Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 / 18.09.2006
Sebastian Hille

20 Sekunden für die Ewigkeit

Benedikt XVI. in Regensburg: der Gast zu Hause
Die Frau ist außer Atem, schnappt nach Luft. Klick. Dann rennt sie weiter. "Was tut man nicht alles, um den Papst zu sehen!", sagt sie hastig, fast ein wenig überrascht über sich selbst. Mit schnellen Schritten, den Zeigefinger stets am Auslöser der Digitalkamera, rennt Ilona quer über das Islinger Feld dem Papamobil hinterher. Der Spurt hat sich gelohnt, findet die Mittfünfzigerin. Am hinteren Ende der Wiese hat sie ihn "ganz nah" erwischt.

Hier, schau mal." Sie streckt ihrer Tochter die Digitalkamera entgegen. Auf dem Mini-Bilschirm ist ein verwackeltes Video zu sehen, darauf unzählige hastende Papst-Fotografen und -Filmer. Die Authenzität des direkt Erlebten. Es geht um den Moment, den einen großen Augenblick: Dabei gewesen zu sein. Auch wenn man, wie Ilona sagt, nicht "übermäßig katholisch" ist. "Jetzt bin ich da, gleich kommt er", sagt sie während das Video weiter läuft. Und dann ist er plötzlich im Bild. Zwischen den Hinterköpfen schiebt sich das weiße Papamobil mit dem Glaskubus über das Display. Papst Benedikt, ganz in Weiß mit rotem Schultertuch, grüßt und winkt, lächelt der Masse zu. "So unscharf ist das gar nicht", freut sich Ilona. Für einen winzigen Moment könnte man gar den Eindruck haben, als lächle der Heilige Vater eigens in Ilonas Objektiv. Es sind 20 Sekunden für die digitale Ewigkeit. Der Papst steht jetzt mitten auf dem Islinger Feld, einer riesigen Wiese im Süden der Regensburger Innenstadt, direkt neben der A3. "Papstwiese" nennen die Menschen das Areal nun ehrfürchtig. Und Ilona grübelt. "Ich weiß auch nicht, warum man möglichst nah ran muss", sagt sie. "Man muss einfach. Das ist ein Phänomen." Messdiener mit wehenden Gewändern Zweifellos, der Papst ist ein Ereignis. Eines, dass auch die Messdiener, insgesamt sind 15.000 gekommen, ergriffen hat. Sie rennen mit wehenden Gewändern hinter dem Papamobil her - so gut das eben geht zwischen Großbildleinwänden, Notfallzelten, Sanitätswagen und Abertausenden von Gläubigen. Das Phänomen hatte bereits am Montagabend endgültig Rrrregenschburg, wie man hier sagt, überwältigt. Schon seit Wochen und Monaten gebe es kaum ein anderes Thema, erzählen die Leute. Der Regensburger Papst kommt nach Regensburg, in seine Heimat. Denn hierhin war Ratzinger 1969 gezogen, um den Dogmatik-Lehrstuhl der neu gegründeten Universität zu übernehmen. Hier im Dom hat er viele Messen gelesen, und oftmals war er mit seinem Bruder, dem früheren Domkapellmeister und Leiter der "Regensburger Domspatzen" im nahen Bischofshof Weißwurst essen. Schon nachmittags um drei geht an diesem Tag in der Regensburger Altstadt nichts mehr. Das Grün der Polizeiuniformen dominiert das Bild. Die Fahnen und Fähnchen in den Vatikanfarben gelb und weiß, die an an Hausfronten und in Blumenkübeln flattern, sind da nur noch kleine bunte Tupfer. Hundertschaften aus Hessen und Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Berlin und Baden-Württemberg sind nach Bayern geordert worden, um für die Sicherheit des Kirchenoberhaupts und der Pilger zu sorgen. Momentan bedeutet Sicherheit vor allem Absperrgitter - kilometerlang auf beiden Straßenseiten. Ein Großteil steht bereits seit Tagen, letzte Abschnitte werden gerade noch aufgestellt. Weniger hektisch geht es am Papst-Devotionalien-Stand gegenüber der Königsapotheke zu. Einige Menschen stöbern in den Auslagen: Handfahnen für 4 Euro, Benedikt-Kalendar für 15 Euro. Stolz sagt die blonde Verkäuferin im Pilger-T-Shirt: "Ganz exklusiv, die kommen erst im nächsten Monat in den Handel." Und schon hastet der Blick der Andenkensammler weiter über das päpstliche Merchandising-Sortiment: T-Shirts, Plaketten und Miniweihwasserfläschchen mit Papstkonterfei. Immerhin, man kann sich einen kurzen Moment mit dem Spruch auf den weißen Basecaps besinnen: "Wer glaubt, ist nicht allein." Das "Exklusivste" aber wird auf einem Beistelltisch feil geboten: Original Papst-Rosenkränze in schwarz und silber, Auflage 7.500 Stück. Eingraviert ist das Datum des Papst-Besuchs, dazu gibt es ein Echtheitszertifikat mit Seriennummer. Doch sie sind nicht der Verkaufsschlager. Der absolute Renner sind Fahnen. Darin gleicht der Papstbesuch der WM. Wie viele sich damit eingedeckt haben, zeigt sich einige Stunden später. Seit dem Nachmittag waren die Menschen in die Stadt geströmt, hatten sich einen Platz direkt am Absperrgitter reserviert. Mittlerweile ist es nach sieben, viele warten seit Stunden. Die Beine werden schwer. Vier Damen klappen einen Hocker auf. Reihum wird sich abgewechselt. "Gestern war ich schon den ganzen Tag am Fernsehen dabei. Wenn schon ein Regensburger Papst in seine Heimatstadt kommt, kann man schließlich nicht zu Hause bleiben", sagt eine der Frauen in sauberem Oberpfälzisch. Kirche gehört hier zum Leben, übertreiben will man es aber auch nicht gleich. In die Messe will sie nicht gehen. So viel Live-Papst braucht sie nicht. "Daheim ist es doch viel gemütlicher." Auf der Großbildleinwand Neben ihr steht eine Mutter mit ihrem achtjährigen Sohn, der gelangweilt am Absperrgitter lehnt. Mit dem Papst kann der Bursche nicht wirklich viel anfangen. Auf die Frage, ob er ihn denn erkennen würde, antwortet er: "Jo, das is a olter Mann mit na Kappen." Gelächter bei den Umstehenden. Die Mutter schaut etwas pikiert. Beifall brandet auf. Erst verhalten, dann fast stürmisch. Es ist kurz vor acht. Bis jetzt war die Stimmung so gemütlich wie die Regensburger Altstadt. Nun ist der Hubschrauber des Papstes auf der Großbildleinwand zu sehen. Die Domglocken läuten. Der Hubschrauber setzt auf. Benedikt ist nur noch wenige Meter vom Domplatz enfernt. "Gleich ist es so weit", ruft ein Vater seinen beiden Söhnen zu. "Der Moment, auf den wir alle so sehnlich warten." Eine junge Fähnchen wedelnde Frau mit Flagge als Umhang wird plötzlich ganz huldvoll: "Das Oberhaupt der Kirche leibhaftig sehen - hier bei uns in Regensburg. Das ist etwas ganz Besonderes." Dann ist er da. Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Glocken, Klatschen, Kreischen. 28.000 Menschen jubeln. Benedikt grüßt. "Wahnsinn!" sagt der Vater, fast etwas ungläubig, während er so heftig in die Hände klatscht, dass es weh tun muss. "Man kann sich dem einfach nicht entziehen." Der Papst biegt um die Ecke, verschwindet aus dem Blickfeld. Binnen Sekunden ist vorbei, worauf alle Stunden lang gewartet haben. "Das war es . . .!" Die junge Frau mit dem Fahnenumhang, gerade eben noch gefangen von der Magie des Moments, guckt kurz ein wenig betreten und sagt dann ungefragt: Nein, nein enttäuscht sei sie nicht. Es sei vielmehr "herrlich", "ergreifend", eben "etwas ganz Besonderes" gewesen, versichert sie. Und man glaubt ihr, als sie sagt: "Ich hatte eine Gänsehaut." Eine Stunde später zeugen lediglich die kilometerlangen Absperrgitter von dem "Jahrtausendereignis" in der Altstadt. Kuscheln und Quatschen Am kommenden Tag wird gleichwohl mit neuen Superlativen gebetet: Auf das Islinger Feld sind rund 220.000 Gläubige gekommen, die sich fast auf dem gigantischen Areal zu verlieren scheinen. In Erwartung eines viel größeren Ansturms haben einige bereits die Nacht über dort campiert. Die große Schar der Pilger kommt jedoch am Morgen vor Sonnenaufgang. Ausgerüstet mit Isomatte, Decken, Käsebroten und Thermoskanne warten sie auf die Sonne und den Papst. Sie wollen ihn sehen, hören, die Messe feiern. Man liegt, kuschelt, quatscht, liest die Pilgerzeitung und wartet. "Es ist eigenartig: Es ist zwar schon Kirche, aber man liegt hier im Gras und sonnt sich." Dann endlich, die Sonne war schon lange aufgegangen, ertönt plötzlich wie im Gladiatorenfilm eine Bläserfanfare. Die Menschen schrecken auf. Der Papst kommt. Über das Feld weht der Song der Papstreise: "Wer glaubt, ist nicht allein." Ruhe kehrt ein. Die Messe eint die Pilger. Als der Papst das Wort an die Gemeinde richtet, legt sich eine konzentrierte Stimmung über das Islinger Feld. Menschen, die gerade noch im Gras lagen, stehen auf, andere legen die Stulle aus der Hand, recken den Hals, spitzen buchstäblich die Ohren. Der Papst spricht von der Bedeutung des Glaubens, von einer Grundentscheidung für Gott. Benedikt hebt die Stimme, wird lauter: "Die Sache mit dem Menschen geht nicht auf ohne Gott, und die Sache mit der Welt, dem ganzen Universum, geht nicht auf ohne ihn." Das sind Sätze, auf die das Pilgervolk wartet. Eindringlich und eingängig, findet sie Ilona während eine Beifallswelle über die Wiese schwappt. "Der Glaube will uns nicht Angst machen, aber er will uns zur Verantwortung rufen", verkündet Benedikt kraftvoll. "Das ist es, was diesen Papst ausmacht: Er bringt komplizierte Zusammenhänge auf einen klar verständlichen Nenner", flüstert eine Frau. "Und schauen Sie mal, wie die Menschen ihm zuhören. Hundertausende sind plötzlich mucksmäuschen still. Das ist doch ein Phänomen."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.