Die Vereinigten Staaten bleiben eine kolossale Wirtschaftsmacht. Doch unantastbar sind sie längst nicht mehr
Im Oktober gaben die Washingtoner Wirtschaftsstatistiker ihre neuesten Zahlen bekannt, und demnach ist das amerikanische Sozialprodukt im dritten Quartal (auf das Jahr hochgerechnet) wieder um stabile 3,8 Prozentpunkte gewachsen. Die durchschnittlichen Einkommen der Amerikaner haben im September um 1,7 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zugelegt, nachdem sie im August leicht gefallen waren, vermutlich wegen des Schocks der Wirbelstürme. Der Einzelhandel hat seine Schrecksekunde ebenfalls schon hinter sich: Im Sturm-Monat August hatten die Amerikaner ihre Ausgaben um ein halbes Prozent heruntergeschraubt, doch im September ging es wieder um den gleichen Betrag hinauf.
So könnte man meinen, die amerikanische Wirtschaft sei stark wie nie. Amerika sei ein wirtschaftlicher Koloss, dem Verwüstungen durch Wirbelstürme und explodierende Ölpreise, kostspielige Kriege in fernen Ländern und eine zunehmende Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung nichts anhaben können. Es bleibt dabei: Mit Amerika kann sich kaum ein anderes Land in Fragen der Produktivität, der Mobilisierung von Arbeitskräften und des Wachstums messen.
Doch ausgerechnet in Amerika selber hört man in diesen Tagen zunehmend besorgte Stimmen zur Wirtschaftslage. Trotz der unerschütterlich erscheinenden Wirtschaftsdaten spricht der Ökonom James Hamilton von der University of California in San Diego von einer "Neuen Angst". Robert Shiller von der Universität Yale, der in den 90er-Jahren als einer der wenigen Ökonomen vor dem bevorstehenden Kollaps der Aktienmärkte warnte, zieht mit düsteren Vorhersagen durch Talkshows und akademische Seminare. Bill Gross, der viel zitierte Direktor des kalifornischen Brokerhauses PIMCO, wetterte im Oktober in einem Rundbrief an seine Investoren, dass der amerikanische Wohlstand der vergangenen Jahre in Wahrheit eine Burg aus Sand denn aus Granit sei. Die einzige Frage ist, wann das Meer kommt und sie wegspült, schrieb Gross. Wovon reden diese Herren?
Der neue Pessimismus unter amerikanischen Wirtschaftsbeobachtern hat mit eben jenen Umständen zu tun, die Amerikas Konjunktur in den vergangenen Jahren so widerstandsfähig gemacht haben. Ein wesentlicher Teil dieses ‚Wirtschaftswunders’ hat nämlich damit zu tun, dass die Welt Amerika Geld leiht - viel Geld. Man kann dies aus dem so genannten Leistungsbilanzdefizit ablesen, das im Augenblick auf sieben Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts zusteuert, ein Rekord aller Zeiten.
Das Leistungsbilanzdefizit drückt - vereinfacht - aus, dass Amerika aus aller Welt mehr Güter und Dienstleistungen einführt als es selber exportiert, und dass es dafür im Gegenzug immer mehr Schulden bei diesen Ländern macht. Vor einigen Jahren waren es Investoren aus aller Welt, die Geld- und Aktienanlagen in den USA für besonders profitabel hielten und deshalb ihr Geld über die großen Teiche schickten. Heute sind es hauptsächlich asiatische Notenbanken, die auf Gedeih und Verderb versuchen, den Dollarkurs zu stützen und deshalb viele Dollars einkaufen. So oder so ist diese Situation eine Zeitbombe, denn die Geldgeber könnten es sich jederzeit anders überlegen und ihr Geld wieder abziehen. So passierte es in den 80er-Jahren während der Ära Reagan, als der Dollarkurs stark schwankte, 1987 die Börsen krachten. Weltweite Finanztumulte waren die Folge.
Vorläufig jedenfalls fließt viel preiswertes, hoffnungsfrohes Kapital in die Vereinigten Staaten und fördert dort an anderer Stelle das unsolide Wirtschaften. Ökonomen streiten sich darum, wie viele Schulden ein Staat für seine Regierungsgeschäfte aufnehmen darf, und ob es überhaupt jemals gefährlich werden kann. Doch auf jeden Fall wachsen die Haushaltsdefizite des amerikanischen Bundes, der Staaten und vieler Städte und Gemeinden rasant. Das Defizit der amerikanischen Bundesregierung betrug zuletzt 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was im Vergleich mit vielen europäischen Staaten nicht dramatisch erscheint. Dennoch blicken Steuerexperten sorgenvoll auf die langfristigen Prognosen.
Früh in seiner Amtszeit hatte George W. Bush eine Fülle langfristiger Steuersenkungen festgeschrieben, deren Auswirkungen sich über Jahrzehnte erstrecken werden und deren Hauptteil erst in der Zukunft wirksam wird. Entsprechend gespart hat die Bush-Adminis-tration nicht: So ließ sie den Kongress Ende 2003 publikumswirksam beschließen, den staatlichen Gesundheitsdienst für Arme und Alte auszuweiten. Über die Finanzierung wurde kaum geredet. David M. Walker, der üblicherweise kühle Chef des Rechnungshofes, sprach jedenfalls vom verantwortungslosesten Haushaltsjahr in der Geschichte des Landes.
Doch nirgendwo setzte sich das Wirtschaften auf Pump so nachhaltig durch wie in den Privathaushalten der amerikanischen Mittelschicht. Viele Ökonomen kratzen sich immer noch den Kopf angesichts des rätselhaften Einkaufsbooms, den Amerika seit Jahren erlebt. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 fielen zwar die Börsen, die Investitionen amerikanischer Unternehmen wurden ängstlich zurückgeschraubt, aber amerikanische Konsumenten retteten die Konjunktur. Sie kauften ungebrochen ein - auf Pump. Das lässt sich an der so genannten Sparquote ablesen. In den 50er- und 60er-Jahren hatten die Amerikaner noch jährlich acht Prozent ihres verfügbaren Einkommens auf die hohe Kante gelegt, in den Jahrzehnten danach wurde es Schritt für Schritt immer weniger. Seit dem Jahr 2000 sparen die Amerikaner fast gar nichts mehr. Im Sommer 2005 wurde ein historischer Moment erreicht: Nun legt der durchschnittliche Amerikaner gar nichts mehr zurück, sondern er plündert sein Erspartes und schöpft seine Kreditkarten aus. Die Sparquote ist negativ geworden.
Ein Grund dafür ist der grenzenlose Optimismus, der vielen Amerikanern zu eigen ist. Ein anderer ist der breit gestreute Hausbesitz. Vor allem in den dicht besiedelten amerikanischen Küstenregionen sind seit der Jahrtausendwende die Hauspreise gestiegen - je nach Wohnlage um 40, 60 oder 100 Prozent im Jahr. Kein Wunder, dass sich viele Amerikaner plötzlich reich fühlten. Weil der Notenbankchef Alan Greenspan zur gleichen Zeit die Zinsen niedrig hielt, kauften viele Amerikaner ihre Hypothekenkredite zurück, finanzierten ihre Häuser mit den niedrigen Zinsen neu und nahmen nicht selten noch ein paar Zehntausend Dollar extra auf - für ein neues Auto, eine Reise, eine Renovierung. Etliche Banken boten waghalsige Formen von Hypothekenverträgen an wie zum Beispiel solche, bei denen man gar nichts mehr tilgt und nur noch die Zinsen bezahlt, oder noch weniger als das. Die amerikanische Notenbank schätzt, dass auf diese Weise allein 2004 rund 600 Milliarden Dollar locker gemacht wurden. 25 bis 30 Prozent davon könnten in den Konsum geflossen sein. Das allein würde dann ein ganzes Prozent des amerikanischen Wirtschaftswachstums erklären und von einem Wirtschaftswunder wenig übrig lassen.
Und damit zu den Pessimisten. Längst hebt die Notenbank in Washington wieder die Zinsen an, der designierte neue Notenbankchef Ben Bernanke will die Inflation so eisern bekämpfen wie der bis zum Jahresende amtierende Alan Greenspan. Das dürfte manchen gewagt finanzierten Hypothekenkredit bald unbezahlbar machen. Die Hauspreise steigen schon nicht mehr so schnell wie im vergangenen Jahr.
In einem pessimistischen Szenario könnte nämlich alles ganz schnell gehen: fallende Hauspreise und steigende Zinsen; weniger empfundener Wohlstand; keine neuen Möglichkeiten zur Refinanzierung; weniger Konsum; eine schwächere Konjunktur; Zusammenbrüche von Firmen, die auf den Absatz ihrer Güter in Amerika angewiesen sind; ein resultierender Vertrauensverlust internationaler Anleger in die amerikanische Wirtschaft; ein Fall des Dollars, den selbst die Stützungskäufe asiatischer Notenbanken nicht mehr aufhalten können.
In einer solchen Lage könnten dann auch andere wirtschaftliche Nachrichten wieder ins Bewusstsein der Amerikaner zurückkehren, die in der letzten Zeit vom allgemeinen Optimismus beiseite gewischt wurden. Da sind zum Beispiel die anhaltend hohen Ölpreise, die das Heizen und das Autofahren auf absehbare Zeit verteuern.
Dann ist da auch der Aufstieg und der Machtgewinn des Wirtschaftsriesen China, der amerikanische Arbeitsplätze gefährdet und in diesen Tagen aggressiv einst glanzvolle amerikanische Marken aufkauft. Der amerikanischen Unternehmenslandschaft könnte unterdessen noch eine Reihe von Großpleiten bevorstehen, etwa unter den Fluggesellschaften oder den Automobilfirmen. Derweil verursacht die gewaltige Aufrüstung den Amerikanern Kosten, der teure Krieg im Irak dauert an, und neue Konflikte mit anderen Ländern wie dem Iran und Nordkorea drohen.
Als der Markt zusammenbrach, verhielten sich die Amerikaner nicht, wie die ökonomische Theorie es vorhergesagt hätte. Sie verhielten sich so, wie es ihre Vorgänger in der Großen Depression der 30er-Jahre getan hatten: Sie verschanzten sich in ihren Häusern, bezahlten ihre Kredite nicht mehr und warteten auf die Vertreter der Banken. So beschrieb der amerikanische Wirtschaftsjournalist James Fallows kürzlich in einer pessimistischen Vorschau in The Atlantic Monthly, wie er sich Amerika nach dem nächsten Wirtschaftskollaps vorstellt.
Sicher muss es nicht so schlimm kommen wie zu Zeiten der Großen Depression: Notenbankiers und Wirtschaftspolitiker wissen heute besser Bescheid denn je, wie man bei einem Wirtschaftskollaps gegensteuert. Doch sicher ist, dass die Mahner heute ernsthaftere Argumente auf ihrer Seite haben denn je. Der Wirtschaftskoloss USA ist verletzbar geworden und könnte mit wenigen Schlägen ins Wanken gebracht werden. Trotz der scheinbar so rosigen Wirtschaftskennziffern.
Thomas Fischermann ist Korrespondent der "Zeit" in New York.