Interview mit dem Münchner Theologen Friedrich Wilhelm Graf
Das Parlament: Ist die deutsche Gesellschaft religiös?
Friedrich Wilhelm Graf: Im Kern sehr. Wir erleben weltweit seit den 1980er-Jahren eine Renaissance der Religionen, auch in Deutschland. Dabei gibt es zwischen Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedliche Verhältnisse.
Das Parlament: Wie manifestieren die sich?
Friedrich Wilhelm Graf: Die Rolle der alten religiösen Institutionen - der Kirchen - ist hier wie dort verschieden. In den neuen Bundesländern gibt es noch einen starken Einfluss DDR-spezifischer Weltanschauungsinstitutionen: Jugendweihe, Traditionen des sozialistischen Begräbnisses und so fort.
Das Parlament: Führt Wohlstand zur Aufweichung allgemeinverbindlicher Dogmen?
Friedrich Wilhelm Graf: Auch auf niedrigem Wohlstandsniveau haben Menschen sehr abweichende moralische und religiöse Ansichten. Im Übrigen hat es allgemeinverbindliche Dogmen sehr selten in der Geschichte gegeben. Die konfessionellen Gemeinwesen Alteuropas waren nicht so konfessionell homogen.
Das Parlament: In der katholischen Kirche gibt es die Vatikanischen Konzile, Enzykliken des Papstes...
Friedrich Wilhelm Graf: ...ja gut. Aber die Verkündigung von Dogmen durch eine kirchliche Institution ist etwas sehr anderes als die tatsächliche Akzeptanz von Lehrsätzen innerhalb einer religiösen Gemeinschaft. Die große Mehrheit der deutschen Katholiken teilt die meisten moralischen und sozialethischen Positionen des Vatikans nicht.
Das Parlament: Woran liegt das?
Friedrich Wilhelm Graf: Der Pluralismus der Lebensstile und Wertorientierungen, Sinnentwürfe und biographischen Konstruktionen ist nicht nur ein gesellschaftliches Phänomen, sondern in den großen Kirchen selbst präsent. Sie müssen ja nur zum Katholikentag oder zum evangelischen Kirchentag gehen.
Das Parlament: Um auf die Rolle des Wohlstandes zurückzukommen...
Friedrich Wilhelm Graf: Wohlstand entlastet. Er entlastet Individuen davon, sich Tag für Tag in einem harten "Daseinskampf" um elementare Ressourcen des Überlebens kümmern zu müssen. Er eröffnet Zeiträume für anderes.
Das Parlament: Danach gäbe Wohlstand dem Religiösen eine Chance.
Friedrich Wilhelm Graf: In der Tat. Dabei kann sich die Gestalt von Religion vielfältig wandeln.
Das Parlament: Bedient sich der Einzelne in unserer postmodernen Gegenwart des Religiösen wie in einem Supermarkt?
Friedrich Wilhelm Graf: Das ist ja nichts Postmodernes. Moderne Freiheit besteht einfach darin, dass ich wählen kann. Das Phänomen, dass Menschen sich zu religiösen Traditionen auswählend verhalten, haben wir schon im 18. Jahrhundert: in dem Moment, da der Einzelne seinen individuellen Glauben als entscheidend ansieht, sich nicht mehr vom Pfarrer oder Theologieprofessor oder irgendwelchen Lehrern sagen lässt, was Christentum heißt.
Das Parlament: Bedient er sich heutzutage da aber nicht nur aus christlichem Bestand, sondern auch aus dem von religiösen Absplitterungen und Sekten?
Friedrich Wilhelm Graf: Der Sektenbegriff ist problematisch - das wäre ein neues Interview. Es gibt aber in der Tat mehr Angebote auf dem religiösen Markt und damit verbunden auch ganz verrückte Dinge. Mehr Angebote bedeuten mehr Wahlchancen - so, wie man in einem Supermarkt nicht nur einen Joghurt kaufen kann, sondern eine breite Palette an Bechern hat. Da gibt es ganz neue Entwicklungen: die Kombination von christlichen Symbolen mit buddhistischen Entspannungstechniken etwa.
Das Parlament: Also Vermischung von Elementen unterschiedlicher religiöser Kulturen?
Friedrich Wilhelm Graf: Letztlich hat es das in der Religionsgeschichte immer gegeben. Das Neue ist nur, dass es dies verstärkt und für ein sehr viel breiteres Publikum gibt.
Das Parlament: Seit der Aufklärung spricht man allgemein von Säkularisierung von Staat und Gesellschaft. Breitet sie sich soweit aus, dass Religion zugunsten anderer Ersatzfelder wie Sport in die Defensive gedrängt wird?
Friedrich Wilhelm Graf: Zunächst meint Säkularisierung die Entkoppelung von Staat und religiösen Vorgaben. In der Weise wollen wir sie, weil wir den liberalen Rechtsstaat nicht auf Religion begründen.
Das Parlament: Gerade im Unterschied zu Staaten in der islamischen Welt.
Friedrich Wilhelm Graf: Wir haben ja keine Theokratie. Insofern gibt es eine gute, positive Säkularisierungsgeschichte. Eine andere Frage ist, ob man von einer Säkularisierung im Sinne eines wachsenden Glaubensverlustes ausgehen kann. Dagegen spricht sehr viel. Wir haben im 19. Jahrhundert immer wieder Renaissancen des Religiösen und wir erleben auch jetzt dramatische Entwicklungsschübe. Es gibt keinen notwendigen Zusammenhang von Religion und gesellschaftlicher Modernisierung.
Das Parlament: Aber immer mehr Kirchenaustritte.
Friedrich Wilhelm Graf: Andererseits haben wir eine steigende Bereitschaft, für caritative Zwecke, für "gute Dinge" zu spenden. Manche Menschen bezeichnen sich als wenig religiös, beteiligen sich aber an allen möglichen religiösen Praktiken.
Das Parlament: Wie blicken Sie auf die Ersatzfelder des Religiösen - den Sport?
Friedrich Wilhelm Graf: Sie können auch an die Popkultur denken, in der die Helden quasireligiös verehrt werden.
Das Parlament: Helden besitzen Halbgötterstatus. Reicht die Renaissance des Religiösen bis in die Antike zurück, die den für jede Situation passenden Gott oder Halbgott verspricht?
Friedrich Wilhelm Graf: Das ist seit dem 17. Jahrhundert schon so: Wir kommen nach Rom oder Hella zurück, weil wir einen modernen Polytheismus haben. Das Entscheidende aber ist, wie solche Halbgötter entstehen. Die gibt es ja nicht. Die werden aus einem komplexen Zusammenspiel zwischen Heroen und Erwartungen an Heroen gemacht. Die meisten Sportgötter sind Erfindungen der Medien. Die werden aufgebaut und inszeniert. Der Kult vom Sportheroen ist ein Beispiel dafür, dass im Bild des Einzelnen Gruppen der Gesellschaft sich Grundstrukturen des menschlichen Lebens vergegenwärtigen. Was wäre Herr Kahn, wenn er immer nur erfolgreich wäre...
Das Parlament: ...ohne Ehebruch, ohne Fehlgriffe, ohne Verletzungen...
Friedrich Wilhelm Graf: ...dieses Muster des "Er kam wieder". Er hat verloren und ist nach hartem Kampf zurückgekehrt. Da stecken Elemente eines Auferstehungsmythos drin.
Das Parlament: In der Wirtschaftssprache lebt das Christentum ja allein schon im Gläubiger und Schuldner fort.
Friedrich Wilhelm Graf: Oder um mit Marx zu sprechen: Das Geld ist der Gott der bürgerlichen Gesellschaft. Aber man kann sich fragen, was Religion im gelungenen Fall leistet: dass sich die Menschen zur Zufälligkeit ihrer Biographie konstruktiv und geordnet verhalten können. Diese Leistung der Religion wird auch in modernen Gesellschaften nachgefragt.
Das Parlament: Sind die Kirchen als Institutionen auf dem Rückzug?
Friedrich Wilhelm Graf: Sie haben Probleme, die wachsenden religiösen Bedürfnisse samt ihrer Phänomene zu integrieren. Sie sind vor neue Aufgaben gestellt. Nur eins ist klar: Religion ist ein sehr wichtiges Thema. David Beckham ist gefragt worden, ob er seine Tochter taufen lassen will. Er sagt: "natürlich". Nur wisse er noch nicht, in welcher Konfession - eine klassisch moderne Antwort: dass Religion zu etwas geworden ist, was man sich aussuchen kann.
Das Parlament: Hat dabei Jesus noch eine Zukunft?
Friedrich Wilhelm Graf: Ich bin davon überzeugt, dass die christlichen Kirchen kein schlechtes Angebot haben. Entscheidend ist, wie die Kirchen das, was sie zu sagen haben, kommunizieren. Unter pluralen Bedingungen braucht man verstärkte Pflege der Corporate Identity, klare Produktidentität, Erkennbarkeit, Konzentration auf Kernkompetenz.
Das Parlament: Sie geben den Kirchen also für die nächsten 50 Jahre eine Chance?
Friedrich Wilhelm Graf: Eine große Chance sogar.
Das Interview führte Christoph Oellers.