Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 / 18.09.2006

Wer nicht wählen geht, wählt doch

Interview mit Niedersachsens Landtagspräsident Jürgen Gansäuer (CDU)

Das Parlament        Stephan Weil, der neu gewählte Oberbürgermeister von Hannover glaubt, dass das komplizierte Wahlsystem des Panaschierens und Kumulierens ein Grund für die schlechte Beteiligung bei der Kommunalwahl ist. In Hannover hatten die Wähler elf Stimmen zu vergeben. Er hat vorgeschlagen, das kommunale Wahlrecht radikal zu vereinfachen und jedem Wähler nur eine Stimme zu geben. Herr Gansäuer, glauben Sie, dass sich dadurch die Wahlbeteiligung verbessern würde?

Jürgen Gansäuer         Nein. Eine Diskussion über das Kommunalwahlrecht trifft die Sache nicht. Mit der Frage, ob elf Kreuze für den Wähler zuviel sind, wird nur wieder ein Nebenkriegsschauplatz eröffnet. Wir müssen doch nicht über die Wähler nachdenken, die bereits in der Kabine stehen, sondern vor allem über die, die gar nicht erst hingehen. Für die schlechte Wahlbeteiligung gibt es tiefere Ursachen.

Das Parlament        Welche?

Jürgen Gansäuer         Es gibt zum Beispiel eine veränderte Wertorientierung. Ich glaube, dass die meisten Menschen unser Wahlrecht nicht mehr zu schätzen wissen. Sie erkennen darin nicht mehr den Wert der Freiheit, sondern sie verknüpfen Demokratie ausschließlich mit Wohlstand. Solange die Wohlstandserwartungen erfüllt werden, ist die Wahlbeteiligung hoch, werden sie enttäuscht, bleiben die Menschen aus Frustration zu Hause.

Das Parlament        Sehen Sie die geringe Wahlbeteiligung auch in einem Defizit an politischer Bildung begründet?

Jürgen Gansäuer         Ja, auch.

Das Parlament        Wie könnte man die politische Kultur verbessern?

Jürgen Gansäuer         Da hat jeder sein Päckchen zu tragen. Natürlich liegt ein großer Teil der Verantwortung bei der Politik selbst. Aber nicht nur. Ich meine, dass auch Bildungseinrichtungen wie Schulen und Unversitäten sich wieder verstärkt um politische Bildung bemühen müssen. Und wir müssen auch mal offen über die Rolle der Medien reden. In auflagenstarken Blättern wird oft völlig überzogen über die Verfehlungen in der Politik berichtet, aber niemals wird darüber berichtet, dass die Mehrheit der Politiker bemüht ist, sich für die Menschen einzusetzen und zwar oft auf Kosten der eigenen Freizeit und des Familienlebens. Das kommt in der öffentlichen Beurteilung überhaupt nicht vor. Stattdessen entsteht durch eine permanente Negativdarstellung ein Zerrbild von Politikern, die nur als Abzocker hingestellt werden.

Das Parlament        Und welches ist das Päckchen, das die Politiker zu verantowrten haben?

Jürgen Gansäuer         Also zunächst sollte sich jeder Politiker anständig benehmen, das ist mal das Mindeste. Und dann sollte man endlich aufhören mit der Versprechungswut vor den Wahlen. Die hat es auch bei dieser niedersächsischen Kommunalwahl wieder gegeben. Da werden Dinge versprochen, die nie gehalten werden können, weil klar ist, dass die Kassen absolut leer sind. Dadurch fühlen sich die Menschen nachher enttäuscht und gehen das nächste Mal nicht mehr hin.

Das Parlament        Die SPD schlägt vor, die Bürger stärker an politischen Prozessen zu beteiligen, um ihr Interesse an Kommunalpolitik zu wecken, zum Beispiel durch Volksbefragungen. Was halten Sie davon?

Jürgen Gansäuer         Davon halte ich gar nichts. Wir haben enge Kontakte zum Kanton Bern, wo das bereits praktiziert wird. Dort können Sie sehen, dass das Land vor lauter Volksbefragungen kaum noch regierbar ist. Wir müssen unser System nicht ändern. Wir haben eine stabile Verfassung, die historisch begründet ist. Es fehlt uns nur das Bewusstsein dafür. Wir müssen wieder lernen, zu unserer Demokratie zu stehen und den Nichtwählern klarmachen: Wer nicht wählen geht, wählt doch.

Das Parlament        Glauben Sie, dass die Wahlbeteiligung auch in Zukunft weiter zurückgeht?

Jürgen Gansäuer         Die Wahlbeteiligung sinkt seit mindestens 15 Jahren kontinuierlich. Und nach jeder Wahl wird darüber diskutiert und von allen Seiten werden wieder neue Vorschläge gemacht, wie man etwas ändern kann. Niemand aber betreibt ernsthafte Ursachenforschung oder diskutiert das Phänomen nachhaltig und wissenschaftlich, und deshalb wird auch nach dieser Wahl wohl wenig passieren.

 

Die Fragen stellte Kirsten Burckschat.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.