Der verlorene Kontinent: An Afrika geht die Globalisierung vorbei
Wahr ist, dass Afrika in der globalisierten Wirtschaft der Gegenwart weder als Absatzmarkt noch als Produktionsstandort von Gewicht ist. Wahr ist aber auch, dass afrikanische Rohstoffe immer interessanter für die großen Wirtschaftsmächte werden. Afrika ist im Begriff, im Zuge der Globalisierung einen Platz einzunehmen, der ihm bereits vor 100 Jahren zur Zeit der europäischen imperialen Expansion zugedacht war: als Lieferant von Primärprodukten.
Nach Afrika fließen derzeit die größten Investitionen seit Jahrzehnten - aber sie landen in nur wenigen, ausgewählten Sektoren. Der größte ist der Bereich Öl und Gas: die Tiefsee-Ölfelder von Angola und Äquatorialguinea, die Erdgasausbeutung in Nigeria, die Ölpipeline von Tschad nach Kamerun, die Ölfelder Tschads und Sudans.
Eine andere attraktive Branche ist die Telekommunikation: Afrika hat seit mehreren Jahren die höchsten Wachstumsraten der Welt im Mobilfunk, was unter anderem am desolaten Zustand der Festnetze und durch eine in vielen Ländern sehr weit gehende Liberalisierungspolitik und Offenheit für ausländisches Kapital liegt. Nischen, wie Stahl in Liberia, Bauxit in Guinea, Diamanten in Angola oder Kobalt im Kongo stoßen darüber hinaus auf spezielles Interesse.
Die beiden Länder mit den größten ausländischen Ölinvestitionen im Vergleich zur einheimischen Wirtschaft weisen daher auch derzeit die höchsten Wachstumsraten auf: 34,2 Prozent in Äquatorialguinea 2004 und 20,5 Prozent im Tschad. Afrikas gesamtes Wirtschaftswachstum stieg im Jahr 2004 auf den Acht-Jahres-Rekord von fünf Prozent, rechnete der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem jüngsten Afrika-Jahresbericht vor und prognostizierte erneut fünf Prozent für 2005. Die Außenorientierung der afrikanischen Wirtschaft nimmt den IWF-Zahlen zufolge eindeutig zu: Die Ausfuhrquote als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts stieg von 32,8 Prozent 2002 auf 35,5 Prozent 2004. Während die Leistungsbilanz des Kontinents insgesamt weiter im Minus liegt, steigt sie bei den ölproduzierenden Ländern Afrikas von einem tiefen Minus (-8.3 Prozent 2002) in ein hohes Plus (+5,5 Prozent 2005).
Doch die Rohstoffextraktion in Afrika ist mit dem Rest der betroffenen Volkswirtschaften kaum integriert. Millionensummen können in Ölförderanlagen fließen, während direkt nebenan die Bevölkerungen weder Strom noch Wasser haben. Der Bau von Straßen und Hafenanlagen zwecks Rohstoffexport über Freihandelszonen mag zwar die Handelsbilanz verbessern, aber die Bedürfnisse der Menschen nach leichterer Warenzirkulation, Verringerung von Transportkosten und mehr Rechtssicherheit in lokalen Marktkreisläufen sind dadurch nicht automatisch erfüllt. Von den Prioritäten und den Summen, die Entwicklungsexperten als Bedingung zu einer effektiven Armutsbekämpfung nennen, ist die auf Rohstoffextraktion orientierte Investitionssteigerung, die Afrika derzeit erlebt, weit entfernt.
300 Milliarden Dollar über 20 Jahre in Basisinfrastruktur und Verbesserung der Agrarproduktivität fordert beispielsweise die Deutsche Welthungerhilfe in einem Expertengutachten, um Hunger in Afrika nachhaltig zu reduzieren. Die panafrikanische Entwicklungsinitiative "Nepad" aus dem Jahre 2001, die massive ausländische Investitionen im Tausch für eine grundlegend verbesserte Regierungsführung in Afrika verlangte, setzte den Kapitalbedarf des Kontinents auf 64 Milliarden Dollar im Jahr an. Nepad-Exekutivdirektor Firmino Mucavele aus Mosambik erhöhte diese Summe im Oktober bei einer UN-Tagung in New York sogar auf 110 Milliarden jährlich. Das ist sehr viel mehr als sogar China zur Spitzenzeit des China-Investitionsbooms an Investitionszusagen erhielt, geschweige denn an tatsächlich getätigten Investitionen - und China hat mehr Einwohner als alle afrikanischen Länder zusammen.
Die Zeiten, in denen in Afrika mit bescheidenen Zahlen operiert wurde, es mit Mini-Erhöhungen aus europäischen Entwicklungshilfsetats abgespeist werden konnten, sind vorbei. UN-Generalsekretär Kofi Annan bezifferte den Bedarf Afrikas an Entwicklungshilfe auf 37 Milliarden Dollar 2006, 52 Milliarden in 2010 und 84 Milliarden 2015. Je mehr Großinvestitionen in Afrikas Rohstoffindustrie realisiert werden, desto dringender stellt sich die Frage, wieso nicht auch großes Geld in die Erfüllung afrikanischer Bedürfnisse fließt und nicht nur in die der Weltmärkte.
Bekannte Probleme - Protektionismus in den reichen Industrienationen gegenüber afrikanischen Waren und Migranten, während sie zugleich ihre eigenen Exporte Richtung Afrika subventionieren - werden überdies, wie Afrikas Regierungen bei jeder Gelegenheit anmerken, von den Partnern des Kontinents nicht entschlossen genug angegangen. Das hat Auswirkungen auf die politische Kultur: Ein Denken, das zu Verschwörungstheorien neigt, geprägt von Minderwertigkeitsgefühlen, ist weit verbreitet. Im August sagte Tansanias Präsident Benjamin Mkapa in einer Rede vor der Afrikanischen Union. "Wir litten während des Sklavenhandels, wir litten während der Kolonialzeit, die uns in ein globales Handelsregime zwang, nicht als gleichwertige Partner sondern als Anhängsel der Metropolenmächte. Wir haben wenig Flexibilität, uns aus dem Würgegriff der Multinationalen herauszuwinden, die von unserer Position der Schwäche profitieren; schlimmer noch, machen es Regierungen in reichen Ländern - vielleicht ohne es zu wollen - schwer für uns, frei zu brechen, indem sie eskalierende Zölle festsetzen, wenn wir unsere Agrarprodukte verarbeiten wollen, bevor wir sie exportieren." Mkapa gilt als Vorbild für politische und wirtschaftliche Reformen und saß in der "Commission for Africa" des britischen Premierministers Tony Blair, die Anfang dieses Jahres weitreichende Reformvorschläge für eine erneuerte Partnerschaft zwischen reichen und afrikanischen Ländern vorlegte. Von anderen Freunden des Westens in Afrika, wie Meles Zenawi in Äthiopien, Olusegun Obasanjo in Nigeria oder Yoweri Museveni in Uganda, sind teils noch viel nationalistischere Töne überliefert und Aufrufe an Afrika, sich endlich auf die eigenen Kräfte zu besinnen und sich von der ruinösen und demütigenden Abhängigkeit vom Rest der Welt zu befreien. Das ist zum Teil Populismus, ist aber milde gegenüber dem, was man auf der afrikanischen Straße oft zu hören bekommt.
Den Spagat zwischen zunehmender Außenabhängigkeit und wachsendem Unmut über dessen Folgen werden viele afrikanische Führer nicht überleben, wenn sie es mit der Demokratie ernst meinen. Sollte Afrika jemals wirklich die massiven Investitionen bekommen, auf die es hofft, wird sich verschärft die Frage stellen, wer über den Einsatz des investierten Kapitals letztendlich zu bestimmen hat: der Investor oder der Empfänger. Viele afrikanische Staaten sind jedoch zu schwach, um die Interessen ihrer Bevölkerungen gegenüber der Außenwelt effizient zu vertreten und zugleich den ordentlichen, rechtssicheren Umgang mit ausländischem Kapital zu gewährleisten. Gerade diese Unsicherheit bedeutet, dass der Rest der Welt seine Geschäfte mit Afrika vielleicht auch in Zukunft auf einige wenige Sektoren beschränkt, in denen wie zu Kolonialzeiten eine extraktive Exklavenwirtschaft herrscht. Inseln von straff geführtem und streng abgesichertem Hochkapital erblühen dann in einem Meer anarchischer Subsistenzwirtschaft, in dem sich das äußere Eingreifen auf Seuchenbekämpfung und Militärinterventionen beschränkt. Kein schönes Zukunftsbild.
Dominic Johnson ist Afrikaexperte und Redakteur der "tageszeitung"
(taz) in Berlin.