger ist der CSU-Abgeordnete Norbert Geis. Ginge es nach ihm, könnten die Kinderlosen entweder auf die Hälfte ihrer Altersbezüge verzichten oder einfach mehr in die Rentenkasse einzahlen.

Die Idee ist bestechend - und ausbaubar: Der Gedanke, die Krankenkassenbeiträge von Rauchern zu erhöhen, könnte so nach vielen Diskussionen wieder auf den Tisch gebracht und endlich in die Tat umgesetzt werden. Was spricht schon dagegen, Übergewichtigen, Zuckerkranken und Sportmuffeln auch gleich das Doppelte abzuverlangen? Auch der öffentliche Haushalt könnte auf diese Weise saniert werden. Das nötige Instrumentarium dafür ist schon mal da: Die 100 Fragen, die sich der hessische Innenminister Volker Bouffier für seinen Einbürgerungstest ausgedacht hat. Die nämlich könnte man künftig neben einbürgerungswilligen Ausländern auch Staatsbediensteten stellen und deren Bezüge abhängig von den Testergebnissen gestalten.

So könnte es Gehaltsabzüge von 25 Prozent für diejenigen geben, die nicht sagen können, wie der dreistufige Verfassungsaufbau in Deutschland funktioniert oder welcher Arzt die Erreger von Cholera und Tuberkulose entdeckte. 50 Prozent vom Gehalt werden denjenigen abgezogen, die nicht wissen, welches Ereignis am 17. Juni 1953 in der DDR stattfand und was der Grund für die gesetzliche Schulpflicht in der Bundesrepublik ist.

Und wer noch nicht einmal spontan drei deutsche Mittelgebirge benennen kann oder die Hauptstadt nicht kennt, der muss drei Monate lang auf seine Bezüge verzichten und zum Wiederholungstest antreten, bevor es wieder Geld gibt. Die beste Chancen, den Test zu schaffen, haben diejenigen mit schulpflichtigen Kindern: In deren Politik-Büchern findet man schließlich die Antworten auf die Fragen am schnellsten. Aber das ist sicher nur Zufall.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.