Gaza kommt nach dem Abzug der Israelis nicht zur Ruhe - verspielen die Palästinenser ihre Chance?
In den Morgenstunden des 12. September haben die letzten israelischen Soldaten den Gazastreifen verlassen - seither herrschen dort Unruhe und Gewalt: "Die Gesamtsituation in Gaza ist eine der schlechtesten seit jeher", beschreibt Suleiman Abu Dayyeh, Projektleiter für die palästinensischen Gebiete bei der Friedrich-Naumann-Stiftung Jerusalem, den Stand. "Die Sicherheitslage ist sehr instabil." Bewaffnete Truppen beherrschten die Straße - nicht aber die palästinensische Polizei. Dabei sei Gaza ein wichtiger Test: "Wenn wir in Gaza durchfallen, können wir jegliche Lösung für die nächsten zehn Jahre vergessen", prophezeit der Palästinenser.
Seit Wochen bekommt die Polizei die bewaffneten islamistischen Gruppen dort nicht in den Griff. Clans tragen ihre Streitereien mit Waffen aus, berichtet Abu Dayyeh. Auch Vertreter der gemäßigten Fatah-Partei fordern deshalb ein konsequenteres Durchgreifen der Sicherheitskräfte: Man dürfe den Terroristen nicht das Feld überlassen, kritisiert Abdalah Zegary, Führer der Fatah-Jugend in der Region Bethlehem, den Kurs: "Die palästinensische Regierung sollte hart gegen die militanten Gruppen vorgehen", sagt der Student, weil er um die Situation in Gaza fürchtet.
Aber Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas scheut die offene Konfrontation mit den Extremisten, meint Abu Dayyeh. Er habe Angst vor einer Spaltung der palästinensischen Bevölkerung, die letztendlich in eine bürgerkriegsartige Situation münden könnte.
Abu Dayyeh beruft sich auf Umfragen: Danach unterstützen mittlerweile rund 35 Prozent der Palästinenser des Gazagebiets die Hamas. "Viele wenden sich ihr zu, weil die palästinensische Autorität die Erwartungen der Menschen nicht erfüllt." Wirtschaftlich gesehen gehe es den Leuten schlechter als vor dem Rückzug. Und - aus palästinensischer Sicht sei der Abzug der Siedler und Truppen nicht genug. Abu Dayyeh sagt, man könne nicht von Souveränität sprechen, da Israel die Grenzen Gazas weiterhin zu Land, Wasser und Luft kontrolliert: "Man hat den Gazastreifen zu einem großen Gefängnis umgewandelt." Eine echte Vorleistung für den Frieden sei das nicht.
Auf israelischer Seite bewertet man die Situation freilich anders. Wie Natan Sznaider, Professor für Soziologie am Academic College in Tel Aviv, erklärt, sei der Rückzug ein großer symbolischer Akt: "Jeder im Land kennt die Bedeutung von Gaza", sagt er. "Der Rückzug hat wahrscheinlich dazu beigetragen, die nationalen Aspirationen der Palästinenser auf Souveränität einen Schritt näher zu bringen."
Für den Israeli, der Erez Israel als "ethnischen Nationalstaat" bezeichnet, hat die Gebietsrückgabe noch eine andere Dimenson: Israel müsse die besetzten Palästinensergebiete loswerden, um die jüdische Mehrheit im Land zu behaupten. Das liege am demografischen Faktor, also an der Tatsache, dass Palästinenser im Schnitt mehr Nachwuchs bekommen als Israelis. "Man hat eingesehen, dass jüdische Souveränität durch die Besatzung ernsthaft in Frage gestellt wird." Deshalb strebe man eine ethnische Trennung an.
Aber wo, wenn man Sznaider folgen will, sollten die Grenzen einer solchen ethnischen Trennungslinie verlaufen? Die Grenzfrage ist für den Soziologen offen: "Keiner in Israel würde sagen, dass die Grenzen von 1967 heilig sind", behauptet er. Umgekehrt sieht das Abu Dayyeh: "Frieden bedeutet, dass Israel sich auf die Grenzen von 1967 zurückzieht" - entsprechend den Vereinbarungen, die beide Seiten 2003 in der Roadmap trafen.
Kernpunkt des Konflikts ist die Jerusalem-Frage. Doch auch hier, in der geteilten Stadt, die Juden wie Moslems heilig ist, ist man jeder Lösung fern. Der Journalist Wladimir Struminski, Korrespondent der Jüdischen Allgemeinen, hat selbst lange dort gelebt. Er vergleicht Jerusalem mit einer Zwiebel, deren Kern das Allerheiligste, der Tempelberg, ist und bemerkt: "Von den Rändern trennt man sich gern, aber wenn man beim Kern ankommt, fließen die Tränen."
Die Verquickung der politischen, historischen und religiösen Aspekte sei Schuld daran, dass es zu keiner Einigung komme: "Die Gottbezogenheit auf beiden Seiten ist die beste Garantie dafür, dass es hier keinen Frieden geben wird."
Hochproblematisch ist auch die seit zwei Jahren andauernde Abtrennung der Stadt durch Zaun und Mauer von der umliegenden Westbank. Von Befürwortern gelobt, weil die terroristischen Anschläge seither drastisch zurückgingen, kritisieren Zivilrechtler wie Sarah Kreimer von der Organisation "Ir Amim" ("Stadt der Völker") den andauernden Bau, weil er die Lebensqualität der anwohnenden Menschen ignoriere. Die Mauer schaffe Sicherheit für die Israelis, aber sie verschlechtere die wirtschaftliche Lage der Palästinenser.
Wohin Israel und Palästina in nächster Zukunft steuern, ist unklar. Israels Premier Ariel Scharon wird Abbas frühestens Ende des Monats treffen. Keiner der beiden kann es sich unter dem Druck der eigenen Reihen derzeit leisten, mit leeren Händen zurückzukehren: Scharon nicht, wegen der Attacken aus dem rechten Flügel seiner Likud-Partei. Abbas nicht, weil er politische Erfolge vorweisen muss, wenn er den Terroristen ihre Legitimation entziehen will. Ob Abbas' Strategie, die Hamas politisch einzubinden, aufgeht, wird sich frühestens nach den für Januar 2006 geplanten palästinensischen Parlamentswahlen zeigen.
Eine Prognose für die Zukunft? Wenn alles gut läuft - die Wahlen, die Rückkehr zur Roadmap und wenn es wieder Verhandlungen gibt - ist es vorstellbar, dass man sich aufeinander zubewegt, sagt Abu Dayyeh. "Aber Frieden? Da habe ich Zweifel!" Auch Sznaider will nicht von einem Friedensprozess sprechen. Eher von einem politischen Prozess, von dem Versuch beider Seiten, Leben zu bewahren. "Geht es im Nahen Osten überhaupt um Frieden? Vielleicht sollte man lieber ,Waffenstillstandsprozess' oder ,Nichtkriegsprozess' sagen."