Die Werbung liebt den Sündenfall
Gott ist ein Label. Zumindest, wenn man den Strategien der Werbeagenturen glauben darf. Dort, wo man seit Jahren aus den großen religiösen Erzählungen die unterschiedlichsten corporate designs zusammenbastelt, scheint klar: der letzte Schrei liegt näher an den letzten Dingen, als gemeinhin geglaubt. Während die Kirchen in der pluralistischen Gesellschaft vermehrt an "Marktanteilen" verlieren, schlagen sich neue Sinnanbieter mit ausgeklügelten Kampagnen bewusst in die frei werdende Lücke.
Dabei geht es nicht mehr nur darum, dass PR-Agenturen hemmungslos aus dem klassischen Fundus heiliger Texte plündern. Längst ist vom Sündenfall bis zu Michelangelos Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle jeder Code durchgespielt worden, der aus dem religiösen Bewusstsein der Moderne herausgepurzelt ist.
Als in den 70er-Jahren erste Marken wie "Jesus Jeans" anfingen, die Religion für die eigene Sache zweit zu verwerten und sich mit Slogans wie: "Du sollst keine andere Jeans neben mir haben", ketzerisch in die Tabuzone warfen, sorgten derartige Samples und Zitate noch für kulturelles Unwohlsein. Heute, wo jede Volksbankfiliale bereits den "Weg frei gemacht" hat, um so die Gläubiger trockenen Fußes durchs Schuldenmeer zu schicken, erzeugen solche Sinngebilde beim Konsumenten allenfalls noch müdes Gähnen.
Seitdem das Produkt mehr und mehr zum Markenfetisch aufgepuscht worden ist und neben Funktion auch noch kurzweilige Sinnbefriedigung zu liefern hat, wird mit jeder Werbepause Kredit und Credo ausgeklügelter auf Sendung geschickt. Die Bild-Zeitung etwa machte erst jüngst den Dalai Lama zu ihrem hochkarätigen Werbeträger. Während das geistige Oberhaupt der Tibeter sein Buch "Ratschläge des Herzens" exklusiv in "Bild" vorabdrucken ließ, erkor Deutschlands größte Boulevardzeitung in einer Plakatkampagne seine schreibende Heiligkeit zu ihrem Hausautoren. Nutzen hatten am Ende beide davon. Dem Dalai Lama, im Konkurrenzkampf der Kulturen längst selbst zu Chiffre und Label geworden, brachte es die nötige Publicity und der Bild-Zeitung jenes spirituelle Feeling, das aus konventionellem Meinungsjournalismus einen Stein der Weisen machen kann.
Der amerikanische Medienkritiker Neil Postman, zu Lebzeiten bereits für seinen Kulturpessimismus bekannt, erkannte in solchen Strategien schon früh einen Ausverkauf von Werten und beklagte "die Entleerung der Symbole in der entmündigten Gesellschaft". Doch handelt es sich bei diesem Boom des Religiösen, bei den PR-Sperenzien mit Engeln, Teufeln und himmlischen Boten tatsächlich nur um die sinnentleerte Zwischennutzung eines tradierten Kommunikationssystems oder bricht sich hier die religiöse Natur unserer postmodernen Daseins Bahn?
Hatte der Soziologe Max Weber die Moderne noch mit den Klischees von "Entzauberung", "Ernüchterung" und "Rationalisierung" beschrieben, so hielt der Germanist Jochen Hörisch vor einigen Jahren in der Wochenzeitung "Die Zeit" dagegen: "Verzauberter, fetischistischer, rätselhafter und exzentrischer", so die Erkenntnis des Professors nach einem langen Fernseh-abend, "dürfte keine Kulturepoche gewesen sein als die der späten Moderne".
In der Werbung als komplexem Zeichengefüge zur Erzeugung von Images, Emotionen und Lebensgefühlen zeitigen die Sakramente einen konsumistischen Kult. Heilszeichen, die vom geglückten Leben durch Einkauf und Verbrauch zeugen. Hier kommen nicht nur die bedeutenden Markenmythen zur Darstellung, nach denen Reichtum ein sichtbares Zeichen der Auserwählung ist, Armut aber der Gottesferne. Hier wird auch der Weg zur Erlösung im Lifestyle gewiesen.
In einem Fragment gebliebenen Werk aus dem Jahr 1921 hat der Philosoph Walter Benjamin als erster die These vertreten, dass im modernen Kapitalismus eine Religion zu erblicken sei: "Der Kapitalismus", so Benjamin, "dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben." Das neue Bekenntnis mag sich zwar auf dem Christentum parasitär entwickelt haben. Von nun an aber sei die Geschichte des Abendlandes wesentlich die "Geschichte seines Parasiten, des Kapitalismus". So weit vorgewagt hatte sich bis dato noch niemand. Und als wäre dem Philosophen sein eigener Mut nicht ganz geheuer, erklärte er seine Thesen bald zu einer "Universalpolemik": "Wir können das Netz, in dem wir stehen, nicht zuziehen. Später wird das jedoch überblickt werden."
Nach dem Ende der Ideologien und dem Fundamentalismus der neoliberalen Märkte scheint Benjamins Überlegung wieder aktueller denn je. Dort, wo der "invisible Hand" der Marktlogik längst die gleiche Macht zugesprochen wird wie dem Wirken der allmächtigen Hand eines unsichtbaren Gottes und wo gesellschaftlicher Konsum zum letzten verbindlicher Wert geworden ist, hat sich der Kapitalismus längst zu einer Sache von Glauben und Erlösung verstiegen.
Ralf Hanselle ist freier Journalist in Berlin.