Einleitung
Dass "gleichwertig nicht gleich" bedeutet, stellte Matthias
Platzeck - der Ministerpräsident von Brandenburg - in einer
Presseerklärung vom 31. Mai 2004 ebenso prägnant wie
resolut fest. Seine Feststellung richtete sich keineswegs an ganz
Brandenburg, sondern nur an die Bewohner bestimmter Teilgebiete:
die entlegenen Landstriche, welche das Pech haben, nicht die
Metropole Berlin zu umsäumen. Entsprechend fuhr erfort: "Wir
haben zu konstatieren, dass nicht in allen Dörferngleich
gefördert werden kann."
Was Gleichwertigkeit jenseits von
Gleichheit heißen könnte, ließ er offen.
Allerdings war für jeden erkennbar, dass Platzeck mit seiner
Feststellung "gleichwertig ist nicht gleich" auf die "Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse" anspielte, welche in
Artikel 72 Absatz 2 Grundgesetz (GG) formuliert ist.
Diese war bisher als Postulat -
also als politische Anweisung - verstanden worden,
"zurückgebliebene Regionen" so zu entwickeln, dass diese zu
den "fortgeschrittenen" aufschließen, am "Prozess der
Modernisierung" teilhaben und insbesondere von den Gütern und
Verwirklichungschancen
der Moderne ebenso profitieren wie
jene Gebiete, welche die Spitze der wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Entwicklung bilden. Als wichtiger Schritt in
diese Richtung galt es, die Lebensverhältnisse in
benachteiligten an die in bevorzugten Regionen anzugleichen.
Überall - in Essen, Leipzig, München, in Oberbayern, im
Emsland oder in der Uckermark - sollte für eine bestimmte
Anzahl von Menschen die gleiche Ausstattung mit Schulen,
Krankenhäusern, Schwimmbädern, Kindergartenplätzen,
Frei- und Hallenbädern etc., aber auch mit Arbeits- und
Ausbildungsplätzen vorhanden sein, um den dort Lebenden auf
diese Weise - nämlich per Gleichverteilung - gleichwertige
Lebensverhältnisse zu bieten.
Getragen wurde die
Unterstützung "hinterherhinkender Gebiete" von der
Überzeugung, dass sich damit die Ungleichzeitigkeiten im
Entwicklungsprozess alsbald beheben ließen.
Gleichwertigkeit: Gleichheit und Gleichförmigkeit
In entlegenen Dörfern, in "armen Kommunen" - nicht nur in
Brandenburg - scheint dieses Postulat zunehmend brüchig zu
werden. Damit wird fraglich, ob künftig noch und vor allem wie
"gleichwertige Lebensverhältnisse" gesichert werden
können. Wie eng der Zusammenhang zwischen den "Kommunen im
Wandel" - so der Titel der Ausgabe von APuZ 21 - 22/2006 vom 22.
Mai dieses Jahres - mit dem Grundsatz der "Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse" verknüpft ist, zeigte sich in den
Beiträgen dieses Heft besonders anschaulich. Gleich in zwei
Texten wurde der Wandel der Kommunen, der vorwiegend auf den Wegzug
von Bewohnern zurückgeführt wird, auf die Konsequenzen
für die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse"
bezogen. Ulrich Sarcinelli und Jochen Stopper fragten in ihrem
Beitrag, "ob das Ziel der Herstellung gleichwertiger
Lebensverhältnisse (Art. 72 Abs. 2 GG) bei regional sehr
unterschiedlich verlaufenden Bevölkerungsentwicklungen noch
handlungsleitend sein kann".
Und Norbert Kersting
resümierte: "Der demographische Wandel rückt ... das
Problem der Gleichwertigkeit und Einheitlichkeit der
Lebensverhältnisse in den Vordergrund."
Die beiden Zitate stehen für
einen weit verzweigten Argumentationsstrang. So problematisierte
die Journalistin Cordula Tutt, die sich im Frühjahr 2006 im
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung als Gast
aufhielt, das Ziel der "Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse" nicht einmal mehr. Sie konstatierte
bloß noch: "Der Auftrag des Grundgesetzes, gleichwertige
Lebensverhältnisse herzustellen, ist schon jetzt
überholt. Das Schrumpfen (der Bevölkerung, E.B.) erledigt
diesen Auftrag vollends."
Markant an diesen Zitaten ist dreierlei: Erstens beziehen sie sich direkt oder indirekt auf das Grundgesetz, was zeigt, wie politisch und gesellschaftlich präsent die verfassungsrechtliche Garantie einer bestimmten Qualität der Lebensverhältnisse ist. Für andere Verfassungsgebote gilt dies vermutlich nicht so ausgeprägt, was als Indiz für die Gegenwärtigkeit und Bejahung des darin enthaltenen Grundkonsenses angesehen werden kann. Zweitens fällt auf, dass in diesen Zitaten Gleichwertigkeit, ohne dass dies eigens ausgesprochen wird, als weitgehende Gleichheit bzw. Gleichförmigkeit der Lebensverhältnisse aufgefasst wird. Dass Gleichwertigkeit auch anderes meinen kann, etwa gleichgestellte Verschiedenartigkeiten oder die Anerkennung der Gleichberechtigung von Differenz, liegt dem gewohnten Verständnis offenbar fern. Mit dem zweiten Punkt korrespondiert drittens, dass Gleichheit bzw. Gleichförmigkeit bislang mittels Input-Indikatoren gesichert wurde: Pro 1 000 Einwohner sollten x Güter oder y Zugangschancen bereit stehen. Diese Gleichungen geraten bei einem massiven Wandel der Bevölkerungsgröße - bei starkem Wachstum wie bei starkem Rückgang - aus der Balance. Die in den Gleichungen enthaltenen gesellschaftspolitischen Ziele wie dieselbe Zugänglichkeit zum Gesundheits- und Bildungssystem oder identische Erwerbschancen werden mit Rekurs auf die "schrumpfende Bevölkerung" für nicht mehr finanzierbar gehalten und mit diesem Argument zur Disposition gestellt. Anstatt die bisherige Auslegung von Gleichwertigkeit als Gleichheit bzw. Gleichförmigkeit und deren praktische Umsetzung durch eine mehr oder weniger identische strukturelle Ausstattung zu überprüfen, gerät die Legitimität der gesellschaftspolitischen Ziele in Bedrängnis. Damit wird der demographische Wandel dazu genutzt, einen bisher geltenden gesellschaftlichen und politischen Grundkonsens in Frage zu stellen.
So schnell und geräuschlos, wie von Cordula Tutt
prognostiziert, wird der Abschied von der Auffassung, wonach unter
"Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen" weitgehend gleiche
bzw. gleichförmige Lebensumstände verstanden werden,
nicht vonstatten gehen: Diese Auslegung repräsentiert
augenscheinlich noch immer den gesellschaftlichen Grundkonsens, wie
Gleichwertigkeit praktisch umzusetzen ist. Das bekam Horst
Köhler überaus deutlich zu spüren, als er wenige
Monate nach seinem Amtsantritt in einem Focus-Interview zu
Protokoll gab: Es "gibt nun einmal überall in der Republik
große Unterschiede in den Lebensverhältnissen. Das geht
von Nord nach Süd wie von West nach Ost. Wer sie einebnen
will, zementiert den Subventionsstaat ... Wir müssen weg vom
Subventionsstaat."
Mit diesen knappen
Ausführungen löste er binnen kurzem eine Welle
großen Widerspruchs aus, in deren Verlauf sich abzeichnete,
dass - obwohl sich die Lebensverhältnisse, insbesondere die in
den peripheren ländlichen Gegenden Ostdeutschlands von denen
in den boomenden süddeutschen Regionen, beobachtbar immer
weiter voneinander entfernen - dies keineswegs von einem
veränderten Grundkonsens getragen wird. Vielmehr scheint die
Auffassung, dass Gleichwertigkeit gegeben ist, wenn weitgehende
Gleichheit bzw. Gleichförmigkeit hergestellt ist, fest
verankert zu sein.
Leicht fällt der Abschied von diesem Verständnis schon
deshalb nicht, weil weitgehend offen ist, was an die Stelle von
Gleichwertigkeit als Gleichheit treten könnte. So unterstrich
Matthias Platzeck in seiner Regierungserklärung vom 27.Oktober
2004, dass "das Ziel allen politischen Handelns (sein) muss und es
wird, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse
sicherzustellen". Aber die "Menschen wissen längst", "dass
ihnen im ländlichen Raum natürlich einiges zugemutet
wird: Längere Wege".
Nur längere Wege zu Schule,
Krankenhaus, Schwimmbad und Kindergarten, Arbeits- und
Ausbildungsplatz, aber ansonsten die gleichen Lebens- und
Verwirklichungschancen? Dies scheint schwer vorstellbar. So zeigt
die hohe Abwanderungsrate insbesondere von jungen und gut
ausgebildeten Personen aus peripheren ländlichen Regionen,
dass ein ausgedünntes Angebot an sozialer, ökonomischer
und technischer Infrastruktur nicht nur quantitative, sondern
offenbar auch qualitative Folgen hat.
Wenn dies stimmt, worauf einiges hindeutet, dann kann auf die
Frage, was "Gleichwertigkeit" jenseits von Gleichheit meint, nicht
lapidar mit "längere Wege" geantwortet und einer Antwort auf
diese Weise geradezu ausgewichen werden. Genau dies geschieht aber
aktuell, denn bislang wird kaum und nur äußerst leise
darüber politisch debattiert, welche Folgen die quantitative
Reduzierung der Infrastruktur auf noch zu definierende,
"gegebenenfalls räumlich differenzierte Mindeststandards"
haben wird.
Stattdessen ist zu beobachten, dass
in vielen politischen Absichtserklärungen das Problem, woran
Gleichwertigkeit gemessen werden kann, wenn nicht an Gleichheit und
Gleichförmigkeit, geradezu bewusst in der Schwebe gehalten
wird, um erwartbaren Widerstand gegen eine andere Auslegung zu
vermeiden.
Neuinterpretation des Gleichwertigkeitspostulats
Dass eine solche Debatte dringlich geführt werden muss,
haben beispielsweise die Autoren des Diskussionspapiers "Leitbilder
und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in
Deutschland" angemahnt, welches imSeptember 2005 vom
Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW),
dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordung (BBR) und vom
Büro für Angewandte Geographie (BFAG) herausgegeben
wurde. Es geht darum, die "Neuinterpretation des
Gleichwertigkeitspostulats" voranzutreiben: eine Interpretation,
die Gleichwertigkeit weder als Gleichheit noch als Einebnung aller
Unterschiede begreift und berücksichtigt, dass das
"Gleichwertigkeitsziel ... sich auch nicht auf alle Lebensbereiche
(bezieht)".
Eine neue Auslegung von Gleichwertigkeit
könnte einerseits als neuer gesellschaftlicher und politischer
Grundkonsens fungieren und andererseits in die praktische Politik -
insbesondere die Regional- und die raumplanerische Politik -
eingehen. Bevor eine solche Debatte eröffnet wird, ist es
hilfreich, sich zunächst nochmals zu vergegenwärtigen,
auf welchem Fundament der bisherige Grundkonsens sowie die
vergangene und gegenwärtige praktische Politik
fußen.
Um herauszufinden, worauf die Interpretation der "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" als Gleichheit oder Gleichförmigkeit basiert, sind verschiedenste wissenschaftliche Zugänge möglich: etwa politische Ideenlehren, philosophische Kommentierungen, juristische Auslegungen oder andere Herleitungen. Allerdings handelt es sich dabei um vorwiegend normative Quellen, die beileibe nicht wiedergeben, was in der sozialen und politischen Praxis darunter begriffen wird - was empirisch gilt. Um sich dies zu vergegenwärtigen, empfiehlt es sich, sich auf die "Ungleichheitssoziologie" als empirische Wissenschaft zu beziehen. Dafür spricht zudem, dass die Auffassungen von gleichwertigen Lebensverhältnissen ähnlich wie die Vorstellungen von sozialer Gleichheit bzw. Ungleichheit letztendlich auf dem Postulat sozialer Gerechtigkeit basieren. Hinter beiden schwingt somit die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit mit. Deshalb ist zu fragen, wie diese "operationalisiert" wird; welche Lebensumstände als sozial ungerecht - weil ungleich oder ungleichwertig - eingestuft werden.
Gerechtigkeitsmaß
Betrachtet man unter dieser Prämisse die
Ungleichheitssoziologie, fällt auf, dass die Mehrzahl der
populären Ungleichheitsmodelle
(z.B. Klasse, Schicht, Milieu) die
statistisch messbare Gleichverteilung von erstrebenswerten
Gütern und Ressourcen als Gerechtigkeitsmaß heranziehen,
um das Ausmaß sozialer Ungleichheit zu bestimmen. Wenn alle
ungleichheitsrelevanten Güter, Ressourcen, Rechte und Anrechte
insoweit gleich verteilt sind, dass sich aus den bestehenden
Unterschieden keine extreme Bevor- bzw. Benachteiligung ergibt,
dann wird dies als sozial gerecht eingestuft. Auf ähnliche
Weise wird bestimmt, welche Lebensverhältnisse als prinzipiell
gleichwertig anzusehen sind. Dabei wird geprüft, ob in allen
Teilräumen quantifizierte Sollwerte bei der infrastrukturellen
Ausstattung und bei den Lebens- und Arbeitsbedingungen erreicht
sind. Auch hier wird somit Gleichverteilung als
Gerechtigkeitsmaß verwendet. Der Unterschied besteht darin,
dass das eine Mal Gleichverteilung vertikal - sprich entlang der
Achse der Sozialstruktur - erfasst und das andere Mal horizontal -
bezogen auf das nationale Territorium - bestimmt wird. Im ersten
Fall geht es um einen gerechten Ausgleich innerhalb der
Sozialstruktur, im zweiten Fall um einen gerechten Ausgleich
zwischen prosperierenden Gebieten und wenig entwickelten Regionen.
Es handelt sich somit um zwei
Ausprägungen von sozialer Gerechtigkeit: eine
sozialstrukturelle und eine räumliche. Sie beziehen sich auf
zwei unterschiedliche soziale Bezugseinheiten: auf die
sozialstrukturell gegliederte Gesellschaft, und zwar in allen ihren
Abstufungen von arm bis reich, und auf alle geographischen
Teilräume des Territorialstaats vom Bodensee bis
Ücker-Randow. Die Bezugseinheiten bilden jeweils eine
"Gerechtigkeitsgemeinschaft",
insofern jeweils dasselbe
Gerechtigkeitsmaß auf alle Mitglieder bzw. Teile der
Gemeinschaft angewendet wird und sie sich untereinander zu einem
gewissen Ausgleich von Unterschieden bereit erklärt bzw.
verpflichtet haben. Wird Gleichwertigkeit als Angleichung der
Lebensverhältnisse verstanden, dann reicht der Ausgleich sehr
weit. Dies ist aber nicht notwendig, damit der Ausgleich seine
soziale Funktion erfüllt, eine "Gerechtigkeitsgemeinschaft" zu
repräsentieren.
Soziale und räumliche Ordnung
Ausgleich meint aber nicht unbedingt Angleichung; entscheidend
ist, dass die soziale Ordnung bzw. der Gesamtraum (der
Bundesrepublik Deutschland) gesichert werden. Georg Simmel hat dies
am Beispiel der Armenunterstützung veranschaulicht. Diese
erfolgt im "Interesse der Gesellschaftstotalität", da sie dazu
dient, "extreme Erscheinungen der sozialen Differenziertheit so
abzumildern", dass die Sozialstruktur "weiter auf sich ruhen kann".
Damit trägt sie zum "Erhaltung der gesellschaftlichen
Totalität" bei.
Aus gesellschaftlicher Sicht ist
somit nicht das Ziel der Armenunterstützung, soziale
Ungleichheiten zu beheben oder weitgehend auszugleichen. Vielmehr
soll sie die Menschen am untersten Rand, die aus der bestehenden
Sozialstruktur mit all ihren Ungleichheitsausprägungen
herauszufallen drohen oder die bereits herausgefallen sind,
(wieder) integrieren. Mit dieser Form der sozialen Integration
bestätigt und festigt die "Gerechtigkeitsgemeinschaft" ihren
Zusammenhalt in der Vertikalen: also die hierarchische soziale
Ordnung.
Durch die Abmilderung räumlicher Ungleichgewichte, die zwischen den einzelnen Gebieten stattfindet, welche den Gesamtraum bilden, beweist die "Gerechtigkeitsgemeinschaft" ihre teilräumliche Zusammengehörigkeit in der Horizontalen. Auf diese Weise stellt sie eine gegliederte räumliche Ordnung her - eine territoriale Integration. Auch hier gilt, dass es zu deren Herstellung nicht notwendig ist, die Verschiedenartigkeit der Teilräume in Gleichförmigkeit zu überführen, wohl aber extreme Unterschiede in den Lebensverhältnissen abzubauen sind. Diese werden oft als "Zurückgebliebenheit" qualifiziert. Die Reduktion räumlicher Ungleichgewichte zielt somit darauf, die "entwickelten Lebensverhältnisse" in alle Teilräume auszudehnen.
In der Qualifizierung der Lebensverhältnisse als "zurückgeblieben" ist enthalten, dass die Unterschiede in den Lebensumständen - beispielsweise großstädtische oder ländliche - nicht als Nebeneinander von Verschiedenartigkeit, sondern als Hintereinander von Entwicklungsstufen - also als Ungleichzeitigkeit - beschrieben werden. Darin ist klar der Anspruch inbegriffen, dass sich alle Teilräume in eine bestimmte Richtung zu entwickeln haben. Insofern bedeutet räumliche Integration nicht nur die Bestätigung der territorialen Zusammengehörigkeit, sondern auch das Recht wie die Verpflichtung, am selben Entwicklungsprozess teilzunehmen. So sollten nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl in West- als auch in Ostdeutschland die Prozesse der Industrialisierung und Modernisierung in alle Landstriche getragen werden, unabhängig davon, ob sie nah oder fern der Trassen der großen Produktionsstandorte oder des "großstädtischen Geisteslebens" lagen.
Damit ist ein weiteres Merkmal der "Gerechtigkeitsgemeinschaft" angesprochen: Diese kann sich auf die Gegenwart beziehen und ihr Gerechtigkeitsmaß aus dem aktuellen räumlichen Vergleich gewinnen, oder sie bezieht die Lebensverhältnisse künftiger Generationen mit ein und verantwortet diesen gegenüber ihr Gerechtigkeitsmaß. Im ersten Fall beschränkt sich das Gerechtigkeitsmaß auf die derzeit räumlich verfügbaren Ressourcen und Zugänge, wobei indirekt unterstellt wird, dass sich deren Höhe und Größe geradezu direkt von der Vergangenheit herleiten. Hierbei überwiegt die räumlich gleiche bzw. gleichförmige gegenüber der zeitlichen Verteilung, weil das Gerechtigkeitsmaß gegenwartsorientiert ist. Die Erwartung einer "nachholenden Modernisierung" - das Aufschließen "zurückgebliebener" an die entwickelten Regionen - setzt auf Gleichverteilung in der Gegenwart. Entsprechend gilt die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als gesichert, sofern die vorhandenen Güter und Zugänge innerhalb der "territorialen Gerechtigkeitsgemeinschaft" weitgehend gleichmäßig verteilt sind. Die oben vorgestellten Gleichungen - x Güter oder y Zugangschancen pro 1 000 Einwohner - sollen dies garantieren.
Im zweiten Fall wird die unbekannte Zukunft in die Bestimmung
des Gerechtigkeitsmaßes mit einbezogen, wobei davon
ausgegangen wird, dass in der Gegenwart Handlungsalternativen
vorliegen und auf die Zukunft mittels Entscheidungen eingewirkt
werden kann.
Daraus ergibt sich ein Primat der
zeitlichen Verteilung, weil "mehr auf den (künftigen) Nutzen
der anstehenden Entscheidungen" geachtet wird. Bezogen auf
"gleichwertige Lebensverhältnisse" bedeutet das, diese in der
Gegenwart so einzurichten, dass Gerechtigkeit auch für
zukünftige Generationen gesichert ist. Um "gleichwertige
Lebensverhältnisse" in die Zukunft zu projizieren, reichen
einfache Gleichungen mit festem Nenner (Anzahl von Menschen) und
Zähler (Input an Infrastruktur) nicht aus. Dazu ist es
notwendig, Verschiedenartiges zuzulassen und vor allem die
Differenz als gleichberechtigt anzuerkennen.
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse
Nicht nur das Eingangszitat, ebenso die Neufassung des Artikels
72 Absatz 2 GG im Jahr 1994 wie auch die Novellierung des
Raumordnungsgesetzes von 1997 zeigen, dass die bisherige Fassung
von Gleichwertigkeit als Gleichverteilung, Angleichung oder
weitgehender Ausgleich zumindest teilweise aufgegeben und eine
andere Auslegung nahe gelegt wird. Andererseits scheinen die
Neuauslegungen des Gleichwertigkeitspostulats sich (noch) nicht zu
einem neuen, einen daraufhin angepassten Grundkonsens zu formieren.
Dies zeigte sich etwa in der scharfen Ablehnung von Horst
Köhlers Intervention zu diesem Thema. Auch repräsentative
Befragungen belegen dies. So stimmten bei einer Sonderumfrage des
"Sozio-ökonomischen Panels" im Jahr 2003 rund zwei Drittel der
Befragten "voll" bzw. "eher" dem Statement zu, "soziale
Gerechtigkeit" bedeute, "dass alle Bürger die gleichen
Lebensbedingungen haben ... - rund zwei Drittel gaben damit eine
Präferenz für (mehr) Gleichheit zu erkennen".
Wie bereits angedeutet, berufen sich viele, auch Journalisten,
Wissenschaftler und Politiker, wenn sie gleiche Lebensbedingungen
einklagen oder in Aussicht stellen, auf die grundgesetzliche
Formulierung "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im
Bundesgebiet" (Art. 72 Abs. 2 GG) und leiten davon staatlich
legitimierte Forderungen an die Garantie bestimmter
Lebensumstände ab.
Welche Verpflichtung enthält
diese Formulierung aber tatsächlich? Der Artikel 72 GG ist
Bestandteil des Staatsorganisationsrechts und regelt gemeinsam mit
weiteren Bestimmungen in den Artikeln 70ff. GG das Verhältnis
zwischen dem Bund und den Ländern.
Er räumt dem Bund
gegenüber den Ländern ein Gesetzgebungsrecht ein, wenn
und soweit das geplante Gesetz zur Herstellung gleichwertiger
Lebensverhältnisse eine bundesgesetzliche Regelung
erforderlich macht. Somit regelt er primär die
gesetzgeberische Zuständigkeit, nimmt den Bund aber nicht in
die Pflicht, tatsächlich "gleichwertige
Lebensverhältnisse" - was immer darunter zu verstehen ist - zu
realisieren. Vielmehr handelt es sich um eine Begründung, auf
die der Bund zugreifen kann, um ausnahmsweise sein
Gesetzgebungsrecht zu begründen.
Nicht nur die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse", auch die "Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse" kann eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich machen - ebenfalls in Artikel 72 Absatz 2 GG geregelt.
In diesen größeren Kontext gestellt, wird deutlich,
dass dieser Absatz - soziologisch betrachtet - in erster Linie der
territorialen Integration dient. Was gleichwertige
Lebensverhältnisse sind, darüber gibt das Grundgesetz
keine konkrete Auskunft, auch nicht, was zu den
Lebensverhältnissen gehört, sieht man von den vier
Aufgaben ab, die explizit benannt werden: Hochschulbau, regionale
Wirtschaftsstruktur, Agrarstruktur und Küstenschutz.
Dass gleichwertig nicht identisch,
gleichförmig oder einheitlich meint, kann jedoch indirekt
erschlossen werden, und zwar aus der Neufassung des Artikels 72
Absatz 2 GG im Jahr 1994. Damals wurde die Formulierung "Wahrung
der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" durch die uns
bekannte ersetzt. Einheitlichkeit verlangt im Vergleich zu
Gleichwertigkeit weit mehr nach Gleichheit und
Gleichförmigkeit. Dieser Anspruch wurde mit der Neufassung
relativiert und so der Auslegungsspielraum erweitert:
Gleichwertigkeit kann als Gleichverteilung, aber ebenso als
gleichgestellt, gegenseitige Anerkennung von Differenz,
vergleichbare Lebensumstände oder auf eine noch nicht
entwickelte Weise verstanden werden.
Weiterhin wurde in der Neufassung von 1994 das Wort "Wahrung" durch "Herstellung" ersetzt. "Wahrung" zielt auf Erhalt und Sicherung und konzentriert sich auf die Gegenwart. "Herstellung" meint einen dynamischen Prozess, schließt die Zukunft mit ein und trägt auf, das Anrecht künftiger Generationen auf "gleichwertige Lebensverhältnisse" zu berücksichtigen. Gemäß den obigen Ausführungen über die Zeitdimension impliziert dies, einzukalkulieren, dass künftige räumliche Gerechtigkeitsmaße zu einer anderen Definition von Gleichwertigkeit als heute üblich führen können.
Nachhaltige Raumentwicklung
Eine sehr ähnliche Veränderung hat die Novellierung des Raumordnungsgesetzes (ROG) von 1998 gebracht. Dieses Gesetz regelt auf Bundesebene, dass für den "Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland" und "seine Teilräume" Raumordnungspläne aufzustellen, "raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen" aufeinander abzustimmen sind, "Vorsorge" für einzelne Raumfunktionen und Raumnutzungen zu treffen ist etc. Abermals soziologisch betrachtet, enthält es Anleitungen dafür, wie die und welche räumliche Ordnung herzustellen ist. Mit der Novellierung von 1998 wurde insbesondere das Leitbild für die Raumordnung neu bestimmt. Es lautet nun "nachhaltige Raumentwicklung". In mehreren nachgeordneten Teilzielen, die ebenfalls neu gefasst, aufgenommen und angeordnet wurden, wird präzisiert, was unter einer solchen Entwicklung zu verstehen ist. Dabei fällt in Bezug auf das Teilziel "gleichwertige Lebensverhältnisse" auf, dass dieses von Platz vier auf Platz sechs durchgereicht wurde. Die Teilziele "Standortvoraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklungen zu schaffen" und "die prägende Vielfalt in allen Teilräumen herzustellen" belegen jetzt die Plätze vier und fünf. Weiterhin - vergleichbar der Neufassung des Artikels 72 Absatz 2 GG - wurde die Einbeziehung der Zukunft durchgesetzt. "Gleichwertige Lebensverhältnisse" sind nun in allen Teilräumen herzustellen, während in der Fassung des ROG von 1991 "gleichwertige Lebensbedingungen" in allen Teilräumen geboten oder herbeigeführt werden sollten. Schaut man die Liste der Begriffe durch, mit denen präzisiert wird, welches Gerechtigkeitsmaß zugrunde gelegt wird, dann stößt man auf folgenden Formulierungen: ausgewogene Verhältnisse, angemessene Ausstattung, Sicherstellung der Grundversorgung etc.
Noch deutlicher ist die Abkehr von Gleichwertigkeit als
Gleichheit, Gleichverteilung oder Gleichförmigkeit in dem oben
bereits erwähnten Diskussionspapier "Leitbilder und
Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland".
Dort wird dafür plädiert, dass künftig nicht mehr
"die Sicherstellung der Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse in den Teilräumen" Priorität hat,
sondern der "Erhalt der Vielfalt der Städte und Landschaften"
in den Vordergrund zu rücken ist. Konkret hieße dies, nicht mehr nach
"pauschaler Gleichartigkeit" zu streben, den "Anspruch auf gleiche
und undifferenzierte Förderung und auf Nivellierung"
zurückzuweisen und ebenso die "pauschale Verpflichtung des
Staates zum Ausgleich" aufzugeben,
sich stattdessen auf Mindeststandards bei der
Daseinsvorsorge zu beschränken, die Standards für die
Erreichbarkeit abzusenken und vor allem gesellschaftliche und
politische Zustimmung dafür zu schaffen, dass es künftig
eine größere Unterschiedlichkeit bei den
Lebensverhältnissen geben wird.
Gleichwertigkeit jenseits von Gleichheit und Angleichung
Kehren wir zur Ausgangsfrage danach zurück, was Gleichwertigkeit jenseits von Gleichheit und Angleichung meinen könnte. In den drei skizzierten Dokumenten zeichnen sich zwei Auslegungsrichtungen ab. Erstens: weniger Gleichverteilung bzw. Gleichförmigkeit. Die Diskussion um Mindest- oder räumlich differenzierte Standards sowie eine zeitlich und räumlich verringerte Erreichbarkeit gehört zu dieser Richtung. Zweitens: künftigen Ansprüchen und Sichtweisen bereits in der Gegenwart Geltung zu verschaffen. In dieser Debatte wird für eine "nachhaltige Raumentwicklung" plädiert, und es werden die Anrechte künftiger Generationen in das gegenwärtige Verständnis von Gleichwertigkeit integriert.
Die erste Richtung ist bereits sehr nah an der praktischen
Umsetzung; so werden in peripheren ländlichen Regionen
Kindergärten geschlossen, Schulen zusammengelegt, der
öffentliche Nahverkehr zusammengestrichen etc. Wie dagegen
erreicht werden kann, sich von den gegenwärtigen Auffassungen
von Gleichwertigkeit zu lösen und diese so zu öffnen,
dass Zukunft als Entscheidung gedacht wird und Spielräume
für Variabilität in den Lebensverhältnissen
entstehen, ohne dass die "neuen" Auffassungen das Risiko in sich
tragen, von künftigen Entwicklungen abgehängt zu werden,
scheint noch weitgehend offen.
Dies wäre aber die
Voraussetzung dafür, dass die bisherigen Institutionen, die
zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse herangezogen
werden, in ihrer aktuellen Verfasstheit zur Disposition gestellt
werden können, etwa Verkehrs-, Ent- und
Versorgungssysteme.
Gelänge dies, dann würde sich enthüllen, dass diese Institutionen auf die Industriegesellschaft und den Wohlfahrtsstaat abgestimmt sind, dass sie Ergebnis und Ausdruck der für diese Epoche der Gesellschaft typischen "Gerechtigkeitsgemeinschaften" sind - den industriellen und wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsvertrag in die Praxis übersetzen. Für die sich entwickelnde Wissensgesellschaft und eine sich alters- und größenmäßig wandelnde Gesellschaft sind sie vermutlich nicht tragfähig; welche es sein könnten, zeichnet sich noch nicht ab. Genauso wenig ist erkennbar, ob und welche neuen "Gerechtigkeitsgemeinschaften" sich konstituieren werden. Bis dahin sollte die Debatte um gleichwertige Lebensverhältnisse ihren Orientierungsschwerpunkt auf die "unbekannte Zukunft" legen und offen sein für Alternativen. Dies gelingt am besten, wenn sie sich für die Anerkennung der Gleichberechtigung von Differenz einsetzt.
Wenn gleichwertig nicht mehr gleich meint, ist dies jedoch kein Anlass dafür, die in dieser Auslegung enthaltenen gesellschaftspolitischen Ziele - zum Beispiel Bildungspartizipation, optimale Gesundheitsversorgung - aufzugeben. Sie bestehen davon unabhängig weiter.