26. Sitzung
Berlin, Freitag, den 17. März 2006
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich, wünsche Ihnen einen guten Tag und uns gute Beratungen.
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, dass in der Haushaltswoche vom 27. März, wie üblich, keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und keine Aktuellen Stunden stattfinden sollen. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden. - Jedenfalls höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
zum Europäischen Rat am 23./24. März 2006 in Brüssel
Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sich in der kommenden Woche die europäischen Staats- und Regierungschefs zum Frühjahrsgipfel zusammenfinden, dann geschieht das in Zeiten für Europa, die, gelinde gesagt, keine ganz einfachen Zeiten sind. Es gibt - Sie wissen das - bei vielen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes ein diffuses Unbehagen gegenüber der EU. Die Gründe dafür - Sie wissen es alle - sind komplex. Zu den Ursachen dieser Vertrauenskrise gehört ganz sicher auch die Sorge vor den negativen Folgen der Globalisierung. Mehr und mehr fürchten Bürgerinnen und Bürger, Opfer der für viele beunruhigenden Veränderungen zu sein. Die EU wird dazu von vielen auch noch als Vehikel angesehen, das den Druck des globalen Wettbewerbs auf sie erhöht.
Diese Befürchtungen müssen wir ernst nehmen. Wir müssen uns mit ihnen auseinander setzen. Ich glaube, die Reflexionsphase, die sich die Europäische Union verordnet hat, werden wir nicht nur dazu nutzen müssen, den Weg für einen neuen Anlauf in der Verfassungsfrage zu ebnen; wir werden vielmehr auch darüber nachzudenken haben, wie wir den Menschen wieder das Gefühl geben, in einer Gemeinschaft zu leben, die ihnen langfristig Wohlstand und soziale Sicherheit garantiert.
Die EU ist nicht und darf nie nur Resonanzboden und Verstärker für den Druck der Globalisierung sein, sondern sie muss unsere europäische Antwort auf die weltpolitischen Veränderungen sein, deren Zeugen wir sind. Sie ist das Instrument, das uns am besten auf die Härten des internationalen Wettbewerbs vorbereiten kann. Die EU hilft uns, auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben, und zwar durch eine möglichst kohärente Außenpolitik, durch eine zunehmend vernetzte Innenpolitik und durch eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftliche Solidarität zu einem fairen Ausgleich bringt.
Das ist die feste Überzeugung dieser Bundesregierung. Deshalb wird sie alles daran setzen, der Bevölkerung erneut den großen politischen und wirtschaftlichen Mehrwert der Europäischen Union für unser Land zu vermitteln. Denn es ist entscheidend - ich sagte es zu Anfang -, das Vertrauen der Bevölkerung in das Zukunftspotenzial dieser Europäischen Union zurückzugewinnen.
Die Europäische Union - das ist das Merkwürdige - ist heute ein Vorbild für viele Regionen in der Welt. Sie bringt Vorteile, die für alle spürbar sind. Ich erinnere an Bewegungs-, Reise- und Niederlassungsfreiheit. Das alles ist für uns inzwischen eine Selbstverständlichkeit.
Ich nenne aber auch die Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung, bei der Kooperation der Strafverfolgungsbehörden, der Polizeien und der Staatsanwaltschaften. Hier hat die EU in den letzten Jahren insgesamt viel an Schlagkraft gewonnen.
Ich darf bei alldem an die finanziellen Leistungen erinnern, die die EU etwa aus dem Bereich der Strukturpolitik für die neuen Länder erbringen konnte und erbringen wird: 36 Milliarden Euro seit der deutschen Einheit und für die nächsten sieben Jahre - trotz der knappen Haushalte, die uns bevorstehen - immerhin noch 13 Milliarden Euro aus dem Strukturfonds für die ostdeutschen Länder.
Förderung von Wachstum und Beschäftigung, das ist das zentrale Thema in der Debatte um die EU und es ist - aus meiner Sicht: Gott sei Dank - auch das zentrale Thema des kommenden Frühjahrsgipfels.
Wie Sie wissen, verschreibt sich der Frühjahrsgipfel seit einigen Jahren dem Thema Lissabonstrategie. Nun will ich nicht verschweigen, dass die Ansichten über die bisherigen Erfolge der Lissabonstrategie durchaus auseinander gehen. Diese Strategie hat sicher manche Schwächen. Ganz sicher gibt es Bereiche, in denen wir uns alle schon jetzt schnellere Fortschritte gewünscht hätten.
Aber niemand bezweifelt - auch das gehört zur ganzen Wahrheit - die eminente Bedeutung der Lissabonstrategie für die Zukunft Europas. Deshalb ist es aus meiner Sicht gut und wichtig, dass sich die europäischen Regierungschefs dieser Frage am 23. und 24. März in Brüssel erneut annehmen.
Sie wissen es: Die neue Bundesregierung hat wenige Tage nach Amtsantritt das nationale Reformprogramm nach Brüssel übermittelt. Basierend auf der Koalitionsvereinbarung skizziert es unser Modernisierungsprogramm für eine effiziente, eine zukunftsorientierte, eine soziale Marktwirtschaft. Wir freuen uns darüber, dass dieses Zukunftsprogramm in Brüssel positiv aufgenommen worden ist. Das bestärkt uns in dem Kurs, den wir mit der Koalitionsvereinbarung eingeschlagen haben.
Für uns ist völlig klar, dass der nächste Zeitabschnitt vor allen Dingen der Umsetzung dieser Strategie zu widmen ist. Wir sind froh darüber, dass der Europäische Rat vier Handlungsfelder als vorrangig identifizieren wird - so ist vorauszusehen -: erstens höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung, zweitens die Verbesserung der Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeit, vor allen Dingen für KMUs, drittens die Verbesserung der Beschäftigungschancen vorrangiger Zielgruppen, junger Menschen, Alter und Frauen, viertens die Energiepolitik.
Wir können das alles vorbehaltlos begrüßen, weil all diese Themen mit dem Kernbestand der Themen in unserer Regierungsvereinbarung übereinstimmen. Wir werden - das wissen Sie - 6 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung in den nächsten Jahren zusätzlich zur Verfügung stellen. Es ist und bleibt unser Ziel, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben.
Aber es wäre zu wenig, diese Anstrengungen auf das nationale Haushaltsgebaren zu beschränken. Wir drängen auch darauf, dass die Europäische Union in der Rubrik Wettbewerbsfähigkeit für Forschung und Entwicklung in den Jahren zwischen 2007 und 2013 50 Milliarden Euro ausgibt. Ich glaube, das ist mehr als eine nur kleinliche Ergänzung unserer nationalen Anstrengungen.
Was den Bereich „Arbeitsmarkt, Wachstum und insbesondere Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft“ angeht, haben wir erste Schritte gemacht. Wir haben ein zentrales Informationssystem für Unternehmensgründer auf den Weg gebracht. Wir haben die Absetzbarkeit haushaltsnaher Dienstleistungen deutlich erweitert. Wir werden heute im Laufe der parlamentarischen Beratung der weiteren Tagesordnungspunkte noch darüber sprechen. Wir stützen gerade mit diesen Maßnahmen kleine und Kleinstunternehmen im Servicebereich.
Wir haben nach dem Beschluss des Kabinetts mit dem Ausbau der Kinderbetreuung die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert. Wir werden bis 2010 230 000 zusätzliche Plätze für Kinder unter drei Jahren bereitstellen können.
Die Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten ist verbessert worden. Mittelfristig werden wir uns mit dem Elterngeld an sehr positiven skandinavischen Erfahrungen, insbesondere schwedischen Erfahrungen, orientieren.
Konzepte für besondere Gruppen des Arbeitsmarkts, von den Beschäftigten im Niedriglohnsektor bis zu den älteren Arbeitnehmern, sind auf dem Weg. Auch darüber wird das Parlament heute im weiteren Verlauf noch diskutieren.
Ein Bereich ist mir besonders wichtig, der Bereich Energie. Das ist eines unserer Kernanliegen. Bei Energieeffizienz, Energieforschung und erneuerbaren Energien haben wir in Deutschland - ich glaube, das dürfen wir hier sagen - viel geleistet. Der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung liegt jetzt schon bei über 10 Prozent.
- Sie vergessen ja auch sonst das eine oder andere, was Sie entschieden haben, Frau Künast.
Wir haben mit dem Energieforschungsprogramm „Innovation und neue Energietechnologien“ neue Schwerpunkte gesetzt.
Frau Künast - das sage ich aber nicht nur an Sie gerichtet -, wir stärken Deutschland als innovativen Standort für Umwelttechnologien. Wir sind mit 19 Prozent am Weltmarkt bereits deutlich führend. Es kommt vor allem darauf an, dass wir das auch bleiben.
Die Botschaft, die von dem EU-Gipfel ausgehen muss, ist: Wir brauchen Europa, um Globalisierung politisch gestalten zu können. Das heißt, dass wir innerhalb der Europäischen Union Rahmenbedingungen schaffen müssen, um Wachstum und Beschäftigung zu ermöglichen.
Das heißt aber auch - damit komme ich zu einem nächsten Punkt -, dass wir auf die drängenden Fragen, die sich aus der Globalisierung stellen, Antworten finden müssen, die sozial austariert sind. Ich glaube, dass sie nur so von der Bevölkerung tatsächlich auch akzeptiert werden.
Das ist nicht nur unser Verständnis. Ich bin froh darüber, dass sich das mittlerweile auch in den europäischen Institutionen durchsetzt, etwa am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie. Der im Europäischen Parlament gefundene Kompromiss berücksichtigt sowohl soziale wie auch wirtschaftliche Aspekte. Die Bundesregierung begrüßt diese Entscheidung ausdrücklich. Klar ist auch: Ein Kompromiss im Rat zu diesem Thema wird nur dann erzielt werden können, wenn sich sowohl die Mitgliedstaaten wie auch die Kommission an diesem Ergebnis orientieren. Dazu kann ich allen Beteiligten nur raten.
Ich habe vorhin schon angedeutet: Energie und Energiesicherheit werden vermutlich nicht nur auf dem nächsten Europäischen Rat wichtige Themen sein. Wir sehen das in der Tat auch als ein zentrales Anliegen der internationalen Politik. Ganz sicher geht es dabei vorrangig um die Versorgung Europas mit Energie, um Versorgungssicherheit also. Uns muss es dabei aber auch um Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit gehen. Wir haben am vergangenen Mittwoch mit der Vorbereitung des Energiegipfels im Kabinett den Startschuss für ein energiepolitisches Gesamtkonzept gegeben. Ich darf Ihnen versprechen, dass wir dieses im kommenden Jahr auch verabschieden werden.
Wir sind davon überzeugt: Energiepolitik und Energieproblematik sind nicht nur von größter wirtschaftlicher und umweltpolitischer Relevanz; sie entwickeln sich auch weltweit zu einem zentralen Thema der Außen- und Sicherheitspolitik. Der jüngste Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine hat uns ein bisschen Vorgeschmack auf das gegeben, was uns erwarten könnte, wenn es uns nicht gelingt, das hier schlummernde Konfliktpotenzial einzuhegen und zum Gegenstand verantwortlicher und vor allem kooperativ ausgerichteter Politik zu machen.
Wir müssen in der EU ganz sicher unsere gemeinsamen Interessen an der Energiepolitik formulieren und überlegen, wie wir sie zukünftig nach außen vertreten. Ich halte gleichwohl wenig von der Idee, dass wir uns zu einer Art Zusammenschluss energiepolitischer Habenichtse zusammenfinden, und zwar gegen diejenigen, die über Energievorräte verfügen.
Aus meiner Sicht geht es im Augenblick vielmehr darum, Überlegungen anzustellen, wie gemeinsame außenpolitische Ansätze in Energiefragen entwickelt werden können. Ausgangspunkt dabei ist die bestehende gegenseitige Abhängigkeit der Förder-, Transit- und, wie wir es sind, Verbraucherländer. Mit anderen Worten: Nur ein integrativer Ansatz, nur ein intensiver Dialog zwischen den Verbraucherländern, den Förderländern und den Transitländern - das ist ein wichtiges Anliegen, das mit Anstrengungen verbunden sein wird - verspricht Erfolg.
Deshalb müssen wir den Dialog mit Russland, mit Norwegen, wo ich nächste Woche sein und über dieses Thema reden werde, aber auch mit den nordafrikanischen Lieferländern und den Golfstaaten führen.
Ich bin mir sicher und weiß das auch aus meiner früheren Tätigkeit: Diese Zusammenarbeit wird auf Dauer keine Einbahnstraße sein. Gerade Länder wie Russland brauchen Hilfe bei der Steigerung der Energieeffizienz, der Energieforschung und beim Ausbau erneuerbarer Energien. Weil es dabei letztlich auch für unser Land um Exportchancen geht, benötigen wir einen intensiven Dialog mit unseren Unternehmen, gerade mit den Unternehmen des innovativen Mittelstands, ganz im Sinne der von uns geplanten Innovationsoffensive „Energie für Deutschland“, mit der wir - ich sagte es vorhin - bei den modernen Energietechnologien Weltspitze bleiben wollen.
Letzter Satz zu diesem Thema. Der Energierat der Europäischen Union hat am vergangenen Dienstag Schlüsselbereiche, wie es dort heißt, für eine neue europäische Energiepolitik identifiziert. Sie werden jetzt dem Europäischen Rat vorgelegt. Wir können sehr zufrieden sein, weil unsere Kernanliegen dort sämtlich aufgenommen sind. Dazu gehört ausdrücklich, dass jeder Mitgliedstaat weiterhin über seine Gestaltung des Energiemixes bestimmen wird. Auf der Grundlage dieser Schlüsselbereiche wird der Europäische Rat seine Arbeitsaufträge an die Kommission erteilen.
Meine Damen und Herren, so weit mit einigen wenigen Anstrichen zu dem, was auf dem Frühjahrsgipfel im Bereich Binnenmarkt vor der Tür steht. Wir, auch die Regierungschefs, werden uns natürlich nicht allein auf diese Themen beschränken können. Die vielen internationalen Krisen, über die wir miteinander zu reden haben, werden ebenfalls die Tagesordnung des Frühjahrsgipfels bestimmen, naturgemäß beginnend mit der größten Sorge, die uns umtreibt: dem iranischen Nuklearprogramm, das eine Herausforderung nicht nur für das Nichtverbreitungsregime ist, sondern auch für die Sicherheit und Stabilität des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Wir werden innerhalb der Europäischen Union ganz sicher gemeinsam weiterhin darauf setzen, hier tatkräftig und kreativ an diplomatischen Lösungen zu arbeiten.
Das nächste Thema, das auf dem Frühjahrsgipfel noch nicht zur Entscheidung ansteht, aber kurz nach der Regierungsbildung in den palästinensischen Gebieten, ist die Lage nach der Wahl dort. Ich darf Ihnen sagen, dass wir mit Präsident Abbas und der israelischen Führung in engstem Kontakt stehen. In den letzten Tagen haben wir, nachdem auch die EU sich dazu geäußert hat, beide Seiten dazu aufgerufen, Deeskalation zu betreiben und die Gewalt ruhen zu lassen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass der Friedensprozess überhaupt eine Chance hat. Aber angesichts des Wahlergebnisses werden wir nach der jetzt abzusehenden Regierungsbildung und der Vorstellung des Regierungsprogramms natürlich eine Neubewertung unseres künftigen Verhältnisses zur palästinensischen Regierung vorzunehmen haben.
Ich will nicht verheimlichen, dass wir von unseren Voraussetzungen, die wir in den letzten Tagen und Wochen immer wieder genannt haben, kaum werden Abstand nehmen können. Dazu gehört als zentrale Bedingung der Gewaltverzicht. Keine Regierung der Welt darf sich eine Option auf den Terror offen halten.
Wir erwarten ebenfalls, dass die Grundlagen, die in den letzten Jahren zwischen der palästinensischen Seite und der israelischen Regierung für die Überwindung des Konfliktes geschaffen wurden, auch von der zukünftigen palästinensischen Regierung respektiert werden. Es ist völlig klar, dass das Existenzrecht Israels nicht infrage gestellt werden darf.
Ich komme zu einem letzten Punkt der internationalen Politik, der uns gestern in einer gemeinsamen Sitzung von Auswärtigem Ausschuss und Verteidigungsausschuss beschäftigt hat. Die mögliche europäische Operation im Kongo beschäftigt die Öffentlichkeit; sie beschäftigt die Regierung und sie wird auch das Parlament beschäftigen. Ich darf sagen, dass die Europäische Union innerhalb des Kongo in den vergangenen Jahren stark an Profil gewonnen hat, weil sie der wichtigste Partner in dieser schwierigen Phase des Übergangs geworden ist. Ich will hinzufügen, dass uns der Kongo schon deshalb nicht gleichgültig sein kann, weil die Entwicklung in der Region der Großen Seen - neben dem Kongo gehören dazu auch Burundi, Ruanda und andere Länder, die in den letzten Jahren schon Stabilisierungsprozesse hinter sich gebracht haben - für Afrika insgesamt entscheidend sein wird.
Ich kann verstehen, dass viele sagen, der Friedensprozess im Kongo sei zu langsam verlaufen. Trotzdem muss man feststellen, dass er stattgefunden hat: das Referendum über die Verfassung, die Verabschiedung des Wahlgesetzes und die Aufstellung der Wahllisten. Nach 45 Jahren wird es jetzt zum ersten Mal im Kongo eine Wahl geben. Das ist der Hintergrund für die Anfrage der Vereinten Nationen, ob die Europäische Union hier durch militärische Präsenz helfen kann, diesen Stabilisierungsprozess abzusichern.
Wir haben unsere Voraussetzungen dafür genannt: ein klares Mandat der Vereinten Nationen, eine ausreichende Beteiligung der anderen europäischen Partner sowie eine klare zeitliche und räumliche Begrenzung. Wir haben gestern festgestellt, dass die Bereitschaft anderer europäischer Staaten für eine Beteiligung - jedenfalls informell - bei Solana angezeigt worden ist. Kollege Jung wird kommenden Montag die Partner zu einer Planungskonferenz einladen. Ich darf sagen: Wenn dort eine faire Lastenverteilung vereinbart wird, dann steht der Weg für Bundesregierung und Bundestag offen, zu entscheiden, ob und in welcher Form wir uns an diesem Einsatz beteiligen werden. Ich will meine Meinung nicht verheimlichen, dass wir uns einer solchen gemeinsamen, arbeitsteiligen europäischen Anstrengung nicht verweigern können, wenn die Voraussetzungen, die wir genannt haben, erfüllt sind.
Abschließend möchte ich sagen, dass die Vorbereitung auf unsere europäische Ratspräsidentschaft läuft. Langsam wird absehbar, welche Aufgaben uns die Vorgängerpräsidentschaften hinterlassen. Wir werden für diese Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 eigene Akzente vorbereiten.
Am 25. März 2007 - also unter deutschem Ratsvorsitz; deshalb erwähne ich dieses Datum - jährt sich zum 50. Mal die Unterzeichnung der Römischen Verträge, der Geburtsurkunden der Europäischen Union. Ich glaube, dass uns dieses Datum Anlass bieten wird, die unbestrittene Erfolgsgeschichte der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa Revue passieren zu lassen. Ich darf daran erinnern, dass diese Zusammenarbeit uns allen 50 Jahre Stabilität, Wohlstand und Frieden garantiert hat. Deutschland wird sich dafür einsetzen, dass dies auch in den nächsten 50 Jahren so bleibt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die folgende Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. - Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Markus Löning für die FDP-Fraktion.
Markus Löning (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Außenminister, lassen Sie mich mit einem Thema beginnen, das Sie - ich finde, zu Recht und glücklicherweise - nicht erwähnt haben - es ist im Vorfeld von europäischen Räten oft ein Thema gewesen -: die Aufhebung des Waffenembargos gegenüber China. Ich muss sagen: Ich begrüße es im Namen meiner Fraktion außerordentlich, dass die Bundesregierung hier die Linie ihrer Vorgängerregierung verlassen hat und Sie, Herr Außenminister, im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger deutliche Ansagen gemacht haben. Es ist wichtig, dass das Waffenembargo gegenüber China bestehen bleibt.
Wir hatten gerade gestern eine Kollegin aus Taiwan - sie ist Mitglied des taiwanesischen Parlamentes - zu Gast. Sie hat geschildert, was es für die Menschen in Taiwan, die für Demokratie in ihrem Land gekämpft haben, bedeutet, dass das Waffenembargo gegenüber China bestehen bleibt. An dieser Stelle haben Sie immer die Unterstützung der FDP-Fraktion.
Einen weiteren Punkt möchte ich als Vorbemerkung kurz ansprechen: Wenn ich mit unseren europäischen Freunden gerade aus den kleinen Ländern der EU spreche, dann ist festzustellen, dass es auch hier eine Korrektur der Politik der Bundesregierung im Vergleich zu ihrer Vorgängerregierung gibt: Der Ton gegenüber den Partnern hat sich geändert. Der Ton ist anders geworden. Er ist moderater geworden. Es wird nicht mehr von Achsen, sondern von Partnerschaften geredet. Es wird von Offenheit gesprochen und es wird mit den kleinen Ländern geredet. Das halten wir für richtig. Wir unterstützen ausdrücklich, dass hier die Fehler der Vorgängerregierung korrigiert worden sind.
Lassen Sie mich zum Thema Lissabonstrategie, dem Hauptpunkt des Frühjahrsgipfels, einiges sagen. Wenn man sich den Entwurf des Schlussdokuments anschaut, kommt man zu dem Ergebnis: Darin steht sehr viel Richtiges. Aber mir stellen sich in diesem Zusammenhang folgende Fragen: Ist es richtig, dass dies auf dieser Ebene gemacht wird? Ist es richtig, wenn die EU in dieser Detailtiefe Vorgaben für die Wirtschaftspolitik macht? Wäre es nicht sinnvoller, dass die EU sich erst einmal auf das konzentriert, was wichtig für sie ist und wofür sie die originäre Zuständigkeit hat? Wäre es nicht richtig, dass sie sich auf Fragen des Wettbewerbs im Binnenmarkt konzentriert? Da sind wir erfolgreich gewesen, weil die EU entsprechende Regelungen durchgesetzt hat.
Wäre es nicht wichtiger, dass die nationalen Regierungen ihre Hausaufgaben machen? Denn wir können zwar viele Programme auf EU-Ebene verabschieden. Es sind schöne Programme. Das meiste, was darin steht, ist richtig und wichtig und wird von mir unterstützt. Aber die Frage ist: Wann setzt diese Bundesregierung sie um? Wann wird das umgesetzt, was von den Partnern angemahnt wird? Ich würde mir wünschen, dass mehr auf nationaler Ebene gehandelt wird und nicht auf internationaler Ebene große Ankündigungen gemacht werden.
Wenn ich mit unseren Partnern rede, werde ich gefragt: Was ist mit der Mehrwertsteuererhöhung? Bei unseren europäischen Partnern gibt es erhebliche Bedenken. Sie fragen uns: Was macht diese Bundesregierung mit der Mehrwertsteuererhöhung? Es gibt Bedenken, dass eine solche Erhöhung die Geschwindigkeit des Wachstums in Deutschland und damit in der Eurozone erheblich verlangsamen wird.
Deutschland ist schon jetzt der Bremsklotz, was das Wachstum in der Eurozone angeht. Wir werden es nach der Erhöhung der Mehrwertsteuer umso mehr sein.
Herr Steinmeier, leider muss ich Ihnen widersprechen. Die Wirtschaftspolitik, die Sie skizziert haben, ist nun wahrlich nicht das, was man sich unter einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik vorstellt. Es waren schöne Aspekte dabei, aber nicht das, was wir brauchen, um dieses Land auf Wachstumskurs zu bringen. Sie haben weder die Steuerreform noch die Reformen der Sozialsysteme oder die Reform auf dem Arbeitsmarkt angesprochen. Dies sind die großen Themen, die wir angehen müssen, damit Deutschland wieder ein höheres Wachstum erfährt und wieder Motor des Wachstums in Europa sein kann. Diese Themen haben Sie umschifft. Von diesen Themen habe ich nichts gehört. Das ist es, was die Bundesregierung anpacken muss. Dann können wir auch auf europäischer Ebene Erfolg haben.
Ich fürchte mich vor einer Situation, in der auf europäischer Ebene Großes beschlossen, auf nationaler Ebene nicht gehandelt und anschließend mit dem Finger nach Brüssel gezeigt und gesagt wird: Seht, die Dinge in Brüssel nützen nichts! - Das führt zu Euroskeptizismus. Handeln Sie hier! Dann klappt es auch mit Europa wieder besser. Wir brauchen hier, in Deutschland, Wachstum.
Sie haben die Verfassung und die Zustimmung zu Europa angesprochen. Ich glaube, Europa braucht Erfolge. Wir können lange über die Verfassung diskutieren; diese Diskussionen sind teilweise sehr technisch. Was wir brauchen, ist: Wir müssen zeigen, dass Europa handlungsfähig ist, dass Europa, wenn seine Mitgliedstaaten gemeinsam handeln, Erfolg haben kann. Wir müssen zeigen, dass wir gemeinsam mehr erreichen können als einzeln. Das vermisse ich. Ich möchte, dass sich die EU auf das konzentriert, was sie wirklich kann. Dazu würde eine gemeinsame Außenpolitik gehören, zu der schon gute Schritte unternommen wurden.
Für den Bereich der Wirtschaftspolitik wäre zu nennen: Die EU sollte sich auf die Ermöglichung von Wettbewerb konzentrieren. Ich habe vermisst, dass Sie klare Worte zu der Diskussion um nationale Champions sagen. Es ist eine Kernaufgabe auf europäischer Ebene, dass wir in diesen Fragen klar Stellung beziehen, bevor wir uns zu Dingen äußern, die auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie an dieser Stelle die Rolle der Kommission und der EU insgesamt wesentlich deutlicher anmahnen. Da können wir Erfolge erzielen; da ist Europa immer erfolgreich für seine Bürger gewesen. Es erhöht die Akzeptanz Europas, wenn wir an dieser Stelle Erfolge vorweisen können.
Wir brauchen ohne Zweifel mehr politische Integration; wir brauchen mehr Vertiefung. Aber wir müssen die Vertiefung dort zum Tragen bringen, wo sie Erfolg bringt.
Eines dürfen wir in dieser Diskussion nicht aus den Augen verlieren: Europa hat immer davon profitiert, dass es Unterschiede gibt. In Europa hat sich Fortschritt oft daraus ergeben, dass es zwischen Modellen oder Ideen einen Wettbewerb gegeben hat, dass es auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung Wettbewerb gegeben hat, dass es aber auch dann, wenn es um politische Ideen oder Konzepte geht, Wettbewerb gegeben hat. Das dürfen wir bei der Diskussion über solche Dinge wie die Lissabonstrategie nicht vergessen. Wenn wir zu einer Nivellierung, zu einer Vereinheitlichung der Politiken kommen, gibt es diesen Wettbewerb nicht mehr. Dieser Wettbewerb innerhalb Europas ist immer ein Motor des Fortschritts gewesen; er muss aufrechterhalten werden. Nur so werden wir in Europa nach vorn kommen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion.
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum sechsten Mal in Folge steht die Frühjahrstagung des Europäischen Rates am 23. und 24. März dieses Jahres unter dem Zeichen der so genannten Lissabonstrategie. Die Europäische Union stellt damit klar, dass sie Wachstum und Beschäftigung in das Zentrum ihrer Politik stellen will. Ich denke, das ist ein richtiger, ja ein entscheidender Ansatz für die Europäische Union.
In diesem Jahr hat der erwähnte Europäische Rat eine besondere Bedeutung, denn vor fast genau einem Jahr wurde die Lissabonstrategie neu gestartet. Ein Neustart war dringend geboten, weil die Lissabonstrategie der EU auf dem besten Wege war, zu scheitern. Der bisherige so genannte Lissabon-prozess war nämlich alles andere als ein Ruhmesblatt für die Europäische Union.
Erinnern wir uns: Im Jahr 2000 beschlossen die Staats- und Regierungschefs ein Programm mit vielen Superlativen. Ich zitiere: Die Europäische Union soll bis zum Jahr 2010 zur „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten“ Wirtschaft der Welt werden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in China, den USA, in Asien und wo auch immer solche Sätze, die von europäischen Regierungschefs beschlossen worden sind, nicht einmal mehr als arrogant, sondern einfach nur als lächerlich aufgefasst werden. Es war eine überzogene Forderung, die nicht einlösbar war. Was dieser Erklärung folgte, war: Familienfotos der Staats- und Regierungschefs wurden gemacht, unzählige Fensterreden europäischer Politiker wurden gehalten und es wurde unsäglich viel Papier beschrieben. Allein, passiert ist fast nichts.
Im Jahr 2004 wurde unter Leitung von Wim Kok, dem ehemaligen niederländischen Ministerpräsidenten, eine Expertengruppe eingerichtet, die die Lissabonstrategie auf ihre Erfolge hin analysieren sollte.
Das Ergebnis dieser Analyse war erschütternd: Wirtschaft und Wachstum in der Europäischen Union waren im Betrachtungszeitraum eher rückläufig. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt wuchsen, insbesondere bei jungen und älteren Menschen sowie Frauen und die Popularität der europäischen Politik bei der Bevölkerung hat abgenommen.
In seiner Analyse des bisherigen Lissabonprozesses definierte Wim Kok im Wesentlichen zwei Kernursachen für das Scheitern: erstens das fehlende, auf jeden Fall nicht ausreichende Engagement der Mitgliedstaaten und zweitens eine unübersehbare Vielzahl sich widersprechender, auf verschiedenen Ratstagungen immer wiederholter und neu beschlossener Zieldefinitionen.
Wir müssen aus dieser Entwicklung zunächst eine entscheidende Erkenntnis ableiten: Die Europäische Union darf bei den Bürgern keine überzogenen Erwartungen wecken. So entscheidend es auch ist, dass Wachstum und Beschäftigung auf europäischer Ebene und auf allen nationalen Ebenen oberste Priorität haben, darf die Europäische Union nicht den Eindruck erwecken, als könne sie quasi wie eine Märchenfee alle Probleme wegzaubern. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in der Europäischen Union glaubt übrigens nicht an Märchen.
Solche Aktionen führen dazu - und das ist das eigentlich Schlimme -, dass bei den Menschen in Europa das Misstrauen und die Skepsis gegenüber europäischer Politik eher zunehmen als dass das entsteht, was wir brauchen, nämlich mehr Vertrauen und mehr Unterstützung in Europa.
Es war völlig richtig und entscheidend, dass die neue Kommission unter José Manuel Barroso im Jahr 2005 rasch und energisch das Ruder herumgerissen hat. Die neu ausgerichtete Lissabonstrategie hat gute Chancen, einen zentralen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa zu leisten. Nun liegt es nachprüfbar - das ist wichtig - in den Händen der Mitgliedstaaten - auch Deutschlands -, durch die Umsetzung der Strategie ihren eigenen Beitrag zu leisten.
Unsere Bundesregierung hat dazu einen ersten wichtigen Schritt getan. Die Bundesregierung hat das nationale Reformprogramm für den Zeitraum 2005 bis 2008 vorgelegt. Dabei hat sie drei Schwerpunkte gesetzt. Erstens: der Ausbau der Wissensgesellschaft und die Erhöhung der Dynamik des europäischen Binnenmarktes. Das ist eine wichtige Grundlage, um die Globalisierung aktiv als Chance nutzen zu können. Zweitens: die Ausweitung der Förderung von Innovation und Bildung, um technologischen Fortschritt in Deutschland voranzubringen. Drittens: die Bewältigung des Problems der großen demografischen Veränderungen - auch ein entscheidender Punkt, der uns im Übrigen noch viele Jahrzehnte beschäftigen wird - durch die zunehmende Alterung der Gesellschaft gerade auch bei uns in Deutschland. Damit verbunden ist die Abwendung der drohenden Verödung unserer ländlichen Räume. Gerade hierfür ist und bleibt die europäische Regional- und Strukturpolitik von ganz entscheidender Bedeutung.
Darüber hinaus hat - als deutsche Aufgabe - natürlich auch die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen eine herausragende Bedeutung. Wir werden sicherstellen, dass Deutschland im Jahr 2007 das Dreiprozentkriterium des Stabilitätspakts bei der Neuverschuldung wieder einhält und damit mittelfristig mehr haushaltspolitischer Spielraum für Wachstum und Beschäftigung zur Verfügung steht.
Der neue Ansatz der Lissabonstrategie ist vernünftig gewählt. Mittelfristig - davon bin ich überzeugt - wird dies substanzielle Verbesserungen für die Menschen in Europa bringen.
Trotzdem möchte ich die Aufmerksamkeit auf einige wachsende Konfliktpotenziale bei der Durchführung der Lissabonstrategie lenken. Der Europäische Rat wird in der nächsten Woche vier prioritäre Handlungsfelder für die Lissabonpolitik beschließen. Dazu zählen erstens höhere Investitionen für Forschung und Entwicklung - ein Anliegen, das wir mit der deutschen Politik vorantreiben -; zweitens Verbesserung der Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeit insbesondere - das ist ganz entscheidend - für kleine und mittlere Unternehmen, die es verstärkt in strukturschwachen Gegenden sowie im ländlichen Raum gibt; drittens Verbesserung der Beschäftigungschancen insbesondere für junge und ältere Arbeitnehmer sowie für Frauen; viertens die Energiepolitik.
Diese vier prioritären Ziele sind völlig richtig gewählt. Sie müssen aber auch im richtigen Kontext umgesetzt werden. Derzeit herrscht bei der Europäischen Kommission die Tendenz vor, das bisher vielfach mangelnde Engagement der Mitgliedstaaten durch zentrale Kontrolle zu fördern, geradezu durch Bevormundung zu ersetzen. Das ist nach meiner Überzeugung der falsche Weg. Für die konsequente und richtige Umsetzung ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Kommission die notwendige Weichenstellung vornimmt, um dadurch die Mitgliedstaaten anzuregen, die jeweilige nationale Politik auf die Ziele Wachstum und Beschäftigung auszurichten.
Ein Beispiel für die Gefahr von Fehlentwicklungen sehe ich in den gegenwärtigen Verhandlungen zu den Strukturfondsverordnungen. Der Europäische Rat hat im Dezember 2005 völlig zu Recht gefordert, den Einsatz der Strukturmittel in der kommenden Finanzierungsperiode stärker an den Lissabonzielen zu orientieren. Die Europäische Kommission ist aber im Moment dabei, diese grundsätzlich richtige Zielstellung zu nutzen, um - quasi durch die Hintertür - die Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten in zahlreichen Bereichen der Wirtschaftspolitik in unzulässiger Art und Weise einzuschränken. So ist die Kommission zum Beispiel der Auffassung, dass die klassische Unternehmensförderung durch Investitionszuschüsse in den Ziel-2-Gebieten angeblich nicht dem Ziel Wachstum und Beschäftigung dienen soll, also ausgeschlossen werden soll, wohingegen in den Ziel-1-Gebieten dasselbe Modell für die Durchführung der Lissabonstrategie nützlich sein soll.
Ich denke, das ist der falsche Weg. Ich halte das Bemühen der Bundesregierung für richtig, zu erreichen, dass auch für die Ziel-2-Gebiete - das sind vor allen Dingen strukturschwache Gebiete in den alten Mitgliedstaaten, in Deutschland also in den westdeutschen Ländern - die Möglichkeit von Investitionsförderungen bestehen bleiben soll.
Inwiefern davon Gebrauch gemacht wird, sollen die Mitgliedsländer und deren Gebietskörperschaften eigenverantwortlich entscheiden.
Auch besteht bei diesem so genannten Earmarking die Gefahr - der Beschluss des Europäischen Rates vom Dezember letzten Jahres war gut gemeint -, dass die bisherige Strategie der Europäischen Kommission zu einer zusätzlichen Bürokratisierung der Ausreichung von Strukturfondsmitteln führt. Die Europäische Kommission hat vor, zusätzlich zu allen Prüfmechanismen, die angewandt werden, bevor Strukturfondsmittel an die Mitgliedsländer ausgereicht werden, eine Prüfinstanz einzurichten, die einen so genannten Kennungsprozess einleitet, in dem geprüft wird, inwieweit bestimmte Mittel der Erreichung des Lissabonziels dienen.
Wenn das so genannte Earmarking - es ist gut gemeint und dem Grunde nach auch richtig - zu mehr Bürokratie, Komplexität und Kompliziertheit beim Einsatz europäischer Fördermittel im Bereich der Infrastruktur oder Sozialpolitik führt, dann erreichen wir genau das Gegenteil von dem, was wir brauchen. Wir brauchen nämlich weniger Bürokratie und mehr Eigenverantwortung.
Wir brauchen eine Lissabonstrategie, die erreichbare Ziele klar definiert und diese Ziele engagiert verfolgt. Wir werden Wachstum und Beschäftigung nur erreichen, wenn alle Akteure der nationalen und der europäischen Politik an einem Strang ziehen. Dabei ist es wichtig, dass wir auch das Forum des Deutschen Bundestages nutzen, um die Verzahnung von europäischer und nationaler Politik deutlich zu machen.
Gerade vor dem Hintergrund der Globalisierung der Weltwirtschaft und dem rasanten Wirtschaftswachstum, zum Beispiel in Indien und in China, müssen wir mehr denn je deutlich machen, dass die Völker und Staaten Europas nur gemeinsam erfolgreich sein werden.
Die Fraktion von CDU und CSU wird die Reforminitiativen der Bundesregierung im Rahmen der Lissabonstrategie aktiv begleiten und unterstützen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Die Linke.
Monika Knoche (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Herr Außenminister Steinmeier, Sie haben Ihre Rede zur Lissabonstrategie und dem EU-Gipfel damit begonnen, dass Sie gesagt haben: Die Menschen haben ein diffuses Unbehagen, was Lissabon angeht. Ich bin nicht der Meinung, dass die Menschen von ihrem Gefühl her dagegen sind. Aber sie haben mit der Lissabonner Strategie Erfahrungen gesammelt. Deshalb lehnen sie sie ab. Diese Ablehnung ist richtig.
Man kann den Menschen doch nicht vorenthalten, dass es sich in Gesamteuropa um ein konzertiertes Vorgehen handelt, wenn überall Arbeitsrechte und soziale Sicherungsstandards abgebaut werden. Das Ziel ist doch die Privatisierung aller sozialen Sicherungssysteme, um börsennotierten Aktienunternehmen Zuwächse zu verschaffen, die sich dann im Ergebnis als Arbeitsplatzabbau niederschlagen. Das ist doch die Realität, die die Menschen erfahren.
Die Ablehnung der Lissabonner Strategie zeigt doch - genauso wie die Arbeitskämpfe, die wir derzeit in Deutschland erleben -, dass der Abbau der sozialen Standards nichts mit Zugewinn an Freiheiten zu tun hat. Wir wollen ein freiheitliches Europa und für ein freiheitliches Europa ist es existenziell wichtig, dass die Menschen soziale Sicherheit haben.
Denn kollektive Rechte sind die Ausgangsbasis für individuelle, freie Entscheidungen im Blick auf die Lebensgestaltung. Alle diese Prozesse muss man doch zusammenfügen. Die Menschen sind nicht gefühlig dagegen, sondern sie haben ein politisches Bewusstsein,
das Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Hätten Sie es zur Kenntnis genommen, dann hätten Sie eine Abstimmung über die europäische Verfassung zugelassen. Doch das haben Sie nicht gemacht.
In der europäischen Verfassung sind sowohl das Lissabonner Konzept - in zusammengefasster Weise - als auch eine Militarisierung der europäischen Außenpolitik enthalten.
Bevor ich darauf zu sprechen komme, noch einen Satz: Ich habe sehr wohl verfolgt, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel gesagt hat: Es kommt darauf an, demnächst eine Debatte über unser Verständnis von Freiheitsbegriff zu führen. Ich sehe das in einem sehr engen Zusammenhang mit dem Abbau der Sozialsysteme und meine, eine Definition der Marktwirtschaft, die hinter die Definition der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards zurückfällt, kann doch nicht die Zukunft sein.
Der zweite Tagesordnungspunkt des Gipfels ist die Energiepolitik. Ich möchte in diesem Zusammenhang bewusst über die deutsche und europäische Außenpolitik sprechen. Wir haben uns vorgestern zu Beratungen im Auswärtigen Ausschuss und im Verteidigungsausschuss zusammengefunden. Wir haben dort erfahren, dass es tatsächlich das ernste Vorhaben Europas ist, im Kongo militärisch präsent zu sein. Niemand im Kongo will eine europäische Präsenz. Womöglich muss Solana noch hinfahren, um Kabila davon zu überzeugen, dass er europäische Hilfe braucht.
Nichts braucht der Kongo so wenig wie deutsche Soldaten. Die Menschen dort brauchen eine gute, unabhängige Polizei, sie brauchen eine Besoldung für ihr eigenes Militär und vor allen Dingen einen sehr langen Atem für Friedensbildungs- und Aussöhnungsprozesse. Aber sie brauchen keinesfalls deutsches und europäisches Militär vor Ort.
Warum tut Europa das? Bislang hieß es immer, die Bündnisverpflichtungen und die Ausrichtung der NATO sowie die transatlantischen Beziehungen seien für uns maßgeblich. Plötzlich spielt die NATO gar keine Rolle mehr. Es geht um eine europäische militarisierte Außenpolitik. Aber wenn es in diesem Fall zum Konflikt kommt, sollen die Truppen wieder zurückgezogen werden. Warum soll das Militär dann überhaupt dorthin? Die Fragen für mich lauten: Welche strategischen Absichten sind damit verbunden? Welche Gewöhnungseffekte für die Bevölkerung sollen bereits jetzt erzielt werden?
Ein weiterer Aspekt: Gestern Abend sah ich zu Hause in den Nachrichten, dass im Irak wieder gebombt wird. Das muss doch einen deutschen Außenminister veranlassen, dieses Geschehen in seiner Regierungserklärung mit einigen Worten zu verurteilen.
Dort findet ein Krieg um Ressourcen, ein Krieg um Öl statt. Es war von vornherein klar - jedenfalls für alle, die diesen Krieg abgelehnt haben -, dass es niemals zu einer Befriedung dieses Landes kommen kann, weil man mit militärischen Mitteln keinen Frieden schaffen und keine Demokratie herstellen kann. So sieht derzeit die Situation im Irak aus.
Dann muss ich auch noch hinsichtlich des hochsensiblen Bereichs der Iranpolitik beobachten, dass die EU 3 jetzt sozusagen eine Vortruppe gebildet haben, um es den US-Amerikanern zu ermöglichen, ihre Drohkulisse gegen den Iran aufzubauen. Das ist nicht die deutsche Beteiligung an einer europäischen konzertierten Außenpolitik, wie wir sie uns als Friedenspolitikerinnen und -politiker vorstellen. Das ist nicht das, was Deutschland in der Welt zeigen muss.
Bei aller Kritik am iranischen Staatspräsidenten ist doch offenkundig, dass der Iran nicht gegen den Atomwaffensperrvertrag verstößt. Aber sein Nachbarland Indien, das massiv dagegen verstoßen hat, kommt zu Vertragsabschlüssen mit den USA. Warum das Ganze? Steht das nicht doch im Zusammenhang damit, dass die einen die „Have“ und die anderen die „Have not“ sind?
Geht es nicht vielleicht darum, dass die Staaten, die einen großen Energiehunger zu befriedigen haben, sowohl über Atomkraftwerke als auch über Atombomben verfügen dürfen, während die Staaten, die produzieren und exportieren müssen, nicht die Souveränität über ihre Ressourcen behalten sollen?
Ist das nicht die eigentliche Energiefrage, um die es geht?
Ich will, dass die neue Regierung im Deutschen Bundestag - nicht für uns Abgeordnete, sondern für die Bevölkerung - deutlich macht, wie sie die Interessen Deutschlands definiert. Gehört die Energie - ähnlich wie in Polen, wo schon von einer Energie-NATO die Rede ist - zu unseren neuen Interessen, die in der Welt gesichert werden sollen? Wir müssen in Deutschland dringend eine Debatte darüber führen, worin die Interessen Deutschlands bestehen.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Kurt Bodewig, SPD-Fraktion.
Kurt Bodewig (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der letzte Redebeitrag verführt zu einer Anmerkung. Frau Kollegin Knoche, Zerrbilder, wie Sie sie gerade gezeichnet haben, leisten weder einen Beitrag zur politischen Kultur in Deutschland noch schaffen sie Sicherheit und Vertrauen bei den Menschen.
Eines will ich ganz klar sagen: Der Außenminister dieser Regierung hat in Kontinuität zur Vorgängerregierung immer deutlich gemacht, dass wir an friedlichen Lösungen interessiert sind: sowohl was den Irak betrifft als auch mit Blick auf das Bemühen der europäischen Staaten angesichts der atomaren Entwicklung im Iran. Das können Sie nicht leugnen. Hier stehen Sie übrigens in einer sehr unguten Tradition. Ich erinnere nur an den Besuch Ihres Parteivorsitzenden bei Miloševic. Sie können nicht einfach die realen Veränderungen in der Welt negieren und gleichzeitig diejenigen diffamieren, die versuchen, in einem internationalen Kontext friedliche Lösungen zu entwickeln. Das ist nicht seriös.
Ich will auf das Thema dieser Debatte zu sprechen kommen, die Lissabonstrategie. Der Philosoph Friedrich Nietzsche - ich stimme ihm nicht in allem und erst recht nicht per se zu; aber an diesem Satz ist viel Wahres - hat einmal gesagt: „Wir leben in einem System, in dem man entweder Rad sein muss oder unter die Räder gerät.“ Wir befinden uns in einem globalen Wettbewerb. Die Entwicklungen in der Welt haben große Bedeutung für unsere eigene Ökonomie und damit auch für die Zukunftschancen der Menschen, die in unserem Land und in ganz Europa leben.
In Staaten wie Indien, China oder Brasilien hat sich eine große Dynamik entwickelt. Diese Dynamik muss für uns und für ganz Europa als ein Zentrum der globalen Welt Ansporn sein. Es handelt sich hierbei aber auch um bedrohliche Entwicklungen - ich denke zum Beispiel an den Aufbau der Energiereserve in China und das Leerkaufen der Stahlmärkte -, die unbedingt europäischer Antworten bedürfen. Ich bin dem Außenminister sehr dankbar, dass er die Themen Versorgungssicherheit, Energieeffizienz und erneuerbare Energien sowie die Möglichkeiten, unsere Abhängigkeit von bestimmten Energieträgern zu beenden, angesprochen hat.
Ich glaube, dass diese Aspekte wichtig sind und dass wir in diesem Bereich vorankommen müssen.
Gleichzeitig will ich aber auch sagen: Es macht keinen Sinn, in Panik zu verfallen. Deutschland ist die Exportnation Nummer eins. In den Bereichen Wissenschaft und Wirtschaftsentwicklung haben wir große Kapazitäten. Es täte uns gut, wenn wir unser Land wieder etwas selbstbewusster betrachten würden, als es in manchen verzerrten Darstellungen und Auseinandersetzungen, auch und vor allem im Wahlkampf, geschieht.
Ich fand es richtig, dass Wim Kok die Lissabonstrategie genau analysiert und sie sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt hat. Sie ist ein wichtiges, großes und ehrgeiziges europäisches Projekt.
Es hat Rückschläge gegeben - unter anderem hat der 11. September 2001 zu einer veränderten internationalen Lage geführt -, aber darauf stellen wir uns ein.
An einer Stelle, lieber Michael Stübgen, möchte ich widersprechen: Ich glaube nach wie vor, dass es richtig ist, dass wir uns in Europa das Ziel setzen, der wissensbasierte Wirtschaftsraum, der wir sind, zu bleiben und ihn weiterzuentwickeln. Ich finde, dabei haben wir eine ganze Menge erreichen können. Wir müssen unsere Anstrengungen aber weiter verstärken, wie die nationalen Reformprogramme, die jetzt als Konsequenz aus dem Kok-Bericht gefordert sind, sehr deutlich machen. Wir sind dabei, die Reformschritte, die für unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit notwendig sind - ich erinnere an die Agenda 2010 -, zu realisieren, und man kann mittlerweile erkennen, dass die ersten Veränderungen wirksam werden. Ich kann allen nur empfehlen, den neuen OECD-Bericht zu lesen, in dem - das wissen wir aus Vorabveröffentlichungen - deutlich stehen wird, dass Deutschland einen Aufholprozess begonnen und große Fortschritte gemacht hat. Für die nahe Zukunft wird eine gute Aufstellung Europas prognostiziert. Das ist doch etwas.
Der Koalitionsvertrag dieser Koalition steht in Kontinuität mit den Reformen der Vergangenheit. Die Reformen zeigen jetzt Wirkung und sind von der Europäischen Kommission zu Recht positiv eingeschätzt worden. Ich finde, das lässt sich sehen und das sollten wir auch thematisieren.
Das Ziel der Lissabonstrategie, den Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit zu betonen, ist richtig. Dies muss auf allen Entwicklungsfeldern und Handlungsfeldern geschehen: Energiepolitik, Innovation, Technologieförderung, stärkere Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen und vieles mehr. Mit dem nationalen Reformprogramm geben wir hierauf die richtigen Antworten. So stellen wir für die Bildung bis 2009 13 Milliarden Euro zusätzlich bereit. Das ist wichtig und wird die Erfolge bringen, die wir brauchen. Gleichzeitig müssen wir die Qualität von Beschäftigung den demografischen Erfordernissen anpassen. Das ist eine große Aufgabe, die nicht immer einfach ist, der wir uns aber bewusst stellen. Populismus ist leicht, aber ernsthafte Politik auf diesem Gebiet ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für unsere Zukunftsfähigkeit.
Ich will aber auch sagen, Herr Löning: Wir werden Europa nicht nur über den Markt machen. Europa können wir nur mit den Menschen machen; wir müssen sie mitnehmen. Ich glaube, ein Grund für unseren Erfolg ist der soziale Frieden, die Gewissheit, teilzuhaben an den Erfolgen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Damit sind in Europa bestimmte Projekte verbunden. Ich nenne an dieser Stelle die Dienstleistungsrichtlinie. Es war ein großer Erfolg, dass die SPE und die EVP im Europäischen Parlament einen Kompromiss gefunden haben und das Herkunftslandprinzip als eine Bedrohung aus der Dienstleistungsrichtlinie herausgenommen wurde. Auch jetzt sollen fremde Anbieter Zugang zu den Dienstleistungsmärkten haben, aber nicht um den Preis des Sozialdumpings, der Absenkung von Standards. Der Wettbewerb muss vielmehr auf der Ebene innovativer Produkte stattfinden.
Deswegen habe ich Erwartungen an den Frühjahrsgipfel. „Flexicurity“, das Zusammenfügen der Flexibilität, die wir den Menschen abfordern, und der Gewissheit der Menschen, sozial abgesichert zu sein, wird ein Thema sein. Mobilität der Einzelnen darf kein Gegensatz zu sozialer Sicherheit sein. Beides muss miteinander verbunden werden. Aber auch für die sozialen Sicherungssysteme gilt, dass wir in einer flexibleren Welt leben.
Für mich ist wichtig, dass wir Investitionen thematisieren, zum Beispiel Investitionen in Bildung, in Weiterbildung, in lebenslanges Lernen, in Kinderbetreuung und Chancengleichheit, in erneuerbare Energien und Energieeffizienz, und den Fokus der Forschung auf die großen Zukunftsthemen richten. Europas Licht unter den Scheffel zu stellen, ist falsch. Es gibt große europäische Projekte: die transeuropäischen Netze oder das Technologieprojekt „Galileo“, das nur in Europa in dieser Konsequenz möglich war. Das zeigt: Europa hat Wirkung, wenn wir Europa ernst nehmen, wenn wir es fördern und wenn wir Europa als Entwicklungschance nicht nur für unser Land, sondern im Kontext aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union sehen.
Wir müssen Zukunftsprojekte auf die Tagesordnung setzen und die nationalen Reformprogramme der einzelnen Mitgliedstaaten mit den Schwerpunkten der europäischen Politik abstimmen. Die Energiepolitik ist ein Beispiel dafür. Wir brauchen keine Vergemeinschaftung der einzelnen Subjekte von Politik in der EU. Wir können auf europäischer Ebene die nationalen Anstrengungen im Bereich Energie miteinander koordinieren, wobei jedes Land seinen eigenen Energiemix entwickeln muss. Es war richtig, dass wir die erneuerbaren Energien gefördert haben. Zurzeit werden sie weltweit nachgefragt. Es war aber genauso wichtig, dass wir auch Technologieprozesse auf den Weg gebracht haben; denn diese zeigen jetzt Wirkung.
Abschließend möchte ich noch etwas sagen. Europa wird nicht funktionieren, wenn nur der wirtschaftsliberale Grundsatz gilt: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Europa wird nur funktionieren, wenn wir in gleichen Werten, aber auch in gleichen politischen Kontexten denken. Wenn uns das gelingt, dann kann Europa wieder ein Schwungrad werden für eine Entwicklung, die uns nach vorne bringt.
Wir haben guten Grund, der deutschen Regierung für den Wirtschaftsgipfel Vertrauen entgegenzubringen. Damit muss natürlich die Aufforderung verbunden sein, die Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit als Sicherung der Zukunft zukünftiger Generationen nicht aus dem Blick zu verlieren, aber gleichzeitig den Erhalt des Sozialmodells Europa sicherzustellen; denn das unterscheidet uns von anderen Zentren in der Welt. Das bedeutet Stärke und zugleich eine Chance für die Zukunft.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dem Regierungsgipfel in der nächsten Woche wird es um den Lissabonprozess gehen und damit um die Zukunft Europas. Wir hören aus der Bevölkerung häufig die Frage, was unter dem Lissabonprozess eigentlich zu verstehen ist. Man kann das ganz einfach formulieren. In einfaches Deutsch übersetzt, geht es um die Frage: In welchem Europa wollen wir leben?
Wie wir beim Scheitern der Abstimmung über den Verfassungsvertrag sehen konnten, stellen die Bürgerinnen und Bürger viele Fragen: Was tut die EU für mich und mein Leben? Schadet sie mir nur? Ist sie nur Antreiber in einem globalen Wettbewerb? - Dieses Gefühl haben viele im Augenblick. - Welche Zukunftschancen eröffnet die Europäische Union mir und meinen Kindern oder zahlen wir nur drauf? Wie und was produzieren wir eigentlich in Deutschland? Welche Dienstleistungen bieten wir an? Welche und wie viele Arbeitsplätze entstehen hier?
Das ist der Kern des Ganzen. Damit beschäftigen wir uns nicht nur heute in dieser Debatte, sondern das ganze Jahr über, und damit befasst sich die Regierung in der nächsten Woche auf dem Regierungsgipfel.
Ich glaube, dass die Bundesregierung nicht in allen Bereichen nur Positives dazu beiträgt. Die Mehrwertsteuererhöhung in der größten Volkswirtschaft in Europa zum Beispiel ist nicht gerade ein Beitrag, um bei der Verfolgung dieser Strategie weiterzukommen und die Konjunktur anzukurbeln.
Aber auch mit der Lissabonstrategie an sich haben wir, so wie sie gegenwärtig ausgestaltet ist, ein Problem. Ich hoffe, dass die Regierungschefinnen und -chefs sich dem in der nächsten Woche annehmen. Mit der Überarbeitung der Lissabonstrategie hat das Wachstumsziel - dabei geht es um Wachstum und Arbeit - Vorrang vor anderen Zielen bekommen. Die EU-Nachhaltigkeitsstrategie ist quasi abgetrennt worden und wird auf einem eigenen Gipfel im Juni dieses Jahres diskutiert. Bei der Nachhaltigkeitsstrategie handelt es sich zudem um eine Strategie, die nicht einmal klare Ziele enthält, deren Einhaltung man kontrollieren kann. Eine solche Strategie ist meines Erachtens nicht hinreichend; denn eigentlich gehören beide Prozesse zusammen. Man kann doch nicht ernsthaft der Meinung sein, man wolle in dieser Republik ein Wachstum, durch das mehr Ressourcen verbraucht werden. Eine Chance für Wachstum in Europa gibt es nur dann, wenn man sagt: Wir schaffen neue Arbeitsplätze, indem wir ganz gezielt in Umwelttechnologien, in Energieeinsparung und in Energieeffizienz investieren. - Damit könnte Europa weltweit führend sein.
Das ist die Antwort auf die Frage, wie wir leben wollen und welche Arbeitsplätze wir wollen. In diesem Bereich sind Arbeitsplätze zu halten bzw. im Rahmen der Umstrukturierungsprozesse sind neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Ich will als Beispiel den Bereich Windkraft nennen, der bisher, wenn wir darüber diskutiert haben, liebend gern veralbert wurde. Zurzeit besteht weltweit eine Knappheit an Windturbinen.
Aufgrund der Auftragslage sind Windkraftwerke bis Ende 2007 quasi ausverkauft. Sie sehen also: Deutschland und Europa müssen dort ein Prä haben; sie müssen in diesem Bereich technologisch vorne sein, weil das ein Zukunftsmarkt ist. An solchen Stellen gilt es weiterzudenken.
Unserer Auffassung nach muss sich die Regierung bei der Kommission dafür einsetzen, dass es eine integrierte Strategie für die Erreichung wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Ziele gibt. Das muss die deutsche Rolle sein.
Weil ich Herrn Kauder bis hier vorne höre, der beim Thema Windkraft schon wieder die Subventionen anspricht, sage ich Ihnen eines ganz klar: In dieser Republik und in ganz Europa werden so viele Subventionen gezahlt, an deren Sinn man ernsthaft zweifeln kann. Lassen Sie Deutschland eine treibende Kraft sein, die den Mut hat, Subventionen, die in die falsche Richtung gehen, infrage zu stellen und sich nach vorne zu bewegen.
Ich erinnere nur daran, dass Frau Merkel in Anlehnung an die Worte von Herrn Blair einmal gesagt hat, dass hier zu viel Agrar und zu wenig Zukunft ist. Ich glaube, dass man die Haushalte und den Finanzrahmen - dabei geht es um die Frage, wie er für die Zukunft ausgestaltet wird - wirklich dahin gehend durchkämmen muss, dass nur zukunftsorientierte, wenn auch degressive Subventionen gezahlt werden. Wir haben an dieser Stelle nichts zu verschenken und wir haben gerade in der europäischen Finanzpolitik jede Menge Gründe, nicht ständig den alten Lobbys anzuhängen.
Gerade mit Blick auf die Energie, die in der nächsten Woche ein Kernthema sein wird, haben wir an Sie die Forderung, ambitionierter vorzugehen, als dies im Grünbuch der Europäischen Kommission zur Energie vorgesehen ist. Was im Grünbuch steht, ist definitiv nicht ambitioniert genug. Es enthält keine konkreten Ziele und Handlungsschritte. Es fehlen konkrete Ausbauziele im Bereich der erneuerbaren Energien, der Energieeffizienz und der Energieeinsparung. Es wird schlicht und einfach alles gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Wir meinen, dass es bei der Strategie „Weg vom Öl“ nicht reicht, alles nebeneinander zu stellen. Wir müssen inhaltlich überlegen, ob die einzelnen Energiebereiche überhaupt eine Zukunft haben und ob sie uns als Exportweltmeister weiterhelfen können. Wir setzen auf die drei E: erneuerbare Energien, Effizienz und Einsparen. Hier sind die Arbeitsplätze Europas.
Mich stimmt es ehrlich gesagt nachdenklich, dass uns beim Energiegipfel nicht das Bundesumweltministerium vertreten hat, sondern das Wirtschaftsministerium. Wir wissen ja, dass viele in diesem Lande sagen: Das Problem der deutschen Wirtschaft hat einen Namen; er lautet Glos. Mich stimmt es noch frustrierter, dass uns dort ein NRW-Kohle-Lobbyist vertreten hat. Ich glaube nicht, dass wir so weiterkommen.
Ich meine, dass Deutschland die Möglichkeit hat, bei einer Art dritten industriellen Revolution in Europa eine Führungsrolle einzunehmen; das hat diese Regierung aber noch nicht aufgegriffen, Frau Merkel. Man muss dies für viele Arbeitsbereiche durchdeklinieren. Wir brauchen eine Vorreiterrolle Deutschlands. Wir benötigen einen nationalen Energieplan, der auch nach Europa ausstrahlt und mit dem konkrete Ziele gesetzt werden, die in Europa umgesetzt werden können. Dabei geht es bis hin zur Frage, wie wir den 7. Forschungsrahmenplan nutzen können. So wird Zukunft gesetzt. Wir wollen aufhören mit den Investitionen in rückwärts gewandte Forschungsprojekte wie zum Beispiel die Euratom. Wir brauchen Investitionen in die erneuerbaren Energien und für die Steigerung der Energieeffizienz.
Frau Merkel, als Letztes zum Thema Energiemarkt möchte ich noch eine Bitte äußern: Setzen Sie dem Handkuss von Jacques Chirac klare Worte entgegen und sorgen Sie dafür, dass es keine neue Art von Protektionismus und Monopolstellung für einzelne Unternehmen in Europa gibt!
Sprechen Sie klare Worte in Europa! Wir brauchen mehr Wettbewerb und mehr Wettbewerbskontrolle in Europa.
Wir haben also Erwartungen an den Gipfel in der nächsten Woche. In der nächsten Woche muss eine Antwort auf die Frage gegeben werden, in welchem Europa wir leben wollen.
Die Antwort kann nur sein, dass wir das Soziale und das Ökologische in Europa im wahrsten Sinne des Wortes miteinander verbinden.
Noch ein Satz zum Thema Kongo, das hier eine Rolle gespielt hat. Wir wissen, Deutschland und ganz Europa haben hier eine große politische Verantwortung. Aber lassen Sie uns nicht nur über zeitliche Begrenzungen und klare Aufträge diskutieren. Lassen Sie uns auch die Problemfelder benennen. Die Frage ist: Welche Verantwortung haben wir hinsichtlich der Rohstoffsituation und des Raubbaus, der dort betrieben wird? Auch müssen wir die Frage klären: Was würden deutsche Soldaten machen, wenn sie einem Kindersoldaten gegenüberstünden? Hier besteht Anlass zur Diskussion. Wir wissen um unsere Verantwortung. Wir wissen aber auch um die zeitlichen Probleme.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Laurenz Meyer für die CDU/CSU-Fraktion.
Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ungefähr die Hälfte der Zeit für die Umsetzung des Lissabonprozesses ist verstrichen, aber vom Erreichen der Ziele sind wir noch weit entfernt. Das ist leider das Ergebnis der Analyse.
Wir begrüßen, dass sich die EU neu ausrichtet. Das ist besser als die vorherige Situation. Das geht uns aber nicht weit genug und es ist auch noch nicht klar genug. Die EU muss sich nicht um alles kümmern. Sie soll sich auf die Kernbereiche konzentrieren, in denen sie wirklich handlungsfähig ist und Schwerpunkte setzen kann. Die Bundesregierung hat - das haben wir hier häufig diskutiert - in vielen Bereichen eigene Akzente gesetzt: im Bereich Forschung und Entwicklung, im Bereich der rechtlichen Rahmenbedingungen insbesondere für die kleineren und mittleren Unternehmen und schwerpunktmäßig im Energiebereich.
Ich will noch einen Punkt hinzufügen, der heute Morgen ein bisschen zu kurz gekommen ist: Wir fordern die Bundesregierung auf, bei dem Abschluss der Welthandelskonferenz eine klare Position zu beziehen. Es kann nicht sein, dass nur in den Bereichen Entwicklungshilfe und Landwirtschaft Regelungen beschlossen werden. Wir brauchen ebenso klare Rahmenbedingungen für unsere Industrie und unsere Dienstleistungsunternehmen und für den Schutz des geistigen Eigentums.
Wir haben die Forschungs- und Entwicklungspolitik sowie die Technologiepolitik in den Mittelpunkt gestellt. Wir haben beschlossen, dass wir dafür die Haushaltsmittel erhöhen wollen. Wir appellieren noch einmal an die Bundesregierung, die Weichen dafür zu stellen, dass diese Mittel noch vor Verabschiedung des Haushalts verausgabt werden können, sodass die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung sichergestellt ist.
Das Thema Energiepolitik hat hier schon eine große Rolle gespielt; Frau Künast hat es in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen gestellt. Ich möchte zunächst einmal für meine Fraktion klarstellen: Wir finden es gut, dass die Energiepolitik deutlich weniger ideologisch betrieben wird
und sich stärker an den drei Vorgaben konzentriert, Energie sicher, preisgünstig sowie verbraucher- und umweltfreundlich bereitzustellen.
Die neue Ausrichtung der Energiepolitik ist hinsichtlich der Zahl der Arbeitsplätze und damit der Beschäftigung sicherlich ein wichtiger Grundsatz. Das Grünbuch der EU enthält in diesem Zusammenhang gute Akzente, die wir unterstützen.
Ich möchte hinzufügen, Herr Außenminister - Sie haben das vorhin angesprochen -, dass wir Ihre Auffassung bezüglich des Themas Energiesicherheit im Kern teilen. Die Energiesicherheit ist heute in Europa keine nationale Angelegenheit mehr. Ein Ziel der EU muss sein, im Bereich der strategischen Energiesicherheit gemeinsame Aktivitäten zu entwickeln. Wir dürfen nicht vergessen, dass 60 Prozent unserer Energie aus Gas und Öl gewonnen werden. Aber wir beschäftigen uns überwiegend mit den restlichen 40 Prozent der Energieversorgung. Wir sollten die strategische Bedeutung Europas, diese Quellen zu sichern und die Versorgung der Bevölkerung und der Unternehmen zu gewährleisten, nicht aus den Augen verlieren. Dazu muss jedes Land seinen Beitrag leisten.
Ich sage Ihnen ganz offen, Frau Künast - ich hoffe, dass wir in diesem Punkt hier im Parlament eine breite Übereinstimmung erzielen -: Ich bin gerade im Nachhinein froh darüber, dass der bewährte Energiemix in Deutschland trotz aller Schwierigkeiten erhalten worden ist. Ich möchte keine ausschließliche Konzentration auf die Kernenergie, von der man dann abhängig ist, wie es in Frankreich der Fall ist. Ich möchte keine Situation wie in England, das nach einer Umsteuerung in der Energiepolitik voll auf Gas gesetzt hat und damit jetzt vor die Wand läuft. Unser Energiemix aus Öl, Gas, Kernenergie, Braun- und Steinkohle und den regenerativen Energien ist eine gute, verlässliche Grundlage. Wir sollten darauf hinwirken, ihn zu erhalten.
Zu begrüßen ist, dass der Aspekt, die Kosten niedrig zu halten, berücksichtigt wird.
Liebe Frau Künast, in dieser Hinsicht gibt es sicherlich Unterschiede zwischen uns. Wir wollen nicht an den Produktionsmengen, etwa bei den regenerativen Energien, herumdrehen. Aber wenn schon Mengen festgelegt werden müssen, dann sollten wir wenigstens das Ziel verfolgen, diese Mengen so effizient und kostengünstig wie möglich zu produzieren. Dass das Finanzierungssystem im Bereich Windenergie, die Sie in Ihrer Antwort auf den Zwischenruf des Kollegen Kauder angesprochen haben, etwas mit Zukunft zu tun hat, kann ich nicht erkennen. Es ist ein Programm für Kapitalanleger, nicht für die Ökologie.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen, der vielleicht auch die Kollegen von der SPD freuen wird. In der Diskussion geht es auch darum, dass die Steinkohlesubventionen gesenkt werden müssen. Sie haben in diesem Zusammenhang festgestellt, Frau Künast: Wind ist Zukunft, Steinkohle ist Vergangenheit. Darauf kann ich nur erwidern: Verglichen mit den Subventionen für die Windenergie sind die Steinkohlesubventionen geradezu wirtschaftlich.
Die Frau Bundeskanzlerin hat sich entschuldigt; sie kann vorübergehend nicht an der Debatte teilnehmen. Ich will ihr für den Energiegipfel trotzdem Folgendes mit auf den Weg geben - auch Sie, Herr Steinmeier, nehmen daran teil -: Es muss eine Abkehr von dem kurzfristigen Denken in der Energieversorgung erfolgen, das zurzeit bei den Energieunternehmen verbreitet ist; das müssen Sie den Energieunternehmen beim Energiegipfel übermitteln. In der Energieversorgung geht es - nicht anders als in vielen viel weniger von langfristigen Investitionen abhängigen Bereichen - um kurzfristige Optimierung: Da werden Kernkraftwerke für eine bestimmte Zeit nicht mehr für wirtschaftlich gehalten. Dann wird verstärkt auf Gaskraftwerke gesetzt. Die Entwicklung, das Gas in der Grundlast zu verbrennen, statt es in Haushalten, Autos usw. einzusetzen, halte ich für verheerend.
Jetzt, da die Gaspreise steigen, werden auf einmal die Gaskraftwerke wieder zurückgefahren. - Die Unternehmen, die von der Politik eine Langfriststrategie verlangen, agieren in ihrem eigenen Bereich so kurzfristig, wie es nicht schlimmer geht. Das muss man ihnen - auch bei dem Energiegipfel - ins Stammbuch schreiben.
Wir müssen vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass die stromintensiven Unternehmen in Deutschland erhalten bleiben. Ich sage ganz deutlich: Wenn wir nicht jetzt aktiv werden - das ist auch eine Aufforderung an den Umweltminister und den Wirtschaftsminister für die anstehenden Fragen, seien es die Emissionszertifikate oder andere -, dann wird es in zwei Jahren keine NE-Metallindustrie in Deutschland mehr geben. Deshalb müssen wir die Bedingungen schnellstmöglich ändern, damit in Deutschland die Arbeitsplätze in diesem Bereich erhalten werden können und eine Zukunft haben.
Für den Gipfel ist des Weiteren wichtig, dass die Märkte sich zunehmend abzuschotten drohen. Das zeigt der Vorgang im Zusammenhang mit Eon. Wir wollen Wettbewerb und grenzüberschreitende Möglichkeiten. Was im Grünbuch bis 2007 geplant ist, ist völlig richtig und wird von uns unterstützt. Mehr Wettbewerb kann uns nur helfen. Dazu gehört aber auch, der in Europa vorhandenen Tendenz einer nationalen Abschottung der Märkte entgegenzuwirken. Eon ist aus unserer Sicht ein gutes Beispiel, weil es Ergänzungen in den Märkten vornimmt. Notwendig sind auch internationale Player, wenn Europa seine strategische Bedeutung beibehalten will.
Ein weiterer wichtiger Bereich, der ebenfalls bereits angesprochen wurde, sind die kleinen und mittleren Unternehmen. Dass hier ein Schwerpunkt gesetzt wird, ist absolut richtig und wird von uns in jeder Weise unterstützt; denn ehrlicherweise ist festzustellen, dass die großen DAX-Unternehmen tendenziell eher Arbeitsplätze in Deutschland abbauen werden, als weitere zu schaffen. Wir müssen deshalb auf die kleinen und mittleren Unternehmen setzen und uns vor Augen halten, dass ein Maschinenbau- oder Chemieunternehmen in Deutschland durchschnittlich 300 Beschäftigte hat. Das sind zum Teil Weltmarktführer. Diese gilt es zu unterstützen.
Das geplante Mittelstandsentlastungsgesetz soll hier wirken und zum Abbau von Bürokratie, der Buchführungs-, der Nachweis- und der Dokumentationspflichten, sowie zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren beitragen. Insbesondere diese Unternehmen sind darauf angewiesen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. Auch über Steuern und Abgaben müssen wir im Zusammenhang mit der für 2008 geplanten Unternehmensteuerreform reden.
Die angesprochenen Unternehmen sind in erster Linie darauf angewiesen, dass die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Schauen wir einmal, welchen sinnvollen Beitrag die FDP dazu leisten kann. Wir werden jedenfalls dafür kämpfen und Sie sollten mitkämpfen. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer spielt in diesem Zusammenhang keine entscheidende Rolle. Vielmehr muss es uns gelingen, die Lohnnebenkosten zu senken; denn das ist der entscheidende Ansatzpunkt.
Deutschland ist das größte Land in der EU. Die EU wird ihre Ziele nicht erreichen, wenn Deutschland seine Ziele nicht erreicht. Ich füge für alle, die das noch nicht kapiert haben, ausdrücklich hinzu: Deutschland wird seine Ziele nicht erreichen, wenn der Osten Deutschlands die vorgegebenen Ziele nicht erreicht. So weit muss man das herunterbrechen. Nur wenn wir in den neuen Bundesländern große Erfolge erzielen, werden wir in den nächsten sechs bis acht Jahren unsere Ziele in Deutschland insgesamt erreichen. In diesem Zeitraum können wir wieder unter den ersten drei Ländern Europas sein, wenn wir uns anstrengen. Damit würden wir den größten Beitrag zur Umsetzung des hier zur Rede stehenden Konzeptes leisten, wonach Europa zum führenden Wirtschaftsraum in der Welt werden soll.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile nun dem Kollegen Christian Ahrendt das Wort für die FDP-Fraktion.
Christian Ahrendt (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung fährt in der nächsten Woche mit schwerem Gepäck zum Europäischen Rat; der Kollege Löning hat das schon angesprochen. Zu diesem Gepäck gehört die geplante Mehrwertsteuererhöhung. Es ist zu erwarten, dass wir im nächsten Jahr beim Wirtschaftswachstum 0,5 bis 0,7 Prozent als Folge dieser Steuererhöhung einbüßen werden.
Mein Vorredner hat darauf hingewiesen, dass Deutschland die größte Volkswirtschaft in der EU ist. Wenn unser Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr zurückgeht, dann wird das auch Folgen für die anderen Volkswirtschaften in Europa haben. Dementsprechend kritisch stehen die europäischen Finanzminister der geplanten Mehrwertsteuererhöhung in Deutschland gegenüber. Das hat die letzte Sitzung des Ecofin-Rates gezeigt.
Ich sage ganz klar, dass wir eine Mehrwertsteuererhöhung nicht brauchen, um die Maastrichtkriterien zu erfüllen.
Das Haushaltsdefizit lag 2005 bei 3,3 Prozent. Für 2006 wird ein gleich hohes Defizit prognostiziert. 0,1 Prozent Defizit entsprechen rund 2,5 Milliarden Euro. Wir müssen also 7,5 Milliarden Euro einsparen, um schon 2006 die vorgegebene Defizitgrenze zu erreichen. Ich glaube, das ist zu schaffen.
Man muss außerdem sehen, dass das Sparen leichter geworden ist; denn in Deutschland steigen die Steuereinnahmen wieder. Wir haben im Februar dieses Jahres 29,7 Milliarden Euro mehr Steuern eingenommen als im Februar 2005. Im Januar 2006 erhöhten sich die Steuereinnahmen um 6 Prozent im Vergleich zum Januar 2005.
Wir können also festhalten: Wir stehen nicht vor einem Wirtschaftsboom, den wir bremsen müssten. Deswegen brauchen wir keine Mehrwertsteuererhöhung als Wachstumsbremse. Vor diesem Hintergrund sollten Sie noch einmal darüber nachdenken, ob wir die geplante Mehrwertsteuererhöhung brauchen; denn rückläufiges Wirtschaftswachstum hat letztendlich weniger Steuereinnahmen zur Folge.
Die Mehrwertsteuererhöhung ist ein schweres Gepäckstück. Übrigens ist bislang in den Reden auf die kleinen und mittelständischen Unternehmen relativ wenig eingegangen worden. Das andere schwere Gepäckstück für die deutsche Regierungsdelegation ist Folgendes: Wir alle wissen, dass nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum in Europa nur möglich ist, wenn wir einen freien und fairen Wettbewerb haben.
25 verschiedene Körperschaftsteuergesetze im europäischen Binnenmarkt verhindern diesen freien und fairen Wettbewerb gerade für kleine und mittelständische Unternehmen. Wir brauchen eine Initiative, um zu einer schnellen Harmonisierung im Steuerrecht zu kommen.
Die Kommission hat im Dezember 2005 mit der Sitzlandbesteuerung einen sehr konkreten Vorschlag gemacht, um den kleinen und mittelständischen Unternehmen den Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu ermöglichen. Es gilt, vor allen Dingen zwei Hindernisse abzubauen: Die kleinen und mittelständischen Unternehmen müssen erstens vor den hohen Befolgungskosten, die sie haben, geschützt werden und zum zweiten muss es gerade kleinen und mittelständischen Unternehmen möglich sein, bei Investitionen im Ausland grenzüberschreitend Verluste mit Gewinnen, die im Inland entstehen, zu verrechnen.
Die kleinen und mittelständischen Unternehmen haben nämlich nicht die steuerlichen Optimierungsmöglichkeiten, die Großunternehmen zur Verfügung haben. Insofern ist es sehr befremdlich, wenn die Bundesregierung den Vorschlag der Sitzlandbesteuerung, die gerade diesen Unternehmen weiterhelfen soll, schlichtweg ablehnt und dabei auf ein Konzept abhebt, das kurzfristig und auch mittelfristig in Europa nach dem derzeitigen Stand nicht zu erreichen ist.
Ich will dazu drei Punkte vortragen: Erstens. Wenn wir eine Steuerharmonisierung bei den Bemessungsgrundlagen der Körperschaftsteuer in Europa erreichen wollen, dann brauchen wir die Zustimmung aller europäischen Staaten. Wir haben hier das Einstimmigkeitsprinzip. Wer in den letzten Tagen die Zeitung gelesen hat, der weiss, dass bereits fünf Staaten ihr Veto dagegen angekündigt haben.
Zweitens. Die Arbeitsgruppen, die im Rahmen der Harmonisierung des Steuerrechts die Körperschaftsteuer auf europäischer Ebene behandeln, haben sich bisher ausschließlich mit den Problemen beschäftigt, die Großunternehmen und Großkonzerne haben. Die Fragen, die kleine und mittelständische Unternehmen betreffen, sind nicht einmal in die Arbeitsgrundlagen aufgenommen worden. Ein weiteres Problem ist, dass Verbände, die wesentlich zur Aufklärung beitragen können, nicht in die Arbeiten einbezogen sind.
Drittens. Wenn man zur Erreichung des Lissabonziels in der Zukunft mehr tun will, als das in der Vergangenheit der Fall war, dann gilt: Wir erreichen nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum in Europa nur, wenn den kleinen und mittelständischen Unternehmen der Binnenmarkt in Europa geöffnet wird. Deswegen brauchen wir eine deutliche Verbesserung des freien Zugangs zum Binnenmarkt. Das heißt, wir brauchen eine zügige Harmonisierung des Körperschaftsteuerrechts.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben heute Freitag. In sechs Tagen reisen Sie zum Europäischen Rat nach Brüssel. Sie haben also die Gelegenheit, die Koffer neu zu packen und die Probleme Mehrwertsteuererhöhung und Sitzlandbesteuerung anders zu lösen.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Ahrendt, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und verbinde das mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion.
Ulrich Kelber (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Ruf Europas ist außerhalb unseres Kontinents wesentlich besser als in Europa selbst. Viele Menschen weltweit setzen Hoffnungen auf das europäische Gesellschafts-, Sozial- und Wirtschaftsmodell. Sie setzen darauf, dass wir unser Versprechen eines nachhaltigen Wachstums mit Leben erfüllen, in den globalen Verhandlungen, in unseren Zielsetzungen, aber auch in der europäischen Tagespolitik. Der US-amerikanische Autor und Ökonom Jeremy Rifkin bringt es in seinem Buch „Der europäische Traum“ zum Ausdruck. Europas sozialökologische Marktwirtschaft, sein Bekenntnis zur Nachhaltigkeit, zu seiner kulturellen Vielfalt und zur internationalen Zusammenarbeit hat für ihn weltweit Vorbildcharakter.
Wir haben eine große Verantwortung. In Asien, in Afrika und in Lateinamerika haben Länder begonnen, sich zu Organisationen zusammenzufinden, die die Grundideen der Europäischen Union aufnehmen. Deswegen wird unser Erfolg in Europa entscheiden, ob andere Regionen den Mut finden, von einem reinen Konkurrenzkampf oder einem Brutalkapitalismus, wie Rifkin ihn nennt, zu einer Kultur der Kooperation und Nachhaltigkeit zu finden.
Es war übrigens ein deutscher Forstwissenschaftler, Georg Ludwig Hartig, der 1804 den Begriff der Nachhaltigkeit prägte. Ich darf zitieren:
Es läßt sich keine dauerhafte Forstwirtschaft denken und erwarten, wenn die Holzabgabe aus den Wäldern nicht auf Nachhaltigkeit berechnet ist. Jede weise Forstdirektion muss daher die Waldungen ... so hoch als möglich, doch so zu benutzen suchen, daß die Nachkommenschaft wenigstens ebensoviel Vorteil daraus ziehen kann, ...
Hartig hat nicht von möglichst hohen Quartalsgewinnen gesprochen. Hartig hat auch nicht davon gesprochen - das ist anders als bei der Ausführung von EU-Kommissionspräsident Barroso zur Rolle der Nachhaltigkeit in der Lissabonstrategie -, dass man jetzt eben ein paar Bäume mehr fällen müsse, weil man gerade Geld brauche. Er wusste vielmehr, dass ohne Nachhaltigkeit Wirtschaftswachstum geringer ausfällt, dass bald die Schäden den wirtschaftlichen Nutzen übersteigen.
An diese Erkenntnis muss sich die Europäische Union erinnern. Das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit aus dem Vertrag von Amsterdam 1999, aus dem Vertrag von Nizza 2001 oder aus dem Verfassungsentwurf 2003 beginnt, in der Tagespolitik hohl zu klingen. Mein Eindruck ist: Zumindest große Teile der EU-Kommission haben den Pfad der Nachhaltigkeit leichtfertig verlassen. In der Fortschreibung der Lissabonstrategie werden die guten Ansätze zur Nachhaltigkeit vernachlässigt.
Ein Beispiel ist das Grünbuch der EU zur Energieversorgung. Ich behaupte nicht, dass es nur Falsches enthält. Aber: Man setzt auf nicht nachhaltige Mechanismen. Die nachhaltigen Optionen wie Energieeffizienz und erneuerbare Energien werden unterbewertet.
Dabei muss doch jedem klar sein, dass ein Mehr an denjenigen Verhaltensweisen, die die Probleme verursacht haben, niemals die Lösung der Probleme sein kann.
Man muss auf neue Methoden setzen.
Die EU-Kommission macht einen schweren Fehler, wenn sie nicht begreift, dass diese Politik auf ein falsches Gleis führt, auf ein totes Gleis, also auf ein Gleis, das nicht weiterführt. Da nützt es nichts, das Tempo zu erhöhen, eine zweite Lok vorzuspannen, den Ticketverkauf zu liberalisieren oder die Signaltechnik zu erneuern. Der Zug muss zurück auf das richtige Gleis, auf eine nachhaltige Streckenführung; denn Nachhaltigkeit ist die große wirtschaftliche Chance Europas. Es geht nicht um den Wettlauf um niedrige soziale und ökologische Standards, sondern um den Wettbewerb um die besten Ideen, um die anspruchsvollsten Qualitätsstandards und um die höchste Lebensqualität.
Ich bin nun einmal Energiepolitiker. Daher möchte ich Beispiele aus dem Bereich der Energiepolitik nennen. Bisher hat die Weltwirtschaft etwa 1 Milliarde Menschen Wohlstand gegeben. Weitere 3 Milliarden Menschen aus den aufstrebenden Staaten klopfen an die Tür des Wohlstands. Für unsere Art der Energieversorgung, der Rohstoffverwendung und der Mobilität hat das immense Folgen. Die Preisanstiege der letzten beiden Jahre auf allen Rohstoffmärkten waren darauf nur ein Vorgeschmack.
In dieser energiehungrigen Welt entstehen immense Märkte für neue Energie- und Effizienztechnologien, für Klimaschutztechnologien und für neue Mobilitätstechnologien. Die Welt braucht zusätzlich Solarzellen für die Elektrifizierung dort, wo noch überhaupt keine Netze vorhanden sind. Die Welt braucht Windenergie für die Wasserstoffproduktion. China, Australien, Indien und auch die USA - auch deren Kraftwerkswerte sind erschreckend - brauchen effiziente und saubere Kohlekraftwerke. Außerdem braucht die Welt das 1- oder 2-Liter-Auto, um von Erdöl auf Biokraftstoffe umsteigen zu können. Alle diese Produkte könnten aus Europa kommen. Das ist möglich, wenn wir zu Hause, hier in Europa, den Markt dafür schaffen, wenn wir zeigen, dass Nachhaltigkeit das richtige Zukunftsmodell ist.
Diese Märkte wären nicht nur wegen des Exports im wohlverstandenen Eigeninteresse: Da die Preise für Rohstoffe und Energie weiter deutlich anziehen werden und ihrer Verfügbarkeit Grenzen gesetzt sind, müssen wir unsere Nutzung verringern, um einer Kostenexplosion zu entgehen. Das müssen wir jetzt tun. Die Volkswirtschaften, die dabei den größten Erfolg haben, werden für sich die besten Wettbewerbsvorteile finden können. Darüber hinaus werden wir über eine solche Strategie den aufstrebenden Ländern in Asien, in Afrika und in Lateinamerika zeigen, dass es ein Zukunftsmodell gibt, das Nachhaltigkeit mit Wohlstand optimal verbinden kann.
Ich stelle fest, dass die EU in dieser Frage leider nicht mutig genug vorangeht, dass in den Mitgliedsländern zu viele Bremser sitzen, dass wir ein Forschungsprogramm entwerfen, durch das zweieinhalbmal so viel für die Nuklearforschung wie für die Erforschung aller erneuerbaren Energien zusammen ausgegeben wird. Der Anteil der Mittel für erneuerbare Energien an den Mitteln für die Energieforschung insgesamt soll unter dem heutigen Anteil an der Energieerzeugung liegen, obwohl wir die erneuerbaren Energien doch massiv ausbauen wollen. Die Hälfte der Mitgliedstaaten nutzt die Atomenergie gar nicht; weitere Mitgliedstaaten wollen aussteigen.
Auch für die strategische Ausrichtung des Grünbuchs zur Effizienzrichtlinie gilt: zu wenig, zu mutlos, nicht auf die Konsequenzen ausgerichtet, die wir ziehen müssen. Das ist die EU-Realität des Jahres 2006. Deswegen ist einer meiner Wünsche, Herr Außenminister: Nachhaltigkeit muss einer der Schwerpunkte in unserer EU-Ratspräsidentschaft 2007 werden.
Wenn man kritisiert, muss man auch loben können. Die EU kann auch anders. Sie kann konsequent sein. Das macht Hoffnung. Wer nicht schon immer von der Idee Europa überzeugt war, braucht sich nur die Konferenz der Klimarahmenkonvention in Montreal anzusehen: 25 Staaten mit einer Stimme pro Innovation, pro Klimaschutz, pro Nachhaltigkeit. Das hat der Konferenz auch den Ausschlag gegeben. Ohne die Stimme der Europäischen Union wäre Montreal kein Erfolg geworden. Das können wir uns auf jeden Fall zuordnen. Diese Konsequenz möchte ich gern auf die gesamte Lissabonstrategie angewandt sehen, aus Eigennutz und als weltweites Vorbild.
Georg Ludwig Hartig hatte Recht: Die gesamte Wirtschaft kann von der Forstwirtschaft lernen, was Nachhaltigkeit bedeutet. - In dieser Frage ist der Holzweg ein guter Weg.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort nun dem Abgeordneten Dr. Hakki Keskin für die Fraktion Die Linke.
Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Außenminister - er ist gerade noch hier im Saal -,
Sie haben von der Erfolgsgeschichte Europas gesprochen. Ich würde Ihnen sicherlich Recht geben, wenn Sie gesagt hätten: Europa war lange Zeit nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union eine Hoffnung, und zwar eine Hoffnung auf Sicherung des Friedens, des Wohlstands, der Demokratie und des Sozialstaats.
Seit rund einem Jahrzehnt wird die Hoffnung Europa jedoch leider immer mehr erschüttert. Wir sehen täglich, dass Millionen Menschen hier bei uns, aber auch in anderen Staaten tief beunruhigt sind. Sie haben Angst um die eigene Zukunft, aber auch um die Zukunft ihrer Kinder. Es ist nicht allein die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die die Menschen sorgt, sondern vor allem die längst verlorene Balance zwischen den Großunternehmen und der arbeitenden Bevölkerung.
Wir erfahren fast täglich von hemmungslosem Agieren mancher Unternehmen, nämlich von Verlagerung der Arbeitsplätze in das Ausland oder von Lohnkürzung und Arbeitszeitverlängerung für die Beschäftigten. Wie Recht hatte Mahatma Gandhi mit seiner Feststellung:
Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.
Die EU darf nicht lediglich zu einem Freiraum für die Interessen der mächtigen Wirtschaftskreise degradiert werden. Wir, die linke Fraktion, akzeptieren nicht, dass manche Unternehmen ihre Milliardengewinne in Deutschland erwirtschaften, aber hier bei uns kaum Steuern zahlen.
Daher fordere ich die Bundesregierung auf, sich konsequent für die europaweite Angleichung von Steuer- und Zinssätzen stark zu machen.
Wir akzeptieren nicht, dass die großen Erdöl- und Erdgaskonzerne ihre marktbeherrschende Stellung ausnutzen und ihre Preise allein im letzten Jahr um nahezu 20 Prozent und damit völlig unangemessen erhöhten. Die Gewinne der drei größten Erdölkonzerne Exxon, Shell und BP stiegen im letzten Jahr im Durchschnitt um 37 Prozent. Wir akzeptieren also nicht, dass die politisch Verantwortlichen hierbei tatenlos zusehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, spätestens nach der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden sollten die Alarmglocken geläutet haben. Die EU-Bürgerinnen und -Bürger haben ein Recht auf ein soziales und ihre sozialen Rechte sicherndes Europa.
Sie haben ein Recht darauf, dass durch eine Politik der sozialen Gerechtigkeit die Zunahme der Kluft zwischen Arm und Reich gestoppt wird.
Sie haben ein Recht darauf, dass die EU nicht nur für die Interessen der Wirtschaft und Großkonzerne da ist, sondern auch für die Belange und Interessen aller Menschen.
Sie haben ein Recht darauf, dass sich die EU gemäß ihrer Gründungsidee als eine Friedensgemeinschaft weltweit aktiv engagiert, jedoch nicht mit militärischen Mitteln. Kurzum: Sie haben ein Recht auf Arbeit, soziale Gerechtigkeit, Sicherheit und Frieden in der Welt.
Die Fraktion Die Linke fordert daher einen Paradigmenwechsel in der Politik. Gemeinsam mit den Gewerkschaften, Verbänden, Vereinen und der Friedensbewegung sagen wir Ja zur „Hoffnung soziales Europa“ und Nein zu Neoliberalismus und Sozialabbau.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Keskin, ich gratuliere auch Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stecken in der europäischen Politik in einer Vertrauenskrise, die nach meiner Einschätzung weit tiefer reicht, als das in dem Scheitern des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden zum Ausdruck kommt. Wir können das daran erkennen, dass auch die Briten und die Polen mit diesem Verfassungsvertrag ihre liebe Not haben.
Deswegen, glaube ich, ist es wichtig, dass wir nicht ein Signal des „Weiter so“ aussenden und dass wir erkennen, dass es sich hier nicht nur um ein Kommunikationsproblem handelt. Ich hielte es für einen völlig falschen Ansatz, wenn wir jetzt in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckten, die Leute in Frankreich und den Niederlanden hätten das nur nicht verstanden oder den Vertrag vielleicht nicht genau gelesen, wir müssten ihnen das lediglich noch einmal erklären und dann würden sie schon richtig abstimmen.
Das wäre ein völlig falsches Signal. Wir müssen ganz im Gegenteil deutlich machen, dass wir Respekt vor dem Votum der Wähler haben. Deshalb dürfen wir nicht nur eine neue Kommunikationsstrategie entwerfen, wie das die Europäische Kommission getan hat, sondern müssen uns sehr genau überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen.
Ich kann, nach allem, was wir von dort hören, nachvollziehen, dass man in Frankreich und den Niederlanden wohl kaum denselben Verfassungsvertrag ein zweites Mal zur Abstimmung vorlegen kann. Die Tatsache, dass die Vorstellungen in diesen Ländern nicht in die Richtung gehen, die wir einmal angedacht hatten, nämlich einen Verfassungsvertrag plus X zur Abstimmung zu stellen, sondern dass man dort eher über das Modell eines Verfassungsvertrages minus X nachdenkt, ist ebenfalls ein Ausdruck der Akzeptanzkrise, vor der wir stehen.
Ich glaube, dass wir gut beraten sind, wenn wir zunächst versuchen, Zeit zu gewinnen; denn es macht vor den Wahlen in Frankreich Mitte 2007 wohl keinen Sinn, das Projekt des Verfassungsvertrages zu forcieren. Wir haben aber auch ein Interesse daran, dass dieser Vertrag jetzt nicht atomisiert wird. Ich denke, dass wir spätestens nach den nächsten Beitritten zur EU, nämlich Bulgariens und Rumäniens, zu einer institutionellen Reform kommen müssen. Ich glaube aber, dass es jetzt notwendig ist, dieses Projekt der institutionellen Reform ein Stück zurückzustellen. Wir haben lange darüber diskutiert. Wir sind nicht so weit gekommen, wie wir wollten; aber wir müssen uns jetzt auch den wirtschaftlichen Herausforderungen wieder stärker zuwenden, vor denen die Unternehmen und die Arbeitnehmer in unserem Land stehen,
vor denen wir auch im Rahmen der Globalisierung und im Zuge der Osterweiterung stehen.
Auf dem Gipfel, der nächste Woche stattfindet, bietet sich die Gelegenheit, die eher technokratisch ausgerichteten Fragen institutioneller Reformen ein bisschen in den Hintergrund zu rücken - da besteht ja auch kein Zeitdruck - und sich den wirtschaftlichen Fragen zu stellen.
Ich darf daran erinnern, dass man vorhatte, den Binnenmarkt zum 31. Dezember 1992 zu vollenden. Wir haben dies bis heute nicht geschafft. Das wäre ein Projekt, über das wir anlässlich des Frühjahrsgipfels und in der Zeit danach einmal ausführlicher diskutieren sollten. Wenn man bedenkt, dass Tendenzen eines ökonomischen Patriotismus sichtbar werden, dann kann man erkennen, dass wir uns nicht unbedingt in Richtung Vollendung des Binnenmarktes bewegen.
Es ist notwendig, dafür zu sorgen, dass von diesem Frühjahrsgipfel keine falschen Signale ausgehen. Ich meine damit, dass wir in der Europäischen Union von der Überregulierung Abstand nehmen müssen, die in vielen Details zum Ausdruck kommt.
Auch mit Blick auf die Lissabonstrategie ist Vorsicht geboten. Wenn Ziele vorgegeben werden, die zu einer schleichenden Kompetenzausweitung der Europäischen Union führen würden, dann wäre das eine Entwicklung, die für die Umsetzung der Lissabonstrategie nicht hilfreich ist.
Wenn sich die Kommission unter der Überschrift bessere Rechtsetzung von dem Konzept einer Mindestharmonisierung weiter verabschiedet und eher das Konzept einer Maximalharmonisierung verfolgt, was darauf hinausläuft, viel mehr und viel genauer in Brüssel zu regulieren, dann wäre auch das kein Schritt zu mehr Deregulierung und zur Vollendung des Binnenmarktes.
Es gibt in den Vorlagen, über die der europäische Gipfel nächste Woche diskutieren wird, einen weiteren Punkt, den ich kritisieren möchte. Es ist notwendig, dass wir nicht ständig neue Einrichtungen und Behörden in der Europäischen Union schaffen. Aus einer Art Funktionärsdenkweise heraus wird aber versucht, den wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen, mit neuen Institutionen und Einrichtungen zu begegnen. Es kann doch nicht sein, dass nächste Woche der europäische Gipfel kreißt und ein europäisches Technologieinstitut gebiert. Ich habe nichts dagegen, dass wir Forschung fördern und dass man schon existierende europäische Institute miteinander vernetzt. Aber ich halte nichts davon, dass man neue Einrichtungen schafft. Die Antwort der Europäischen Union auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts kann nicht sein, dass man im Rahmen der Lissabonstrategie auf dem anstehenden europäischen Gipfel ein Technologieinstitut oder andere Einrichtungen gründet.
Aus meiner Sicht wäre das Signal wichtig, dass die Staats- und Regierungschefs die Dienstleistungsrichtlinie verabschieden wollen. Das wäre ein Anreiz für mehr Wachstum und Beschäftigung. Mir liegt daran, darauf hinzuweisen, dass mehr Beschäftigung und mehr Wachstum vor allem für kleine und mittlere Betriebe wichtig ist. Denn wir wissen, dass insbesondere dort neue Arbeitsplätze und neue Ausbildungsplätze geschaffen werden. Es ist daher notwendig, in den kommenden Wochen, in denen über die Dienstleistungsrichtlinie diskutiert wird, darauf hinzuwirken, dass gerade die Interessen der kleinen und mittleren Betriebe besondere Berücksichtigung finden.
Ich will dies konkretisieren. Dazu gehört, dass das Lauterkeitsrecht durch die Dienstleistungsrichtlinie nicht ausgehebelt wird. Gerade kleine und mittlere Unternehmen sind auf einen fairen Wettbewerb angewiesen. Dazu gehört zum Beispiel auch das Detail, dass man das Verbot von Verkäufen unter Einstandspreisen aufrechterhält, weil dadurch kleine und mittlere Unternehmen vor Verdrängungspraktiken marktstarker Konzerne geschützt werden.
Ich möchte einen weiteren Vorschlag machen, was auf diesem Frühjahrsgipfel angestoßen werden könnte. Ich würde es begrüßen, wenn wir den Vorschlag des Europäischen Parlaments aufgriffen und einen neuen Anlauf zum Schutz des geistigen Eigentums unternehmen würden. Wir haben viele Jahre darüber diskutiert, sind dabei aber nicht sehr weit gekommen. Das Gemeinschaftspatent ist gescheitert und das Europäische Patentübereinkommen steht nach wie vor außerhalb des Binnenmarkts. Es wäre jetzt an der Zeit, einen neuen Anlauf zum Schutz des geistigen Eigentums zu unternehmen, gerade auch deshalb, weil uns diese Frage im Hinblick auf die Welthandelsorganisation beschäftigt.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, nämlich die Verlagerung von Arbeitsplätzen. Wir müssen erkennen, dass diese Tendenz ein Ausdruck des freien Handels ist, den wir gefördert haben und der neue wirtschaftliche Dynamik gebracht hat. Ich rate uns, nicht allzu hohe Erwartungen zu wecken, weil wir als Politiker es nicht verhindern werden, dass Unternehmen im Ausland investieren und dort neue Märkte erschließen, mit denen sie ihr Geschäft auch im Heimatland stützen können.
Deswegen ist es meines Erachtens wichtig, zu sehen: Die Verlagerung von Arbeitsplätzen ist keine Folge der Osterweiterung der Europäischen Union,
sie begann schon vorher. Diese Verlagerung erfolgt nicht nur in die neuen Mitgliedstaaten, sondern weit darüber hinaus, sodass uns dieses Problem noch Jahre beschäftigen wird.
Allerdings gibt es in der Europäischen Union einen besonderen Ansatz. Wir betreiben Strukturpolitik mit europäischen Mitteln und müssen deshalb sehr darauf achten, dass diese Fördergelder so eingesetzt werden, dass das bestehende Fördergefälle nicht den Wettbewerb verzerrt. Ich halte wenig von dem Ansatz, die Steuersätze in Europa zu harmonisieren. Denn wir werden sehen, dass andere Mitgliedstaaten nicht mitmachen werden. Gerade die Staaten, die niedrige Steuersätze haben, sehen darin einen Wettbewerbsvorteil und haben überhaupt keinen Grund, diesen Wettbewerbsvorteil zu ihren Lasten und zu unseren Gunsten aufzugeben.
Aber wir können dort, wo wir Gelder ausgeben, die Vergabe von Strukturfördermitteln und von nationalen Beihilfen, die unter der Aufsicht der Kommission steht, an bestimmte Kriterien knüpfen. Eines dieser Kriterien muss sein, dass mit diesen Geldern neue Arbeitsplätze geschaffen und nicht nur Arbeitsplätze verlagert werden. Denn das Schlimme ist doch, dass wir Gelder für Investitionen in anderen Staaten ausgeben, ohne dass damit neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Es ist doch nachvollziehbar, dass kein Arbeitnehmer es mittragen kann, wenn wir mehrfach zahlen. Als Deutsche bezahlen wir ja erstens zu einem Viertel die Strukturförderung. Zweitens zahlen wir dadurch, dass wir Einnahmen aus Unternehmensteuern verlieren, wenn Unternehmen ins Ausland gehen. Wir zahlen drittens dadurch, dass wir auch Einnahmen aus der Erhebung der Einkommensteuer bei denjenigen Arbeitnehmern verlieren, denen gekündigt wird, und wir diesen dann auch noch Arbeitslosengeld zahlen. Wir zahlen also dreimal.
Deswegen ist es eine Frage der europäischen Solidarität und des fairen Wettbewerbs, dass Strukturförderung und nationale Beihilfen nicht missbraucht werden, um den Wettbewerb zu verzerren.
Wir müssen die Fairness des Wettbewerbs vielmehr dadurch sicherstellen, dass wir die Vergabe von Mitteln an die Schaffung neuer Arbeitsplätze knüpfen und Mittel, die zweckwidrig verwendet werden, zurückfordern.
Das ist der richtige Weg. Wir müssen den fairen Wettbewerb fördern und Missbrauch unterbinden. Dann werden wir auch in der Europäischen Union eine Wirtschaftspolitik verfolgen können, die wieder die Zustimmung der Bürger, der Arbeitnehmer und des Mittelstandes findet.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir in dieser Debatte heute von der Regierung und den Regierungsfraktionen über die Zukunft Europas und insbesondere über die Lissabonstrategie gehört haben, ist in hohem Maße widersprüchlich; das muss man schon sagen. Die Ausführungen des Kollegen Kelber zur ökologischen Bedeutung und zur Nachhaltigkeit der Energiepolitik kann ich zumindest in weiten Teilen unterstützen. Aber, Kollege Kelber, Sie können doch nicht damit zufrieden sein, dass Sie zwar für eine fortschrittliche Rhetorik verantwortlich sind, Kollege Steinmeier heute Morgen aber kein einziges Mal in seiner Regierungserklärung das Wort „Nachhaltigkeit“ im Zusammenhang mit der Lissabonstrategie erwähnt hat. Das kann doch nicht sein.
Die Zielsetzung einer nachhaltigen Entwicklung - das sollte man auch der Regierung sagen - ist nach Art. 6 des EG-Vertrages ein globales Ziel dieser Verträge. Die Nichtberücksichtigung im Rahmen der Lissabonstrategie verstößt gegen Art. 6. Denn die nachhaltige Entwicklung ist das allen Gemeinschaftspolitiken übergeordnete Ziel. Ökologische Gründe stehen bei der Regierung nicht im Vordergrund. Aber weil wir wissen, dass eine gesunde Umwelt, ein schonender Umgang mit Ressourcen und die Förderung von Innovationstechnologien im ökologischen Bereich ökologisch wichtig sind, aber auch ökonomisch die Zukunft der Europäischen Union prägen müssen, ist für uns Bündnisgrüne die Nachhaltigkeit ein zentraler Punkt der Lissabonstrategie. Das sollte diese Regierung im Interesse unserer ökonomischen Struktur in sehr viel stärkerem Maße berücksichtigen.
Herr Kelber, auch das, was Sie zur Energiepolitik gesagt haben, ist richtig. Aber wenn man sich das Regierungshandeln konkret anschaut, stellt man fest: Einerseits steht in der deutsch-französischen Vereinbarung die Energiepolitik ganz vorne. Man spricht sich dafür aus, sie zu einem europäischen Thema machen zu wollen. Andererseits stehen in anderen Reden Deutschland und Frankreich Seit’ an Seit’ bei der Verhinderung der Europäisierung dieses Bereiches. Frau Merkel hat sich auch heute Morgen im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union dahin gehend geäußert. Das sei nationale Politik. Deutschland will Schutzmauern errichtet haben, eventuell sogar ausbauen.
Wenn man sich die Situation, wie sie sich gerade nach diesem Winter darstellt, anschaut, kommt man zu dem Schluss: Wir brauchen eine Europäisierung; wir brauchen den Wettbewerb in der Energiepolitik, um voranzukommen. Wir brauchen keine nationalen Schutzmauern in diesem Bereich.
An anderer Stelle gibt es dann Ihre Rhetorik über Wettbewerbsfähigkeit. Das Einzige, was in Hinsicht auf Wachstum und Beschäftigung für diese Regierung charakteristisch ist, ist doch die Rhetorik und keine realen Taten. Überall, wo Sie die Chance haben, nationale Strukturen zu erhalten, tun Sie das auch. Ich nenne als Stichwort die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Fast alle EU-Mitgliedsstaaten, sogar Frankreich, begeben sich auf den Weg, die Grenzen für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu öffnen. Es gibt eine Europäisierung dieses Politikbereichs. Nur die deutsche Bundesregierung steht fest dazu, an dieser Stelle Mauern hochzuziehen, und das möglichst bis 2011. Das kann nicht die Zukunft der Europäischen Union sein.
Ich will noch einen weiteren Punkt nennen, bei dem die Politik widersprüchlich ist, und zwar den Bildungsbereich. Sie haben zu Recht gesagt: Da liegt die Zukunft der Europäischen Union. - Ja. Wir unterstützen Sie bei Ihrem Bemühen, bei den nationalen Zielen im Forschungs- und Bildungsbereich weiterzukommen. Auf der anderen Seite muss man sich vor Augen halten, was Sie im Rahmen der Föderalismusreform machen wollen: Sie übertragen die absolute und alleinige Verantwortung für diesen Bereich den Ländern. Wenn ich das in den letzten 20 Jahren richtig beobachtet habe, dann ist es so, dass die Länder sich bei dem Bereich, für den sie allein zuständig waren, nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben, so auch, als es darum ging, die deutsche Bildungspolitik europaweit wettbewerbsfähig zu machen.
Dagegen ist doch festzuhalten: Die einzigen Innovationen, die es in den letzten Jahren in der Bildungspolitik gab, sind doch vom Bund angestoßen worden. Sie wollen an dieser Stelle alles wieder zurücknehmen. So werden wir nicht wettbewerbsfähiger; so verschleudern wir die Ressourcen, auch die Bildungsressourcen, die wir in der Zukunft benötigen. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, an dieser Stelle würde ich mir wünschen, dass Sie den Geist, den Fortschritts- und Reformgeist der rot-grünen Koalition, in die große Koalition hineintragen und sich an dieser Stelle nicht ständig von der CDU und der CSU ausbremsen lassen. Der Fortschritt ist manchmal eine Schnecke. Aber wenn man mit Bezug auf das, was Sie in der EU-Politik geleistet haben, davon sprechen wollte, dass der Fortschritt eine Schnecke ist, dann wäre das noch geprahlt. Sie sollten in Zukunft etwas dynamischer werden, und zwar nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in den Taten.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion.
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Herr Präsident! Der geschätzte Vorredner, den ich sehr mag, hört jetzt leider nicht zu.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Vielleicht sagen Sie ihm noch einmal, dass Sie ihn mögen. Das erhöht vielleicht die Neigung, zuzuhören.
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Vielleicht hört er jetzt noch ein bisschen genauer zu. Lieber Rainder, ich mag dich ja.
Du hast möglicherweise nicht zugehört, als der Außenminister gesprochen hat. Ich habe hier den Text seiner Rede und ich möchte einfach nur zitieren, um ein mögliches Missverständnis auszuräumen:
Im Bereich Energie und gerade bei unserem Kernanliegen Energieeffizienz, Energieforschung und erneuerbare Energien haben wir viel geleistet. -
Das bezieht sich auch auf die rot-grüne Koalition. Dann hat er gesagt: Der Anteil erneuerbarer Energien an unserer Stromerzeugung beträgt bereits über 10 Prozent.
Ich will damit nur sagen: Bei diesem Punkt gibt es, lieber Kollege Steenblock, eine Kontinuität zwischen der rot-grünen und der schwarz-roten Koalition, eine Kontinuität, die genau auf jener Leistung fußt, die wir beide gemeinsam vorangetrieben haben. Ich bitte, dass dieses nicht dementiert, sondern fortgesetzt und verstärkt wird.
Ich will jetzt an einen Punkt anknüpfen, den nicht nur Sie, sondern auch andere Redner in vergleichbarer Weise angesprochen haben. Zum Beispiel Herr Silberhorn hat es getan. Er hat den Begriff „ökonomischer Patriotismus“ benutzt. Ich glaube, wir sind in einer noch dramatischeren Situation. Die Europäische Union bewegt sich gegenwärtig weg von einem integralen Konzeptansatz und hin zu der Versuchung - dort drüben haben wir solche Stimmen schon gehört; anderswo, zum Beispiel in Italien, gibt es sie auch - des Populismus.
Der Populismus aber ist die Vorstufe zur Wiederkehr des Nationalismus. Das muss man sehr genau im Blick haben. Wenn ich meinen ehemaligen Parteifreund Oskar Lafontaine an der einen oder anderen Stelle höre, muss ich sagen: Das ist Populismus pur,
da wird schon Rechtspopulismus mit aufgesogen.
Das hilft Europa überhaupt nicht. Das gefährdet im Gegenteil den Fortschritt,
den wir in den letzten 50 Jahren, lieber Kollege Dehm, quer durch dieses Parlament gemeinsam erarbeitet haben. Der jedoch darf nicht aufs Spiel gesetzt werden, schon gar nicht von Populismus pur, um das ganz deutlich zu sagen.
Warum ist das nötig? Die Europäische Union darf weder zur Fortress, wie die Engländer sagen, zu einer Burg, auf der man sich protektionistisch, nationalistisch verschanzt, noch - das sehen wir jetzt auf den Kanarischen Inseln - zur Fluchtburg derer werden, die aus den zentralen Regionen Afrikas flüchten, die nur noch eine einzige Hoffnung im Kopf und im Herzen haben, nämlich endlich nach Europa zu kommen. Deswegen kommt es darauf an, den Demokratieansatz, den wir in der Europäischen Union seit vielen Jahren erarbeitet haben, der ein anderer als der der Weltmacht USA ist, zu unterstützen, zu fördern, zu verstärken. Wir verstehen Demokratisierung, Förderung der Demokratie nicht als ein militärisches Draufsetzen, wie wir das im Irak gesehen haben, wo man glaubte, Demokratie durch Bomben durchsetzen zu können. Das wollen wir nicht.
Wir wollen Demokratie dort fördern, wo Menschen bereit sind, sich Demokratie selbst zu Eigen zu machen. Hier liegt ganz klar der Unterschied zwischen der Europäischen Union und anderen auf der Erde. Dieser Unterschied muss verdeutlicht werden. Es geht darum, was auch der Außenminister am Schluss seiner Rede gesagt hat, Kollege Schockenhoff, dass wir den Menschen im Kongo, die jetzt auf dem Weg sind, sich die eigene Demokratie von innen und von unten durch einen demokratischen Wahlakt selbst zu erkämpfen, helfen, und zwar nicht durch eine Militarisierung des Denkens, sondern indem wir die Sicherheit bieten, die das Land nicht selbst von innen und von unten produzieren kann. Dann, wenn sie es wollen und wenn uns die Vereinten Nationen dazu beauftragen, müssen wir ihnen dabei helfen, dass die Demokratie endlich an Boden gewinnt, damit sie sich ihre Freiheit selbst erarbeiten können. Darum und um nichts anderes geht es im Kongo.
Ich bin froh und dankbar, dass wir nun im Auswärtigen Ausschuss darüber eine intensive Diskussion führen und endlich dazu kommen, auch den Menschen in diesem Teil der Erde, der in den letzten Jahrzehnten in blutigen Bürgerkriegen versunken war, eine Chance zu geben, mit ihnen gemeinsam die Demokratie zu entwickeln, zu fördern und zu gestalten. 45 Jahre lebt dieses Land Demokratische Republik Kongo ohne eigenen Wahlakt, ohne die Legitimationsgrundlage für das eigene staatliche Handeln zu produzieren. Jetzt haben sich 25 Millionen Männer und Frauen - das muss man sich einmal überlegen - registrieren lassen, in Wählerverzeichnisse eingeschrieben. Manche sind Dutzende von Kilometern - das haben wir von Kolleginnen und Kollegen gehört, die dort waren; Uschi Mogg und Rolf Kramer waren in den letzten Tagen dort und haben das beschrieben - gelaufen, um sich in Wählerverzeichnisse einzuschreiben. Was ist das für ein ungeheurer Qualitätssprung! Mitten im Herzen Afrikas sind Menschen bereit, wählen zu gehen, den Präsidenten selbst zu bestimmen, nachdem sie die Verfassung in einer wirklich demokratischen Volksentscheidung selbst bestimmt haben. Warum sollen wir denn diesen Menschen, wenn sie uns darum bitten, nicht die Chance geben, das zu tun, was nötig ist, um ihre eigenen demokratischen Institutionen weiterzuentwickeln?
Darum gehen wir, wenn es der Bundestag will, mit 1 500 Soldatinnen und Soldaten - 500 davon kommen aus der Bundesrepublik Deutschland - in diese Region. Können wir uns diesem Wunsch ernsthaft verschließen? Soll die Bundesrepublik Deutschland Nein sagen, wenn die Menschen im Kongo den Aufbruch in die Demokratie selbst wollen? - Nein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind verpflichtet, multilateral effektiv zu handeln, die internationale Verantwortung der Europäischen Union wahrzunehmen und die Europäische Union mit ihren Instrumenten ESVP und GASP zu stärken und zu stützen. Darum geht es, nicht um Populismus, sondern darum, den Menschen in Afrika eine Chance zu geben.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett von der SPD-Fraktion.
Doris Barnett (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! War die Lissabonstrategie von 2000 wirklich nur ein Griff nach den Sternen mit viel zu kurzen Armen? Hat sie nicht vielmehr Europa aufgeweckt und endlich auf den Erfolgsweg geschickt? In der Tat ist heute schwer vorstellbar, dass wir binnen der nächsten vier Jahre zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden. Wenn wir uns in der Politik aber keine Ziele mehr setzen würden, keine Träume mehr verwirklichen wollten, wenn wir nur noch in Routine verfielen, dann müsste man fragen: Wozu das alles?
Die Lissabonstrategie des Jahres 2000 hat natürlich etwas mit dem Millennium und mit der Aufbruchstimmung zu tun, die wir damals auch in Deutschland wollten und politisch auch erfolgreich umsetzen konnten. Aber, zugegeben, die Welt richtet sich weder nach Deutschland noch nach Europa. Deshalb hat Europa seine Visionen im vergangenen Jahr ein Stück weit angepasst. Die Ziele wurden dabei nicht aus den Augen verloren: Wir brauchen mehr und bessere Arbeitsplätze; wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit durch Innovationen erhöhen; der Binnenmarkt muss vollendet werden; wir brauchen nachhaltiges ökologisches Wachstum und - ganz wichtig - der soziale Zusammenhalt in Europa muss gestärkt werden.
Lissabon wird zwangsläufig scheitern, wenn die Menschen das Gefühl haben, sie seien nur Schachfiguren im Spiel um Wettbewerbsfähigkeit. Unser Vizekanzler brachte es auf den Punkt: „Die Wirtschaft ist für die Menschen da - nicht umgekehrt.“
Deshalb ist das viel beschworene europäische Sozialmodell von so großer Bedeutung. Für die Menschen ist Lissabon ein Projekt, das den Wohlstand mehren, die sozialen Rahmenbedingungen wahren, ein Leben in Würde ermöglichen, Beschäftigung schaffen und soziale Sicherheit für die Jungen und die Alten sichern soll. Nur wenn das klar ist, werden sie akzeptieren, dass der notwendige Wandel in Europa ihnen viel abverlangt.
Flexicurity ist keine Einbahnstraße. Auch wenn der Rat die Lissabonstrategie neu ausgerichtet und deren Schwerpunkte auf Wachstum und Beschäftigung gelegt hat, dürfen wir den sozialen Dialog als Schlüsselfunktion nicht außen vor lassen; denn die so genannten weichen Faktoren bestimmen den Erfolg der Implementierungsbemühungen um Bürokratieabbau, um Investitionen in Wissen und Innovation, um die Erschließung des Unternehmenspotenzials usw. Weiche Faktoren - das bedeutet, dass wir in Europa glaubwürdige Antworten brauchen: eine altersgerechte Arbeitszeitgestaltung, die Anpassungsfähigkeit von Arbeitnehmern und Unternehmen, ein verändertes System der sozialen Sicherheit bei hoher Mobilität, die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und - siehe Frankreich - die Integration Jugendlicher in den Arbeitsmarkt.
Die Menschen fragen sich zunehmend - und das zu Recht -, welches Gesellschaftsmodell sich in Europa abzeichnet. Sie wollen die Standards kennen, die ihnen Europa zugesteht. An diesem Punkt kommen wir sehr schnell zu der seit langem heiß diskutieren Dienstleistungsrichtlinie. Als die vorgelegt wurde, konnte man sich beim besten Willen nicht des Eindrucks erwehren, dass es hierbei um niedrige Löhne und niedrigere Standards bei freiem Marktzugang geht, dass das alte gegen das neue Europa ausgespielt werden sollte, und zwar mit dem kleinen Nebeneffekt, dass unliebsame Standards, die manche als Ballast empfinden, geschleift werden können. Plötzlich war von Harmonisierung nicht mehr die Rede. Glaubte Brüssel wirklich, durch eine 180-Grad-Drehung schneller zu mehr Wachstum und Beschäftigung zu gelangen?
Zugegeben, in Sachen Dienstleistungen haben wir in Deutschland noch einiges nachzuholen. Wir haben uns ja ins Zeug gelegt, um den Anteil an Dienstleistern, insbesondere an Selbstständigen, massiv zu erhöhen, unter anderem durch die nicht von allen geliebte Ich-AG, die wir in diesem Jahr mit dem Überbrückungsgeld zu einer neuen Form des unterstützten Weges in die Selbstständigkeit umwandeln werden. Aber die Dienstleistungsrichtlinie kann und darf nicht als Einfalltor verstanden werden, um soziale Errungenschaften zu schleifen. Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit haben bei uns einen hohen Stand erreicht. In der letzten Woche haben wir zum Beispiel den Arbeitsschutzbericht der Bundesregierung zur Kenntnis genommen. Es gibt bei uns große Fortschritte: Wir haben weniger Todesfälle, weniger Wegeunfälle, weniger Verrentungen und weniger Reha-Maßnahmen. Das alles würden wir aufs Spiel setzen, wenn wir einem umfassenden Herkunftslandprinzip zustimmen würden.
Es ist schon verwunderlich, dass wir europaweit bei der Chemiekalienpolitik, beim Pflanzenschutz die Standards ohne Rücksicht auf Arbeitsplatzverluste hochschrauben. Aber da, wo es um die arbeitenden Menschen geht, scheinen diese Mechanismen nichts mehr zu gelten. Aber was sonst soll das europäische Sozialmodell ausmachen, wenn nicht den Schutzmechanismus für die Arbeitnehmer? Deshalb ist es vom europäischen Parlament richtig, am Ursprungstext der Dienstleistungsrichtlinie und seiner Ausrichtung massive Korrekturen vorzunehmen. Ich danke der Bundesregierung ausdrücklich dafür, dass die Ablehnung des Herkunftslandprinzips nicht nur eine Textstelle im Koalitionsvertrag ist, sondern auch ihre erklärte Position bei den anstehenden Ministerrunden.
Zu Recht verweist sie in ihrer Positionierung für die Gespräche darauf, dass der ursprüngliche Richtlinientext einen Verlust an Rechtssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen bedeuten würde, was nicht absehbare Effizienzverluste auslösen und uns gerade jetzt in der Erholungsphase unnötig zurückwerfen könnte. Nein, hier hat die Kommission keinen Weitblick gehabt und sogar ihr erklärtes Ziel des europäischen Sozialmodells aus den Augen verloren. Es ist gut, dass jetzt nochmals nachgedacht wird. Ich kann unsere Minister nur ganz kräftig ermuntern, hierbei standfest zu bleiben, weil es letztlich allen Menschen in Europa zugute kommt, selbst denen, die im Augenblick noch einen Vorteil für sich sehen.
Denn Mindestlöhne um die 3 Euro pro Stunde können niemals ein Wachstum in Europa auslösen. Allerdings gebe ich zu, dass wir selbst unsere Hausaufgaben noch machen müssen. Während in 18 von 25 EU-Staaten bereits ein Mindestlohn eingeführt wurde und damit auch für Dienstleistungen eine Einkommensuntergrenze besteht, stehen wir erst am Anfang einer dringend notwendigen Debatte. Wir müssen uns schon anstrengen, um bis zum Herbst zu einem Ergebnis zu kommen.
Gerade hier halte ich es mit unserem verstorbenen Bundespräsidenten Rau, der nie müde wurde, zu fordern, dass es in unserer deregulierten Welt eine Schutzmacht für die kleinen Leute geben muss. Denn im weltweiten Wettbewerb arrangieren sich die Multis; das ist richtig. Das europäische Sozialmodell, die Schutzhülle für die Arbeitnehmer, muss allerdings von uns Parlamentariern hier in Deutschland und auf europäischer Ebene immer wieder erstritten und durchgesetzt werden. Bleiben wir wachsam!
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b sowie Zusatzpunkt 7 auf:
19. a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 16/643 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 16/753 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss)
- Drucksache 16/974 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Ortwin Runde
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Barbara Höll
Kerstin Andreae
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/976 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Roland Claus
Anja Hajduk
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen
- Drucksachen 16/634, 16/749 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss)
- Drucksache 16/975 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Barbara Höll
Christine Scheel
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/977 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Roland Claus
Anja Hajduk
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen Kampeter, Norbert Barthle, Jochen Borchert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Carsten Schneider (Erfurt), Ernst Bahr (Neuruppin), Bernhard Brinkmann (Hildesheim), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Unverzügliche Umsetzung des Programms „Impulse für Wachstum und Beschäftigung“ sowie des Marktanreizprogramms durch die Bundesregierung
- Drucksache 16/931 -
Zu dem Gesetzentwurf zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen:
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die größte Herausforderung der kommenden Jahre und zugleich die zentrale Aufgabe einer verantwortungsvollen Finanzpolitik wird es sein, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte nachhaltig zu begrenzen. Dabei geht es nicht nur darum, den rechtlichen nationalen und europäischen Vorgaben Rechnung zu tragen. Nein, vielmehr gilt es auch, wieder finanzielle Handlungsspielräume zur Bewältigung von zentralen Zukunftsaufgaben zu gewinnen. Entscheidend ist, diese Ziele miteinander zu kombinieren, damit beides gelingt: die Wachstumskräfte zu stärken und die Staatsfinanzen nachhaltig zu konsolidieren.
Dieses finanzpolitische Zweisäulenmodell bestimmt auch die Leitlinien der Steuerpolitik der nächsten Jahre. Danach muss das vorrangige steuerpolitische Ziel die Weiterentwicklung unseres Steuersystems sein:
Erstens muss es dem Staat auf allen Ebenen - der Bundes-, der Länder- und der Gemeindeebene - dauerhaft sichere Einnahmen garantieren und damit zur erforderlichen Stabilisierung des Haushalts beitragen; dieses erste Ziel der Steuerpolitik gerät manchmal in Vergessenheit.
Zweitens muss das Steuersystem wirtschaftsfördernde Impulse geben und somit auch die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland im internationalen Wettbewerb spürbar steigern.
Drittens brauchen wir eine gerechte, gleichmäßige und transparente Besteuerung sowie eine sozial ausgewogene Verteilung der Lasten zur Finanzierung der staatlichen Aufgaben.
In diesem Zusammenhang freue ich mich, dass das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat, dass die etwas seltsame Idee von Herrn Professor Kirchhof aus dem Jahr 1995, der so genannte Halbteilungsgrundsatz, tatsächlich nicht mit unserer Verfassung in Einklang zu bringen ist.
Die ehrgeizige Zielsetzung, die wir insgesamt verfolgen, ist nicht zuletzt im Interesse einer für den Bürger berechenbaren und verlässlichen Regierungspolitik.
Das ist allerdings nicht von heute auf morgen und nur mit einem umfassenden Bündel aufeinander abgestimmter steuerlicher Maßnahmen zu verwirklichen.
Bereits im Dezember letzten Jahres sind deshalb gleich mehrere Steuergesetze in Kraft getreten, die als klares politisches Signal für die Reformfähigkeit der Bundesregierung verstanden werden sollten und von den Bürgerinnen und Bürgern auch so verstanden werden.
Um es klar zu sagen: Für mich gibt es zu dem eingeschlagenen strikten Sparkurs der öffentlichen Haushalte keine Alternative. Mit einer Ausgabenkürzung allein ist es nämlich nicht getan. Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass die Gesetzentwürfe, die aktuell auf der Agenda der Bundesregierung stehen, nur einen weiteren Schritt im Rahmen unseres steuerlichen Gesamtkonzeptes für die nächsten Jahre darstellen können.
Ich weiß, dass gleich wieder jemand von der FDP den „großen Wurf“ fordern wird.
Aber „große Würfe“ machen normalerweise nur Hunde an Zäunen.
Mit dem Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen, das, wie die bereits eingeleiteten Maßnahmen, im laufenden Jahr, also 2006, greifen soll, wollen wir dem Gestaltungsmissbrauch und der nicht gerechtfertigten Ausnutzung von Gesetzeslücken im Steuerrecht entgegenwirken. Vorgesehen sind unter anderem die Beschränkung der Anwendung der 1-Prozent-Regelung auf Fahrzeuge des notwendigen Betriebsvermögens, die Steuerpflicht für Umsätze zugelassener öffentlicher Spielbanken und die Möglichkeit der Ahndung der missbräuchlichen Weitergabe von Tankbelegen und anderen Belegen an Dritte. Auch diese Maßnahmen sollen nicht nur direkt oder indirekt zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte beitragen, sondern auch der Steuergerechtigkeit dienen.
Eingangs hatte ich darauf hingewiesen, dass die Sanierung der öffentlichen Haushalte zwar ein wichtiges Ziel der Bundesregierung, nicht aber ihr einziges ist. Mindestens ebenso bedeutsam ist es, mit geeigneten Maßnahmen entscheidende Impulse für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu geben.
Daher haben wir im Januar dieses Jahres ein umfassendes Programm zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung auf den Weg gebracht, das, wie Sie wissen, ein beeindruckendes Gesamtvolumen von 25 Milliarden Euro hat. Zur kurzfristig erforderlichen Stärkung der Wachstumskräfte sind unter anderem eine gezielte Wiederbelebung der Investitionstätigkeit und die steuerliche Gewährung von Liquiditätsvorteilen für kleine und mittelständische Unternehmen notwendig. Darüber hinaus muss der private Haushalt als Feld für neue Beschäftigungsmöglichkeiten steuerlich besser erschlossen werden. Dadurch wird zugleich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert.
Nicht zuletzt im Interesse dieser besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist im vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung - die begünstigenden Teile dieses Gesetz sollen weitgehend rückwirkend ab Januar 2006 gelten - vorgesehen, die steuerliche Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten spürbar auszuweiten.
Außerdem wird die degressive AfA für bewegliche Wirtschaftsgüter für zwei Jahre befristet wieder auf 30 Prozent - maximal auf das Dreifache der linearen AfA - angehoben sowie verstärkt der Abzug von Handwerkerrechnungen für Renovierungs-, Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen von der Steuerschuld ermöglicht. Dies wird insbesondere dem Handwerk und anderen mittelständischen Gewerben Impulse geben. Zur Stärkung der Liquidität mittelständischer Unternehmen schlagen wir darüber hinaus vor, die Umsatzgrenzen bei der Istversteuerung in den alten Bundesländern zu verdoppeln und die für die neuen Bundesländer bereits geltende Sonderregelung zu verlängern.
Es ist verschiedentlich, insbesondere von den Oppositionsparteien, moniert worden, dass das, was die Bundesregierung bislang vorgelegt hat, keinesfalls der große Wurf sei.
Für diesen Vorwurf fehlt mir, ehrlich gesagt, jegliches Verständnis. Die Bundesregierung kann sich mit ihrer 100-Tage-Bilanz wirklich sehen lassen. Für die Anfangsphase der 16. Legislaturperiode hat die große Koalition bereits Beachtliches geleistet, nicht zuletzt im steuerlichen Bereich.
Entscheidend ist aber, dass die Bundesregierung sich mit Vernunft an die sorgsam ausgehandelte Agenda des Koalitionsvertrages hält. In einem ersten Schritt geht es darum, durch rasch wirksame Maßnahmen auf eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und eine Belebung der Konjunktur hinzuwirken. In einer zweiten Phase sollen grundlegende strukturelle Reformen in Angriff genommen werden, die sorgfältiger Vorbereitung bedürfen, zum Beispiel die Unternehmensteuerreform. Schnellschüsse können und wollen wir uns nicht leisten.
Ich denke, mit den bereits umgesetzten und noch anstehenden Maßnahmen unter dem Motto „Sanieren, Investieren, Reformieren“ sind wir auf einem viel versprechenden Weg.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele von der FDP-Fraktion.
Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Für die FDP begrüße ich die Zielrichtung des vorliegenden Gesetzentwurfes. Denn auch wir sind der Auffassung, dass die Rahmenbedingungen für zusätzliches Wachstum und Beschäftigung dringend verbessert werden müssen. Auch als Opposition freuen wir uns darüber, dass sich die Stimmung in unserem Land verbessert und die Leute mehr Kraft erhalten, die Zukunft selbst zu gestalten. Es ist allerdings nicht automatisch so, dass, nur weil die CDU mit in der Regierung ist, nach sieben mageren Jahren unter Rot-Grün sieben fette Jahre unter Schwarz-Rot kämen.
Wir brauchen mehr Wachstum: Durch ein höheres Wirtschaftswachstum entstehen dauerhaft mehr Arbeitsplätze, die Ausgaben für den Arbeitsmarkt sinken und das Steueraufkommen steigt. Die Überschrift des Gesetzes der Koalitionsfraktionen wird durch seinen Inhalt aber nicht gedeckt. Die vorgesehenen Maßnahmen sind im Gesamtzusammenhang zu sehen: Parallel zu diesem Steuergesetz planen Sie mit der Anhebung der Mehrwertsteuer und der Versicherungsteuer um 3 Prozent die größte Steuererhöhung, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat. Ab dem nächsten Jahr werden den Bürgern 25 Milliarden Euro pro Jahr mehr abgenommen. Dieses Geld wird den Menschen fehlen, um in anderen Bereichen gewünschte Nachfrage zu tätigen und damit Beschäftigungseffekte auszulösen. Wir als FDP halten diese Steuererhöhungsorgie für grundfalsch und werden ihr im Bundesrat auf keinen Fall zustimmen.
Der Finanzminister und der Wirtschaftsminister kennen diesen Zusammenhang und wissen deshalb, dass dieses Gesetz die gewünschte Wirkung nicht entfalten wird; sie wissen, hier werden Placebos verteilt, aber nicht die Weichen für eine bessere Zukunft unseres Landes gestellt. Das ist vermutlich der Grund, warum sie bei der abschließenden Beratung dieses Gesetzes im Bundestag nicht anwesend sind.
Die FDP hat die Sorge, dass die größte Steuererhöhung in der Geschichte Deutschlands den Aufschwung bremsen wird. Der Euroraum ist nicht der Wachstumsmotor der Welt. Das für 2006 prognostizierte Wachstum der Weltwirtschaft ist mit 4,5 Prozent enorm. Das Wachstum in Europa liegt mit 2,4 Prozent deutlich niedriger. Die Bundesregierung hat das Wachstum in Deutschland für dieses Jahr auf 1,4 Prozent geschätzt. Deshalb sind wir der Auffassung, dass Deutschland keine Verschlechterung der Stimmung vertragen kann, und wir appellieren noch einmal an die Koalition, diese Mehrwertsteuererhöhung ernsthaft zu überdenken, weil die schädlichen Folgen jedem klar sind, sogar der Koalition.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, durch die Feststellungen der PISA-Studie wissen wir alle, dass die Bildung in unserem Land dringend verbessert werden muss. Wir wissen allerdings auch, dass das in den Elternhäusern anfängt. Wenn in der Frage der Mehrwertsteuererhöhung zwei plus null gleich drei ist, dann fängt PISA hier im Deutschen Bundestag, bei der Koalition und der Bundesregierung an.
Wegen der Steuererhöhungen sind die vorgesehenen Maßnahmen nicht geeignet, in Deutschland dauerhaft Wachstum anzuregen. Viele Regelungen verkomplizieren das Steuerrecht weiter und lassen jedes steuerpolitische Konzept vermissen. Die Gesetzentwürfe sind damit weder Ausdruck eines klaren steuer- und wirtschaftspolitischen Konzeptes, noch tragen sie der Tatsache Rechnung, dass die öffentlichen Haushalte insbesondere durch Einsparmaßnahmen, Subventionsabbau und die Überprüfung von Leistungsgesetzen zu sanieren sind.
Wer sich mit unserem Steuerrecht beschäftigt und sich längere Zeit damit auseinander setzt - Sie, Frau Staatssekretärin, gehörten sieben Jahre einer anderen Bundesregierung als Staatssekretärin an -, der weiß, dass Trippelschritte nicht ausreichen. Trippelschritte wurden reichlich gegangen, auch damals, unter Ihrer Führung. Wir brauchen einen größeren Wurf. Diesen in der Form rhetorisch zu brandmarken, wie Sie das vorhin in Ihrer Rede getan haben, ist ziemlich daneben.
Das Steuerrecht muss einfacher und verständlicher werden. In der gestrigen Debatte im Deutschen Bundestag zu diesem Thema hat die FDP einen ausformulierten Gesetzentwurf vorgelegt. Ich appelliere an Sie, sich diesen genau anzusehen. Er kann modifiziert werden. Er kann nach einer Anhörung verändert werden. Aber wir können doch nicht bis zum Jahr 2008 warten, ohne zu wissen, ob etwas kommt und wenn, was. Es besteht Unsicherheit allerorten. Das ist das Gegenteil dessen, was unser Staat an wirtschaftlichen Rahmenbedingungen braucht.
Angesichts dessen, dass hier häufig gesagt wird, die Durchschnittssteuerbelastung in Deutschland sei niedrig, kann ich Sie nur auffordern, einmal zum Finanzamt zu gehen und zu erklären, Sie wollten nach der Durchschnittsbelastung besteuert werden. Das wird Ihnen nicht gelingen. Für Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen sind die Durchschnitts- und die Spitzensteuersätze von entscheidender Bedeutung.
Sie müssen erkennen - die SPD bitte ich, in diesem Punkt endlich aus ihren ideologischen Schützengräben herauszukommen -, dass sich andere Länder mit uns in einem internationalen Wettbewerb befinden und dass sie ihre Positionen schon verbessert haben. Wir müssen dringend die Wettbewerbsposition Deutschlands verbessern. Bei der Steuerbelastung durch Unternehmensteuern liegen wir in Europa an der Spitze. Das führt dazu, dass in unserem Land nicht entsprechend investiert wird und dass eine entsprechende Zahl von Arbeitsplätzen nicht geschaffen wird. Deshalb muss das angegangen werden.
- Das ist durchaus denkbar. Sie, Herr Kollege, können aber schon bei unserer Steuerreform mitmachen. Dann hätten wir das Ganze ein Jahr früher geschafft.
- Das ist richtig. Aber die Zielrichtung muss stimmen. Ich höre, zumindest vonseiten der SPD, dass nicht alle Zielrichtungen geteilt werden.
Zum Thema Kinderbetreuung: Wir finden es gut, dass die ideologischen Grabenkämpfe endlich ausgestanden sind, dass private Haushalte als Arbeitgeber anerkannt werden und dass das nicht mehr als Dienstmädchenprivileg abgetan wird, so wie Sie das früher häufig getan haben. Die Regelungen hierzu sind aber ausgesprochen kompliziert. Sie sind in ihrer Kompliziertheit auch nach der Anhörung und der Beratung im Finanzausschuss schwer zu übertreffen: Ein Teil der Familien soll einen Teil der Kosten für einen Teil der Kinder für einen Teil der Aufwendungen absetzen dürfen. Es gibt ein Nebeneinander von Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten, Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen, Steuerbefreiungen und Steuervergünstigungen. Das versteht kein Mensch. Dazu braucht jeder Steuerpflichtige einen Steuerberater, und dabei können die Beratungskosten steuerlich nicht einmal mehr berücksichtigt werden.
Das ist absurd, meine verehrten Kollegen.
Ich bitte Sie, unseren Gesetzentwurf in diesem Punkt zu prüfen, der einen Abzug von bis zu 1 000 Euro im Monat vorsieht. Diese Regelung ist ganz klar. Sie könnten sie jederzeit isoliert aus unserem Gesetzentwurf übernehmen.
Die Dienstwagenbesteuerung ist ausweislich der Anhörungen des Finanzausschusses nicht geeignet, mehr Wachstum in unserem Lande zu ermöglichen. Hierzu müssen Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Ihre Einstellung aus meiner Sicht ändern. Denken Sie nicht nur an die Bürger, die diese Autos fahren und denen Sie neue Belastungen zumuten, denken Sie doch bitte auch an die Bürger, die diese Autos in Deutschland bauen, und deren Familien, die auf den Erhalt der Arbeitsplätze angewiesen sind.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Wenn wir nicht begreifen, dass wir alle mehr arbeiten müssen, um unseren Lebensstandard zu halten, wenn wir nicht begreifen, dass wir die Probleme unseres Landes nur lösen können, wenn wir den Bürgern mehr zutrauen als dem Staat, und wenn der Bürger nicht endlich mehr Freiheiten bekommt, damit er selbst Verantwortung übernehmen kann, dann befinden wir uns leider auf dem falschen Weg.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die FDP ist jederzeit zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit.
Unsere Konzepte liegen auf dem Tisch und die von Ihnen geplanten Steuererhöhungen machen wir auf keinen Fall mit - weder hier im Deutschen Bundestag noch im Bundesrat.
Fangen Sie deshalb an, auf der Ausgabenseite des Staates zu sparen, wie es von der Union vor der Wahl auch propagiert wurde, und verzichten Sie auf diese Steuererhöhungen. Sie helfen unserem Land nicht, Sie schaden ihm.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von der CDU/CSU-Fraktion.
Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung einen wichtigen Baustein zur Zukunftssicherung unseres Landes, nämlich den Gesetzentwurf zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung.
Die Zukunftsfähigkeit unseres Landes wird sich daran entscheiden, in welchem Maße unser Land die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu verändern und zu modernisieren. In diesem Zusammenhang stehen zwei zentrale Themen ganz oben auf der Tagesordnung, nämlich das Thema Innovation und das Thema Energie und Umwelt.
Innovationen sind für unser Land von zentraler Bedeutung; denn die wirtschaftliche Entwicklung stützt sich in zunehmendem Maße auf Wissenschaft, auf Wissen und auf Innovation. Kostensenkungen allein werden in Zukunft nicht ausreichen. Das Wort unseres Bundespräsidenten Horst Köhler, dass wir um das Maß besser sein müssen, um das wir teurer sind, ist mittlerweile ja zu einem geflügelten Wort geworden.
Es geht also darum, neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, mit denen wir uns auf den Weltmärkten von den Wettbewerbern absetzen können. Deutschland muss zu einer Innovationswerkstatt werden. Wir brauchen ein besseres Reizklima für Spitzenforschung und Technologie. Wir müssen uns also so aufstellen, dass neue Ideen eine Chance zur Umsetzung haben und daraus möglichst schnell marktreife Produkte werden.
Die Bundesregierung hat dies erkannt und die richtigen Schlüsse daraus gezogen, indem wir in dieser Legislaturperiode zusätzlich 6 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investieren werden. Mit diesen Mitteln werden unter anderem der Pakt für Forschung und Innovation, die Exzellenzinitiative und auch der Pakt für Hochschulen finanziert.
Wir wollen aber auch ausgewählte innovative Leuchtturmprojekte fördern, um den Technologiestandort Deutschland zu stärken.
Beispiele hierfür sind das Satellitennavigationssystem Galileo, die Weiterentwicklung von konventionellen Kraftwerken mit dem Ziel der Nullemission und auch die Entwicklung der Brennstoffzelle.
Angesichts der schwierigen Haushaltslage ist die Mobilisierung dieser 6 Milliarden Euro wirklich ein Kraftakt. Es ist zugleich aber auch ein Signal an die Länder und die Wirtschaft, diesem Beispiel zu folgen und auch in ihrem Bereich die Investitionen zu steigern. Vor allem soll es aber auch Forschern, Wissenschaftlern und jungen Talenten weltweit zeigen, dass wir es mit der Innovationswerkstatt Deutschland ernst meinen.
Die Förderung von Wissenschaft und Forschung schafft Investitionen und Arbeitsplätze in der Lasertechnik, in der Informationstechnologie, in der Nanotechnologie und im Maschinen- und Anlagenbau. Aber auch bei den erneuerbaren Energien sind wir Weltspitze. Milliarden wurden investiert und Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen. Aber - auch das gehört zur Wahrheit dazu -: Geld ist das eine, innovationsfreundliche Rahmenbedingungen sind mindestens ebenso wichtig, damit sich Ideen überhaupt entfalten und neue Technologien entwickelt werden können. Deshalb müssen wir besser werden, zum Beispiel bei der grünen Gentechnik und bei der Telekommunikation.
Die Innovationskraft des Landes zu stärken, ist für uns eine ökonomische und eine soziale Frage zugleich. Hier wollen wir in den nächsten Jahren Fortschritte machen.
Die Fähigkeit unseres Landes, sich zu verändern, bemisst sich auch daran, wie wir mit unseren Rohstoffen, Ressourcen und der Energie umgehen. Die Entwicklung der Rohstoff- und Energiepreise sowie der steigende Bedarf von Energie weltweit zeigen uns, dass wir Energie und Rohstoffe besser nutzen müssen, um unseren Wohlstand zu sichern.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang kurz ein paar Worte zu dem erst kürzlich veröffentlichten Grünbuch der Europäischen Kommission zur Energiepolitik. Das Grünbuch ist zu Recht nicht ohne Kritik geblieben. Aber es unterstreicht deutlich eine wichtige Strategie: weg vom Öl, hin zu mehr Energieeffizienz und zu erneuerbaren Energien. Wenn wir unsere Energieerzeugung nicht wettbewerbs- und zukunftsfähiger gestalten, dann wird der Energiebedarf der Europäischen Union in den nächsten 20 bis 30 Jahren zu 70 Prozent durch Importe gedeckt werden müssen; derzeit sind es 50 Prozent. Also sind die effiziente Nutzung von Energie und die Vermeidung von Energieverschwendung zentrale Punkte unseres Regierungshandelns.
Eine wichtige Säule ist das Gebäudesanierungsprogramm. Der Wohnungsbestand in Deutschland beträgt derzeit rund 39 Millionen Wohnungen, davon sind 80 Prozent aus energetischer Sicht sanierungsbedürftig. Das ist der Grund dafür, warum wir den Gebäudebestand in den nächsten Jahren sanieren wollen, zum Beispiel durch das Absetzbarmachen eines Teils der Handwerkerrechnungen von der Steuer. Wir wollen aber auch die Mittel in diesem Bereich beträchtlich aufstocken. Jährlich werden 1,4 Milliarden Euro zur energetischen Gebäudesanierung zur Verfügung stehen.
Das ist eine lohnenswerte Investition in die Zukunft. Wir werden damit Anreize für Investitionen von insgesamt circa 28 Milliarden Euro schaffen.
Vor allem wollen wir ein wichtiges Zukunftsfeld besetzen, nämlich den Umweltschutz als Arbeitgeber. In der vorherigen Debatte hat Frau Künast behauptet, die Regierung habe es verpasst, auf diesen Zug aufzuspringen. Dazu kann ich nur sagen: Wahrscheinlich hat Frau Künast das schnelle Regierungshandeln verpasst, sonst hätte sie gemerkt, dass wir in diesem Bereich sehr viel tun.
Vor allem wird dieses Programm in einem sehr wichtigen Arbeitsfeld helfen, nämlich der Stärkung des Handwerks und des Mittelstandes, was uns als Union besonders wichtig ist.
Die Energieforschung ist ein weiteres wichtiges Feld der Zukunft und muss in unserer Forschungspolitik ein höheres Gewicht bekommen.
Die Energieforschung ist eine der zentralen Säulen der Energiepolitik. Sie eröffnet eine Perspektive für eine sichere, umweltfreundliche und auch bezahlbare Energieversorgung der Zukunft.
Wir brauchen diese Innovation im Energiebereich, um Umweltbelastungen zu minimieren und die Versorgungssicherheit und die wirtschaftliche Produktivität zu erhöhen.
Deutschland zu modernisieren und zu einer Innovationswerkstatt zu machen, darin liegt eine ganz zentrale Aufgabe dieser Legislaturperiode. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen aus CDU/CSU und SPD haben hierfür die entscheidenden Pflöcke eingeschlagen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die Linke.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegenden Gesetzentwürfe, über die wir heute debattieren, sollen der ganz große Wurf werden. Wir sprechen über den Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung und zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen.
Das sind in dieser Legislaturperiode bereits die Steuergesetze Nummer drei und vier. Der große Wurf waren sie bisher alle nicht. Man hat den Eindruck, Sie bemühen sich in dem Wettbewerb: Wie denke ich mir eine schöne Überschrift aus und halte dabei den Inhalt möglichst klein? Das sieht man auch am Finanztableau und zudem daran, worüber wir bei der Behandlung dieser Gesetze in der Öffentlichkeit am meisten diskutiert haben.
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung wollen Sie mit dem steuerlichen Teil dafür sorgen, dass es mit der wirtschaftlichen Entwicklung jetzt richtig vorwärts geht. Wie soll es denn vorwärts gehen? Die umfangreichste Maßnahme in Ihrem Programm ist die Verbesserung der Abschreibungsbedingungen, mit der Sie die Absetzung für Abnutzung von 20 auf 30 Prozent heraufsetzen. Vor fünf Jahren sind Sie von der SPD, die Sie auch damals an der Regierung waren, den umgekehrten Weg gegangen.
Damals hat die Maßnahme nicht richtig gegriffen. Nun soll sie richtig greifen? Es fragt sich - vor allem vor dem Hintergrund, dass Sie im nächsten Jahr die Mehrwertsteuer erhöhen wollen -, ob das Erfolg haben kann.
Hinsichtlich der steuerlichen Geltendmachung von Handwerkerleistungen ist interessant, dass Sie zum einen auch bei den Handwerksdienstleistungen die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöhen und zum anderen eine Steuererstattung von 20 Prozent der Arbeitskosten ermöglichen wollen. Das heißt de facto nichts anderes, als dass Sie bei den haushaltsnahen Handwerkerleistungen nicht nur die Mehrwertsteuererhöhung zurücknehmen, sondern der Kunde bekommt gleich die ganze Mehrwertsteuer wieder zurück. Damit wollen Sie 50 000 Arbeitsplätze schaffen.
Erstens glaube ich, dass wir mit 50 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen nicht das Problem der über 5 Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland lösen werden.
Zweitens sollten Sie sich besser zu ernst zu nehmenden Maßnahmen aufschwingen.
Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf wurde in der Öffentlichkeit die Möglichkeit der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten am heißesten diskutiert. Richtig wäre es gewesen, wenn der Bund den Weg zu einer elternbeitragsfreien Kinderbetreuung für alle Kinder geebnet hätte. Dann müssten wir nicht darüber diskutieren, welches steuerliche Modell am besten greift.
Wir haben im Bundestag einen entsprechenden Vorschlag eingebracht. Sie haben klar signalisiert, dass Sie sich nicht entschließen konnten, diesem Weg zu folgen. Sie haben zwar einen Gesetzentwurf vorgelegt, aber Ihr Vorhaben ist sozial ungerecht. Ich glaube, es lohnt sich, Ihnen das deutlich zu machen. In sehr vielen Kommunen sind - sofern überhaupt Kindertagesbetreuung möglich ist - die Beiträge gleich hoch, wenn die Eltern über ein Einkommen verfügen, egal ob es 36 000 oder 70 000 Euro im Jahr beträgt. Die Eltern zahlen trotz unterschiedlicher Einkommen gleich hohe Beiträge.
Ausgehend von etwa 3 600 Euro Kinderbetreuungskosten im Jahr heißt das auf Ihr Modell bezogen, dass eine Familie mit einem Einkommen von 36 000 Euro eine steuerliche Entlastung in Höhe von 640 Euro erfährt. Das ist zunächst einmal gut und wir unterstützen das auch. Aber eine Familie mit einem Einkommen von 70 000 Euro wird bei gleicher Beitragszahlung um 830 Euro entlastet. Das halte ich für sozial ungerecht.
Deshalb haben wir einen Änderungsantrag vorgelegt, mit dem wir das heilen wollen, was möglich ist. Wir sehen eine steuerliche Rückerstattung für alle in gleichem Maße vor; ohne Progressionsvorbehalt kann wenigstens bei dieser Regelung soziale Gerechtigkeit erreicht werden, auch wenn sie dann immer noch nicht unseren Vorstellungen entspricht.
In dem zweiten Gesetzesvorhaben, das heute beraten wird, geht es um die Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass das meiste, was Sie damit angehen, nur der Klarstellung dient, dass die legale Steuerumgehung nicht mehr möglich sein soll. Aber das bezieht sich nur auf einen sehr kleinen Bereich. Ich frage Sie ernsthaft: Warum sind Sie auch hier nicht mutig genug, die richtigen Steuerumgehungsmöglichkeiten anzugehen?
Warum ist es möglich, dass in Deutschland internationale Konzerne Gewinne erwirtschaften und dadurch, dass sie ihre Bemessungsgrundlage über Lizenzgebühren und Schuldzinsen ins Ausland verlagern können, hier de facto keine Steuern zahlen? Das ist doch das Problem. Hier geht es um Größenordnungen, die ein Herangehen lohnen. Dazu sollten Sie den Mut aufbringen.
Wir als Linksfraktion schlagen Ihnen vor: Gehen Sie das an! Stellen Sie sich den Erfordernissen im Steuerrecht. Im Einkommensteuerbereich ist eine Anhebung des steuerfreien Existenzminimums notwendig. Wir brauchen endlich eine Modernisierung des Steuerrechts bezüglich der Steuerklassen und eine Reform der Unternehmensbesteuerung, die sicherstellt, dass auch bei Unternehmen eine Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfolgt, so wie es im Einkommensteuerrecht gelten müsste.
Gerade nach der gestrigen Debatte mit der Forderung der FDP und der Erwiderung durch die CDU/CSU fordern wir Sie auf: Lassen Sie die Finger von der Gewerbesteuer! Sie ist die einzige halbwegs stabile Finanzierungsgrundlage für die Kommunen und bietet zum Beispiel die Basis für die öffentliche Kinderbetreuung, einen wesentlichen Aufgabenbereich der Kommunen.
Dem Problem der über 5 Millionen Arbeitslosen müssen Sie sich auf andere Weise stellen, nicht mit einem solchen Klein-Klein. Legen Sie endlich Vorschläge vor, wie Sie das Problem sozial gerecht und vorwärts weisend angehen wollen! Wenn Sie nicht weiterwissen, können Sie gerne in unserem Steuerkonzept nachlesen.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung, dessen Entwurf zur Abstimmung steht, kann bestimmt ein Stück weit gute Laune verbreiten. Es enthält durchaus Ansätze, die in die richtige Richtung gehen. Aber es macht noch längst keinen konjunkturellen Sommer.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, wir brauchen konjunkturelle Impulse. Diese dürfen aber 2007 nicht durch Steuererhöhungen aufgehoben werden.
Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Versicherungsteuer um jeweils 3 Prozentpunkte ist kein Pappenstiel. Sie kann das verfügbare Einkommen- je nach Umsetzung- um 1 Prozent verringern. Wir haben bereits ein Kaufkraftproblem in der Bundesrepublik Deutschland; darauf wird ständig hingewiesen. Aber Sie konterkarieren mit dem, was Sie im nächsten Jahr tun wollen, das, was Sie heute beschließen. Sie geben zwar in diesem Jahr mit den 6 Milliarden Euro einen Impuls für mehr Innovation- darauf hat Katherine Reiche bereits hingewiesen- und damit auch für mehr Wachstum und Beschäftigung, setzen aber im nächsten Jahr Steuererhöhungen mit einem Volumen von 20 Milliarden Euro dagegen. Sie werden so den positiven Impuls dämpfen und leider nicht das erreichen, was Sie sich vorgenommen haben. Das erinnert mich ein bisschen an die Echternacher Springprozession, bei der man einen Schritt vor- und dann drei Schritte zurückgeht. Anschließend wundert man sich, dass man nicht vorwärts kommt.
Vor dem Hintergrund steigender Kapitalmarktzinsen seitens der Europäischen Zentralbank, des inflationären Effekts der geplanten Mehrwertsteuererhöhung sowie steigender Energiepreise schlagen Sie einen riskanten Weg ein. Ich kann Ihnen nur raten: Kehren Sie um! Wenn Sie etwas für die konjunkturelle Belebung tun wollen, dann sollten Sie nicht ein solches Stückwerk wie den vorliegenden Gesetzentwurf, sondern ein gescheites Konzept vorlegen.
Alle Fragen, die im Zusammenhang mit der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme von zentraler Bedeutung sind, sind nicht beantwortet. In den Koalitionsfraktionen gibt es schon wieder Streit über das zukünftige Vorgehen bei der Kranken- und der Pflegeversicherung. Ich bedauere sehr, dass Sie dazu noch keinen Vorschlag gemacht haben. Sicher hat das etwas mit den bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt zu tun. Aber, Herr Müntefering, wir wären sehr froh, wenn endlich Konzepte vorgelegt würden. Vielleicht sind Sie in der Lage, konkret zu sagen, was geplant ist. Die Kanzlerin schweigt jedenfalls.
Aber unsere Kritik ist nicht nur grundsätzlicher Art, sondern betrifft auch die einzelnen Regelungen - und das ist, wie wir finden, durchaus berechtigt.
Da ist zum einen Ihr landauf, landab gelobtes Vorhaben zur Ausweitung der steuerlichen Absetzbarkeit erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Das ist ein wunderbares Ziel, aber Ihre Lösung ist enorm kompliziert. Um das deutlich zu machen, zitiere ich aus einem Schreiben des Bundesfinanzministeriums zu den betreffenden Regelungen:
Zur besseren Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Beruf können erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres in Höhe von zwei Dritteln der Aufwendungen, höchstens 4 000 Euro je Kind, wie Betriebsausgaben oder Werbungskosten berücksichtigt werden.
So weit ist es noch einigermaßen verständlich. Weiter heißt es:
Dies gilt für erwerbstätige Alleinerziehende und im Falle des Zusammenlebens beider Elternteile, wenn beide Elternteile erwerbstätig sind. Eine entsprechende Regelung gilt auch, wenn nur ein Elternteil erwerbstätig und der andere Elternteil behindert, dauerhaft krank oder in Ausbildung ist.
Ist nur ein Elternteil erwerbstätig und der andere Elternteil nicht behindert, dauerhaft krank oder in Ausbildung, dann können für alle Kinder, die das dritte Lebensjahr vollendet, das sechste Lebensjahr aber noch nicht vollendet haben, Kinderbetreuungskosten in Höhe von zwei Dritteln der Aufwendungen, höchstens 4 000 Euro je Kind, als Sonderausgaben geltend gemacht werden.
Dahinter steht in Klammern der genaue Paragraph und dann heißt es:
§ 35 a EStG soll nur noch für solche Aufwendungen zur Kinderbetreuung in Anspruch genommen werden können, die nicht unter die vorgenannten Regelungen fallen.
Sie haben wohl gemerkt, dass das alles ein bisschen komisch ist, und deshalb etwas Wunderbares gemacht, um das Ganze zu verbessern, nämlich einen Antrag nachgeschoben. In dem Schreiben heißt es weiter:
Klarstellend wurde durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen aufgenommen, dass Aufwendungen für Unterricht, die Vermittlung besonderer Fähigkeiten sowie für sportliche und andere Freizeittätigkeiten auch durch § 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG nicht begünstigt sind. Zudem wird durch eine Ergänzung von § 26 a EStG eine Regelung zur Aufteilung der Kinderbetreuungskosten für den Fall aufgenommen, dass grundsätzlich nach § 26 EStG zusammen zu veranlagende Ehegatten eine getrennte Veranlagung nach § 26 a EStG beantragen.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren, mit allem Ernst: Versteht das irgendjemand von denen, die nicht im Finanzausschuss sitzen, nicht aus der Finanzverwaltung kommen und nicht Steuerberater oder Steuerberaterin sind? Versteht das jemand aus der normalen Bevölkerung? Ich glaube nicht.
Sie haben etwas vorgelegt, was gedanklich in die richtige Richtung geht, aber in der praktischen Umsetzung völlig unmöglich ist. Aus diesem Grunde haben wir vom Bündnis 90/Die Grünen den Vorschlag gemacht, dass einfach ein fester Betrag von der Steuerschuld abgezogen wird, wobei völlig egal ist, ob jemand allein erziehend ist, ob es sich um Verheiratete handelt oder ob eine Person oder beide Personen erwerbstätig sind. Es wird schlicht ein fester Betrag in Abzug gebracht. Alle Kinder der Steuerpflichtigen sind gleichviel wert. Damit hätten wir eine klare Regelung, die jeder Mensch in dieser Republik verstehen würde. Ich verstehe nicht, warum Sie sich unserem Begehren nicht anschließen können, sondern an Ihrer hoch komplizierten Regelung festhalten, obwohl Sie immer sagen, das Steuerrecht solle einfacher und transparenter werden. Hier haben Sie genau das Gegenteil gemacht.
Zu den Handwerkerleistungen: Wir unterstützen, dass die Abzugsfähigkeit haushaltsnaher Dienstleistungen auf alle Handwerkerleistungen ausgeweitet wird. Aber auch hier bleibt unklar, ob tatsächlich alle Handwerkerleistungen gemeint sind, also unabhängig davon, ob die Handwerker in der Handwerksrolle eingetragen sind oder nicht. Wir haben dazu einen sehr konstruktiven Vorschlag gemacht, der dahin geht, dass man die Streitanfälligkeit im Vollzug des Steuergesetzes vermeidet. Wir sagen: Schreiben Sie in das Gesetz hinein, wie es gemeint ist! - Aber nein, Sie schreiben es nicht in den Gesetzestext, sondern Sie verweisen auf die Gesetzesbegründung und darauf, dass es ein Anwendungsschreiben der Finanzverwaltung zu diesem Thema gibt. Wahrscheinlich dauert es wieder Monate, bis es da ankommt, wo es ankommen soll. Kein Mensch versteht es und letztendlich werden sich wieder die Finanzgerichte mit Streitfällen beschäftigen. Sie bauen neue Bürokratie auf, statt Bürokratie abzubauen, was Sie in hehren Texten immer so schön formulieren. In der Praxis halten Sie das aber nie ein. Das ist die Kritik, die wir an diesem Punkt haben.
Sie sorgen dafür, dass einige unerwünschte Umgehungsstrategien für Steuersparkünstler nicht länger möglich sind. Das halten wir für richtig. Wir halten es allerdings nicht für richtig, dass Sie die Regelung über die Besteuerung von Dienstwagen verkompliziert haben, sodass viel Streit vor den Finanzgerichten vorprogrammiert ist. Wir wollen eine Regelung, die nicht zu einer Ungleichbehandlung zulasten der kleinen Selbstständigen - genau das bewirken Sie nämlich - führt.
Die vorgeschlagenen Regelungen sind willkürliches Stückwerk. Sie verkomplizieren das Steuerrecht, statt es zu vereinfachen. Sie bauen neue Bürokratien auf, statt diese abzubauen. Sie lassen keine Linie erkennen. Politischer Anspruch und Wirklichkeit klaffen eklatant auseinander. Das ist nicht der richtige Weg. Machen Sie Ihre Hausaufgaben gescheit! Tun Sie etwas für das Land! Dazu muss die Umsetzung stimmen und es genügt nicht, dass nur die Worte schön klingen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Finanzminister von Rheinland-Pfalz, Herr Staatsminister Gernot Mittler.
Gernot Mittler, Staatsminister (Rheinland-Pfalz):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem ursprünglichen Gesetzentwurf zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen hat die Bundesregierung auch eine Ergänzung von § 13 b des Umsatzsteuergesetzes vorgesehen, mit der für bestimmte Leistungen, nämlich für Gebäudereinigungen, die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers begründet werden sollte. In der Gesetzesbegründung dazu hieß es - ich zitiere -:
Da in diesem Bereich typischerweise nicht sichergestellt werden kann, dass entsprechende Umsätze von den leistenden Unternehmern vollständig im allgemeinen Besteuerungsverfahren erfasst werden bzw. der Fiskus den Steueranspruch beim Leistenden realisieren kann, dient diese Maßnahme der Verhinderung von Umsatzsteuerausfällen.
Diese Konstruktion der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft, die von der Fachwelt als Reverse-Charge-Verfahren bezeichnet wird, hat im Bundesrat nur deshalb keine Mehrheit gefunden, weil sie in der vorgeschlagenen Form praktisch kaum vollziehbar gewesen wäre und zu teilweise nicht sachgerechten Ergebnissen geführt hätte. Deshalb wurde sie für diesen begrenzten Anwendungsbereich als nicht tauglich angesehen.
Im Übrigen wollte der Bundesrat eine weitere Insellösung für einen so eng begrenzten Markt vermeiden in der Sorge, dass jede weitere Insellösung eine Verzögerung oder gar Behinderung einer bei der Umsatzsteuer notwendigen Systemmodifikation zur Folge haben könnte. Eine solche grundlegende Verfahrensänderung ist jedoch im Hinblick auf die enormen Steuerausfälle, die wir bei der Umsatzsteuer festzustellen und zu beklagen haben, unabwendbar und unaufschiebbar.
Was die Größenordnung angeht: Das Ifo-Institut schätzt, dass dem deutschen Fiskus jährlich circa 17 Milliarden Euro verloren gehen. Zum Vergleich: Das ist ziemlich genau so viel, wie die Gesamteinnahmen aller Länder aus der Kfz-, der Grunderwerb- und der Erbschaftsteuer zusammengenommen.
Wir erleben seit fünf Jahren eine unerhörte Erosion des Umsatzsteueraufkommens. Seit 2000 ist der Konsum in Deutschland, also die eigentliche Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer, um rund 9 Prozent gewachsen, das Umsatzsteueraufkommen hingegen um 1 Prozent gesunken. Eine steuersystematische Begründung dafür gibt es nicht. Wir wissen aber, dass es Steuerhinterziehung und bandenmäßig organisierte Umsatzsteuerhinterziehung insbesondere im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr gibt, den wir mit administrativen Möglichkeiten niemals beherrschen werden.
Unser Mehrwertsteuersystem ist geradezu eine Einladung zu Betrug und Hinterziehung. Auch hierzu ein Beispiel: 2003 hat der Bundesstaat 137 Milliarden Euro an Umsatzsteuer eingenommen, 103 Milliarden Euro aus Mehrwertsteuer, 34 Milliarden Euro Einfuhrumsatzsteuer. Die Gesamtsumme der in Deutschland fakturierten Mehrwertsteuer betrug 548 Milliarden Euro. In der Kasse des Fiskus verblieben davon, wie gesagt, 103 Milliarden Euro, also weniger als ein Fünftel. Die übrigen gut vier Fünftel oder 445 Milliarden Euro sind, fiskalisch gesehen, ein Nullsummenspiel und wurden in einem gigantischen Zahlungs-, Berechnungs-, Verrechnungs- und Erstattungsverfahren zwischen Unternehmen und Finanzämtern hin- und hergeschoben. In diesem Topf von 445 Milliarden Euro - das ist das rund 1,8fache Volumen des Bundeshaushalts - matschen allmonatlich bzw. vierteljährlich 4,8 Millionen Unternehmer - nicht alle sind ehrenwerte Kaufleute - herum, sozusagen in einem gewaltigen Selbstbedienungsladen.
Doch wird der Fiskus nicht allein durch Steuerhinterziehung und kriminelle Machenschaften geschädigt. Es gibt auch systemimmanente Steuerverluste, zum Beispiel im Insolvenzfalle. Im Zuge eines Planspiels, das im vergangenen Jahr im Auftrag der Finanzminister von Bund und Ländern zum Zwecke der Erprobung eines Systemwechsels durchgeführt wurde, wurde der Steuerausfall durch Insolvenzen auf jährlich 5,7 Milliarden Euro geschätzt.
Schließlich sind bei keiner anderen Steuer die Niederschlagungsbeträge in den Finanzämtern so hoch wie bei der Umsatzsteuer:
Im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2004 waren dies jährlich 3,3 Milliarden Euro. Das sind rund 3 Prozent des gesamten Steuersolls. Das ist das 3,3-fache des Niederschlagungswerts bei der Lohn- und Einkommensteuer.
Aus alldem ergibt sich: Wir brauchen eine Reform des Umsatzsteuersystems in der Weise, dass die Umsatzsteuer auf Rechnungen zwischen Unternehmen nicht mehr ausgewiesen wird. Diesem Ansatz liegt eine einfache Logik zugrunde. Wo die Steuer in Rechnungen nicht offen ausgewiesen wird, also nicht bezahlt werden muss, kann sie auch nicht hinterzogen werden.
Die Finanzminister der Länder setzen sich seit einigen Jahren vehement und einmütig für einen solchen Systemwechsel ein. Er ist auch Bestandteil der Koalitionsvereinbarung vom November vergangenen Jahres. Der Bundesfinanzminister wird nunmehr auf europäischer Ebene, auf die es ankommt, den Systemwechsel durch einen Ausnahmeantrag für Deutschland nach Art. 27 der EG-Richtlinie betreiben.
Das bereits erwähnte Planspiel führt im Ergebnis zu einer positiven Einschätzung der Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens. Der Sachverständigenrat befürwortet diese Maßnahme in seinem jüngsten Gutachten ebenfalls.
Aber nicht nur der deutsche Fiskus ist betroffen. Auch aus Untersuchungen in anderen Ländern, zum Beispiel in Frankreich und Großbritannien, wissen wir, dass die dortigen Fisken ebenfalls unter immensen Umsatzsteuerverlusten leiden. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass in der EU insgesamt den Staaten jährlich zwischen 60 und 80 Milliarden Euro verloren gehen. Das sind rund zwei Drittel des Gesamthaushalts der Europäischen Union.
Wenn diese Dimension des Einnahmeverlusts bei der Umsatzsteuer in den Köpfen der Verantwortlichen in Brüssel und in den Mitgliedstaaten einmal realisiert sein wird, ist der Systemwechsel nur noch eine Frage von kurzer Zeit. Es ist gut, dass die Bundesregierung im Sinne der Verkürzung dieser Zeit in Europa tätig wird. Ich bin ganz sicher, dass europaweit die Umsatzsteuer längst zur Achillesferse der öffentlichen Haushalte geworden ist.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war ein Unikum. Das war nämlich zugleich die erste und die letzte Rede des Kollegen Mittler hier im Hause; denn er wird sich auf eigenen Wunsch aus der politischen Tagesarbeit zurückziehen und kandidiert nicht mehr für den Landtag in Rheinland-Pfalz. Herr Mittler, ich bedanke mich für Ihren Beitrag und wünsche Ihnen für Ihren persönlichen Lebensweg im Namen des Hauses und auch persönlich alles Gute.
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von der FDP-Fraktion.
Frank Schäffler (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Bei den Überschriften ist diese große Koalition wirklich groß. „Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen“, „Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung“, das klingt nach Konzept und Strategie. In Wirklichkeit ist es aber Flickschusterei.
Bei Ihrer Politik stehen das weitere Abkassieren und anschließende Verteilen von kleinen Geschenken im Mittelpunkt. Sie glauben, dass der väterliche Staat es richten wird. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen Ihnen und uns.
Da Frau Staatssekretärin Hendricks Beispiele aus der Tierwelt herangezogen hat, will ich hier auch sagen: Mit vollen Hosen lässt sich gut stinken. - Sie wollen eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte durchsetzen. Sie wollen eine Versicherungsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte durchsetzen. Sie wollen 20 Milliarden Euro Liquiditätsentzug beim Mittelstand durchsetzen. Das haben Sie schon beschlossen. In diesem Jahr müssen 13-mal Sozialversicherungsbeiträge durch den deutschen Mittelstand bezahlt werden. Zum 1. Januar nächsten Jahres wollen Sie die Rentenversicherungsbeiträge um 0,4 Prozentpunkte anheben. Außerdem wollen Sie nach der Landtagswahl einen Gesundheitssoli einführen. Sagen Sie der Bevölkerung doch die Wahrheit!
Gleichzeitig können jetzt alle ein bisschen Handwerkerrechnungen und ein bisschen Kinderbetreuungskosten absetzen. Das ist wirklich sehr beeindruckend.
In Ihrem großen Gesetzeswerk beschäftigen Sie sich dann auch mit den wirklich wichtigen Themen, zum Beispiel der Versteigerung von Tankquittungen im Internet. Morgen sind Sie wahrscheinlich der Meinung, dass wir Handyrechnungen oder Taxiquittungen gesetzlich regeln müssen. Dieses wichtige Thema wird nicht dazu führen, dass die Staatsfinanzen in Deutschland tatsächlich ins Lot gebracht werden.
Ich dachte auch, dass die Steuerstundungsmodelle mit Ihrem Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm bereits im Dezember abgeschafft worden seien. Jetzt hat die Regierung wieder eins gefunden. Morgen findet sie vielleicht wieder eins und übermorgen wieder. Sie meinen sogar, dass Sie damit mittelfristig 500 Millionen Euro Steuermehreinnahmen erzielen können. Gut, dass das in unserem Steuersystem keiner nachprüfen kann.
Sie werden es nicht schaffen, Gestaltungsmodelle zu verhindern, wenn Sie nicht an die grundlegende Reform der direkten Steuern herangehen.
Wir haben Ihnen in dieser Woche ein Steuerkonzept dazu vorgelegt. Wir brauchen jetzt ein einfacheres und gerechteres Steuerrecht mit niedrigeren Steuersätzen. Sie verschieben die notwendigen Reformen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Hören Sie auf, diesem Parlament ständig Flickwerk zu präsentieren! Dieses Land hat es besser verdient.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Olav Gutting von der CDU/CSU-Fraktion.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 26. Sitzung - wird am, Montag, den 20. März 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]