Glasnost in Genf: Wie die WTO sich bemüht, in der Praxis demokratisch zu werden
Wissenschaftler, Journalisten und Entwicklungslobbyisten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) durften den Versuch beobachten, den Dauerzwist über hormonbehandeltes US-Exportfleisch für Europa beizulegen. Glasnost in Genf: Die umstrittene Welthandelsorganisation (WTO) will Transparenz demonstrieren und Demonstranten widerlegen, die ihr undemokratische Geheimdiplomatie zu Lasten armer Erdteile und ökologischer Belange vorwerfen.
Die Initiative für mehr Offenheit kommt wohl kaum zufällig in dem Moment, da die WTO vor der gewaltigsten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung 1995 steht. Auf dem Ministergipfel in Hongkong im Dezember soll ein Durchbruch in der Welthandelsrunde gelingen. Ein erneuter Misserfolg könnte nicht weniger als das Ende des Versuchs bedeuten, global gültige Handelsabkommen zwischen armen und reichen Erdteilen zu erreichen.
Ende 1993 war es den damals 123 Mitgliedsstaaten der WTO-Vorläuferorganisation GATT letztmals gelungen, eine für viele Erdteile verbindliche Liste von Zollsenkungen und anderen Handelserleichterungen zu vereinbaren. Längst drängen Industriekonzerne, Dienstleister und Landwirte auf ein neues Abkommen, um ihre Exportchancen zu verbessern. Doch die Verhandlungen schleppen sich hin.
Scheitert der Poker um ein neues Abkommen, würden die Globalisierungskritiker mancher NGO aufjubeln. 1999 besetzten sie zu Tausenden die Straßen von Seattle. Der Start der Welthandelsrunde gelang erst zwei Jahre später in Doha, der Hauptstadt des Wüstenemirats Katar. Noch immer hoffen die Gegner auf ein Fiasko bei der noch laufenden "Doha-Runde", wie der Gesprächsmarathon getauft wurde.
Christina Deckwirth von der deutschen Entwicklungs-NGO Weed warf der WTO vor, ihren Geburtstag zu Jahresbeginn "auf dem Rücken der Armen zu feiern". Für Pia Eberhardt von Attac hat "die Liberalisierungsmaschine WTO erheblich dazu beigetragen, dass die Schere zwischen Arm und Reich größer geworden ist".
Entgegen allem Kritikerfuror ist die Welthandelsorganisation, zumindest auf dem Papier, eine äußerst demokratische Veranstaltung. Jeder der inzwischen 148 Mitgliedsstaaten verfügt nur über eine Stimme, Singapur und Togo genauso wie die USA. Wenn ein kleiner Mitgliedsstaat in den Verhandlungen Nachteile für sich sieht oder sich an die Wand gedrückt fühlt, kann er sein Veto einlegen - und damit das globale Abkommen im Alleingang zu Fall bringen. Angesichts dieser multiplen Erpressungsmöglichkeiten wirkt es erstaunlich, dass es 1993 überhaupt gelang, ein Welthandelsabkommen zu vereinbaren. Offenbar besteht zwischen den Politikern entlang der Kontinente Konsens über die Vorteile eine solchen Vereinbarung.
Die Weltbank erwartet von einem neuen Bündel von Handelserleichterungen weitreichende Effekte. Das Einkommen der Menschheit würde zehn Jahre lang um rund 500 Milliarden Dollar pro Jahr zunehmen. Etwa 150 Millionen Erdbewohner könnten aus der Armut befreit werden, so die Weltbanker.
Das Alltagsgeschäft der Organisation, die Beilegung von Handelsdisputen zwischen Mitgliedsstaaten, mutet im ersten Eindruck weniger spektakulär an. Sieht ein Land seine Exporte freihandelswidrig gebremst, kann es die WTO anrufen, die ein Gremium von Schiedsrichtern einrichtet. Die Organisation hält dieses Instrument für sehr erfolgreich. Unter dem Druck des Genfer Schiedsrichters einigen sich viele Streithähne vorzeitig. Und selbst die größten Wirtschaftsmächte, die Europäische Union und die USA, haben sich noch jedem Richterspruch gebeugt - ob es sich um die EU-Blockade amerikanischen Hormonfleisches, widerrechtliche Zölle für europäische Stahlhersteller oder Steuersubventionen für US-Exportriesen wie Microsoft oder Boeing drehte.
Was die Streitschlichtung wert ist, wird deutlich, wenn man sich die Abwesenheit dieses Instruments vorstellt. Einzelkonflikte könnten eskalieren, die politischen Beziehungen zwischen den Kontrahenten belasten und das weltweite Freihandelsklima ruinieren - mit unabsehbaren Folgen für die exportabhängige Weltkonjunktur.
In Genf gilt nicht das Recht des Stärkeren. In den vergangenen Monaten verhalfen die WTO-Schiedsrichter mehrmals Entwicklungs- und Schwellenländern zu Siegen über die EU oder die USA, die Importe ärmerer Länder von so wichtigen Produkten wie Bananen, Zucker und Baumwolle behinderten.
Gemessen wird die Genfer WTO-Zentrale unter ihrem neuen Generalsekretär Pascal Lamy wohl vor allem daran, ob sie die Welthandelsrunde zum Erfolg führen kann. Der Franzose hatte noch als EU-Handelskommissar 2003 das Scheitern des Ministergipfels im mexikanischen Cancun erlebt, als Globalisierungskritiker durchs Kongresszentrum tanzten. Um die mexikanische Gipfelleitung zum Aufgeben zu bewegen, hatte es schon genügt, dass die Vertreter zweier afrikanischer Staaten den Saal verließen - ernsthafte Verhandlungen über den Zankapfel Landwirtschaft hatten noch gar nicht begonnen.
Frustriert schimpfte Lamy damals, das WTO-Sekretariat besitze zu wenig Vollmachten, um die Verhandlungen ausreichend zu steuern. Die Entscheidungsprozeduren seien mangelhaft: "Die WTO ist eine mittelalterliche Organisation", so die Diagnose des Mannes, der heute Generalsekretär ist. Lamy bleibt keine Zeit für Strukturreformen, die WTO ist schon auf dem Dezember-Gipfel in Hongkong zum Erfolg verdammt. Ihr Grundprinzip - ein Land, eine Stimme, eine Vetomöglichkeit - steht in Frage. Die USA drohten schon 2003, die Mühen eines globalen Abkommens hinter sich zu lassen und stattdessen bilaterale Verträge mit einzelnen Staaten anzustreben. Sie könnten auf diesem Weg die Macht des Stärkeren einsetzen. Wenn der Multilateralismus der WTO scheitern und es keine Welthandelsabkommen mehr geben würde, dürften schwächere Partner, also alle anderen Handelsnationen mit Ausnahme Europas, die Verlierer sein.
Es ist schwieriger geworden, ein weltweit gültiges Handelsabkommen zu erreichen, weil sich die Gewichte verschieben. Die Doha-Runde wurde 2001 mit dem Anspruch gestartet, dass die so genannte Dritte Welt besonders profitieren sollte. Doch die ärmsten Länder fürchten, durch die Öffnung der Agrarmärkte der Industriestaaten ihre Vorzugskontingente zu verlieren - und damit alle ihre Marktanteile an hocheffiziente Produzenten wie Brasilien oder Thailand.
Gleichzeitig hat sich - in Widerspruch zu den Thesen der Globalisierungskritiker - eine Gruppe von Schwellenländern als neue Macht etabliert. Brasilien, Indien, China und andere wollen sich nicht mehr von Europa und den USA dominieren lassen. Sie verlangen, dass die reiche Welt echte Konkurrenz auf ihren abgeschotteten Agrarmärkten zulässt - andernfalls wollen sie keinem Abkommen zustimmen.
Für die Industriestaaten steht viel auf dem Spiel. Sie könnten ihre Exporte enorm steigern, öffneten sich die boomenden Schwellenländer durch ein neues Abkommen stärker für westliche Autokonzerne, Banken oder Versorger. Doch in den USA und Europa blockieren die traditionell hochsubventionierten Bauern und ihre Interessenvertreter in der Politik einen Abbau der Zölle auf Agrarimporte, die nach Berechnungen des Schweizer Ökonomen Richard Senti im Schnitt immer noch prohibitive 20 bis 30 Prozent betragen. Die französische Regierung drohte mehrfach, mit einem Veto die ganze Welthandelsrunde platzen zu lassen. Die Verlagerung von Jobs nach Osteuropa, Asien und Lateinamerika hat westliche Arbeitnehmer so verunsichert, dass Politiker glauben, mit Protektionismus Wählerstimmen zu erobern. Allerdings lassen neutrale Beobachter keinen Zweifel daran, dass sich Amerikaner und vor allem die Europäer im Agrarbereich bewegen müssen, wenn ein Handelsabkommen gelingen soll. Selbst der frühere EU-Handelskommissar und Franzose Pascale Lamy ruft die EU auf, ein ähnlich weitreichendes Angebot zum Abbau ihrer landwirtschaftlichen Zölle zu machen wie die USA. Freihandel oder Abschottung: Die Industriestaaten müssen sich entscheiden, ob sie das Welthandelsabkommen aufs Spiel setzen, die Globalisierung bremsen - und so den Wohlstand ihrer Bürger gefährden wollen.
Alexander Hagelüken ist Europakorrespondent der
"Süddeutschen Zeitung" in Brüssel.