Sie sind entnervt, frustriert, verzweifelt: Immer mehr Hochschulabsolventen hangeln sich von einem Praktikum zum nächsten
Schock, Enttäuschung, Wut. Oft kann Florian Lamp stundenlang nicht einschlafen, weil er sich ärgert, weil er sich ausgenutzt fühlt, weil er nicht weiß, wie es weitergehen soll. "Man hat doch seine Eltern als Vorbilder", sagt er ein wenig hilflos. "Die haben studiert und sind was geworden. Heutzutage studiert man, macht dann jahrelang Praktika und lässt sich ausbeuten."
Lamps Fall ist sicherlich ein besonders krasses Beispiel dafür, wie schamlos in manchen deutschen Unternehmen mit Hochschulabsolventen umgegangen wird. Vermutlich nicht ganz untypisch für die Werbebranche. Doch die Erfahrung, im Berufsleben nicht erwünscht zu sein - es sei denn als billige und temporäre Arbeitskraft -, müssen immer mehr junge Akademiker machen.
Andrea Schmidt (Name geändert) zum Beispiel. In einem dicken Ordner hat sie alle Absagen abgeheftet, die sie auf ihre zahlreichen Bewerbungen bekommen hat. "Damit ich wenigstens weiß, was ich die ganze Zeit getan habe", erzählt die Politologin, die vor einem Jahr Examen gemacht hat, in einem Anflug von Galgenhumor. Neben ihrem Studium hat sie ein Volontariat bei einer Tageszeitung und verschiedene Praktika im Pressebereich absolviert.
Zu zwei Vorstellungsgesprächen wurde die 27-Jährige eingeladen. Doch den Job bekam beide Male jemand anderes. Zwei Zeitungspraktika - das war alles, was die ausgebildete Journalistin und studierte Politologin seit ihrem Examen ergattern konnte.
Fast jeder kennt Leute wie Andrea Schmidt oder Florian Lamp: Universitätsabsolventen, die zügig studiert und nebenher jede Menge praktische Erfahrungen gesammelt haben - und die sich nach ihrem Examen von Praktikum zu Praktikum hangeln, oftmals ohne Entgelt, ohne soziale Absicherung.
Dass die Zahl der prekären Übergänge von der Universität ins Berufsleben zunimmt, darin sind sich auch die Experten einig. Einer Erhebung der Bundesagentur für Arbeit zufolge entschieden sich im Juni 1999 etwa 3.600 der dort betreuten Hochschulabsolventen für ein (sozialversicherungspflichtiges) Praktikum. Im September 2004 waren es 8.600 - eine Steigerung um 141 Prozent.
Von einer "Generation Praktikum", die die "Zeit" vor einigen Monaten ausrief, will Karl-Heinz Minks, Leiter der Projektgruppe Absolventenuntersuchungen des Hochschul-Informations-Systems Hannover, dennoch nicht sprechen: "Das Thema wurde in den Medien überzeichnet dargestellt", sagt er. "Dass Hochschulabsolventen insgesamt kaum Chancen haben, in den Beruf zu finden, kann ich nicht erkennen." Von dem Problem seien vor allem vier Gruppen von Universitätsabgängern betroffen: Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaftler sowie Architekten. Doch auch bei diesen seien regelrechte "Praktikumskarrieren" nach dem Studium eher selten.
Allerdings: Eine repräsentative Studie zu der Frage, wie viele Absolventen welcher Fakultäten nach dem Examen erst einmal ein Praktikum machen, gibt es nicht. Daher weiß auch niemand so genau, wie lange diese dauern und wohin sie führen. Das Hochschul-Informations-System widmet deshalb in seiner diesjährigen Befragung von Hochschulabsolventen diesen Fragen erstmals besondere Aufmerksamkeit. Erste Ergebnisse werden im Frühjahr 2007 vorliegen. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund erstellt derzeit in Zusammenarbeit mit der Hans-Böckler-Stiftung eine Studie zu dem Thema. Die Resultate werden voraussichtlich im Frühjahr 2006 veröffentlicht.
Was auch immer die Ergebnisse dieser Studien im Detail aussagen werden - von der Dringlichkeit, auf die Ausbeutung vieler Akademiker-Praktikanten öffentlich aufmerksam zu machen, ist Bettina Richter schon lange überzeugt. Nach ihrem Examen verschickte die Wirtschaftswissenschaftlerin 120 Bewerbungen und machte drei Praktika, zwei davon unvergütet. Ein Jahr später hielt die 26-Jährige endlich die ersehnte Zusage für eine Anstellung als Marketingassistentin bei einem großen Sozialverband in den Händen. Die Freude währte nicht lange. Denn ihr neuer Arbeitgeber verlangte, dass sie zunächst vier Wochen lang ein unbezahltes Praktikum absolvieren müsse.
Wenige Tage später gründete die resolute Berlinerin mit einigen Mitstreitern "fairwork", die deutschlandweit erste Interessenvertretung von Hochschulabsolventen in prekärer Jobsituation. Sie ist nicht nur Anlaufstelle für Praktikanten-Akademiker, die sich von "ihren" Unternehmen ausgenutzt fühlen oder einfach frustriert sind über die Praktikumsschleife, die sie seit ihrem Examen drehen. Den "fairwork"-Initiatoren gelang es auch, die Aufmerksamkeit der Medien für das Thema "Praktikum statt Job" zu wecken. Sogar das "heute-journal" widmete "fairwork" und seinem Anliegen einen Beitrag.
"Viele Unternehmen suchen gezielt Hochschulabsolventen als Praktikanten und zahlen ihnen oft weniger als der Putzfrau. Gleichzeitig sparen sie dadurch reguläre Arbeitsplätze ein", sagt Richter. Sie findet es empörend, dass viele Akademiker dadurch lange nach ihrem Hochschulabschluss immer noch auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind: "Im Grunde finanzieren die Eltern oder die Gesellschaft ihren Arbeitsplatz." "Fairwork" fordert deshalb eine gesetzliche Regelung. Die Unternehmen sollten verpflichtet werden, ihren Praktikanten eine Vergütung von mindestens 750 Euro Netto im Monat zu zahlen.
Minks hält von dieser Forderung wenig: "Das trägt nur dazu bei, Dumping-Löhne zu etablieren, die wenig Sinn haben." Statt einer gesetzlichen Regelung plädiert er für eine Selbstverpflichtung der Unternehmen, Praktikanten zu fairen Bedingungen einzustellen, und verweist auf das Projekt "Fair Company" der Zeitschrift "Junge Karriere".
Das Magazin verleiht seit Oktober 2004 ein Praktikums-Gütesiegel an Unternehmen, die folgende vier Kriterien erfüllen: Sie entlohnen ihre Praktikanten fair und werben sie nicht mit der vagen Aussicht auf einen Job an. Sie ersetzen mit ihnen keine Vollzeitstellen und beschäftigen Hochschulabsolventen nicht als Praktikanten. Der Initiative haben sich inzwischen über 200 Firmen angeschlossen, im Juli erschien erstmals der Ratgeber "Fair Company Guide", in dem alle diese Unternehmen vorgestellt werden.
Auch die Jugendorganisation des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) nimmt sich seit einiger Zeit verstärkt des Themas "Ausbeutung von Praktikanten" an. Auf ihrer Website können junge Leute ihre Praktika bewerten. Interessierte finden dort auch den "Leitfaden für ein faires Praktikum". Außerdem berät der DGB Praktikanten in rechtlichen Fragen. "Viele Praktikanten wissen gar nicht, dass sie auch Rechte haben", sagt Silvia Helbig, Jugendreferentin beim DGB. Allerdings: "Die Betroffenen gehen nicht gern an die Öffentlichkeit, weil sie Angst um ihre berufliche Zukunft haben." Bettina Richter hingegen machte von den rechtlichen Möglichkeiten Gebrauch und reichte Klage gegen ihren ersten Arbeitgeber ein. "Ich wollte dem einfach zeigen, dass es Arbeitsgesetze gibt, an die auch er sich halten muss", sagt die junge Frau. "Ich habe im ersten Monat meiner Tätigkeit dort völlig selbständig gearbeitet und genau die gleichen Aufgaben erledigt wie in den folgenden Monaten. Das war definitiv kein Praktikum." In der Güteverhandlung stimmte das Unternehmen zu, ihr die Hälfte ihres damaligen Monatseinkommens von 2.000 Euro zu zahlen.
Manchmal träumt Richter davon, dass möglichst viele andere Dauerpraktikanten ihrem Beispiel folgen. Dadurch, so hofft sie, ließe sich ein Umdenken erreichen. Doch immerhin: Die Politik scheint auch ohne Klagewelle auf die Problematik aufmerksam zu werden. Bundestagsabgeordnete verschiedener Fraktionen haben bereits vereinbart, sich mit den "fairwork"-Machern zu treffen. Und am 10. November um 18 Uhr findet im DGB-Bundesvorstand in Berlin eine Podiumsdiskussion mit der stellvertretenden Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt (Bündnis 90/ Die Grünen) und Klaus Brandner, dem Wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, zu dem Thema statt.
Andrea Schmidt wird die Politiker nicht fragen können, wie sie das Problem "Praktikum statt Anstellung" lösen wollen. Sie hat sich eine Auszeit genommen vom frustrierenden Dauerkampf um einen Job und ist für zweieinhalb Monate nach Rom gegangen. "Das Bewerben hatte einfach keinen Zweck", erzählt sie. Zurück nach Deutschland zieht es sie nicht sonderlich.
Florian Lamp hat sich inzwischen bei einer anderen Werbeagentur beworben. Vor ein paar Tagen rief ihn eine Dame aus der Personalabteilung an: Leider könnten sie ihn nicht als Junior Texter einstellen. Er könne aber gerne ein Praktikum bei ihnen machen, ein halbes Jahr lang, für 400 Euro im Monat.