Pierre Bourdieus präzise Studie über Frankreichs "Staatsadel"
Diese französischen Elitehochschulen sind, in ihrer Unübersehbarkeit jedenfalls, eine Besonderheit unserer Nachbarn. Über den vom Massenbetrieb geprägten Universitäten angesiedelt und darüber stehend, bilden die Ecole Nationale d'Administration (ENA), die Ecole Nationale Superieure (ENS), das Institut d'Etudes Politiques in Paris (IEP) und eine Reihe weiterer Einrichtungen die Führungskräfte der französischen Gesellschaft für Politik und Wissenschaft, für Verwaltung und Wirtschaft aus.
Bourdieus Untersuchung der Arbeit und Wirkung dieser Spitzen des französischen Ausbildungswesens wertet Material von etwa 20 Jahren aus: Prüfungsprotokolle; Befragungen von Kandidaten für die Aufnahme, die spezielle bis zu zwei Jahre dauernde Vorbereitungskurse ( "préparatoires") besucht haben; Studenteninterviews und vieles andere Offizielles und Inoffizielles aus den Ausbildungseinrichtungen. Seine Hauptthese: die Elitehochschulen Frankreichs, insbesondere die ENA und eine der Ecole Normales Superieures, (die in der rue d'Ulm in Paris ihren Sitz hat,) aber auch einige weitere, sind das Instrument der herrschenden Gesellschaftsschicht, ihre Herrschaftspositionen zu festigen und zu legitimieren. Sie sind aber auch das Mittel, um die Weitergabe der Macht an die nachwachsenden Generationen dieser Schicht zu sichern und zu legitimieren.
Bei den Elitehochschulen handelt es sich um Ausbildungsstätten des neuen Staatsadels. Die Diplome dieser Spitzenhochschulen sind in der Tat relativ sichere Garantien für ein erfolgreiches Berufsleben und große Karrieren. Sie basieren allerdings nicht auf Geburt, sondern auf erworbenen Qualifikationen. Das eigentliche Nadelöhr ist der Zugang zu den Elitehochschulen. So sind die Vorbereitungskurse ("prépa") und die für die Eingangsprüfungen geforderten Kenntnisse das eigentliche Schmiermittel für die Karriere.
Was bei den Eingangsprüfungen gefordert wird, deckt sich weitgehend mit dem, was Bourdieu "kulturelles Kapital" nennt: Historische, ästhetische und geistige Kenntnisse und bestimmte Verhaltenstugenden wie Ausdauer und Fleiss. Diese zeichnen die herrschende Schicht aus; sie werden an die nachwachsende Generation schon in den Familien weitergegeben.
Bourdieus Untersuchung zeigt nun, dass eine begrenzte Anzahl besonders guter Gymnasien die "Hauptlieferanten" der künftigen Studenten der Elitehochschulen sind. Diese liegen in bestimmten Vierteln von Paris und Gegenden der Provinz, die sie zu Gymnasien für die amtierende Elite machen. Die geforderten Kenntnisse und Tugenden sind die der herrschenden Elite, die ihre Nachkommen beim Erfüllen der Forderung nach diesen Kenntnissen und Tugenden bei den Eingangsprüfungen sicher bevorzugt weiß. Insofern ist die These vom neuen Adel Frankreichs richtig.
Was den neuen Adel allerdings vom vorrevolutionären unterscheidet: nicht die Geburt ist das entscheidende Auswahlkriterium, sondern eben Kenntnisse und Tugenden. Darum ist auch die neue Aristokratie offener als die alte. Es gibt Aufsteiger in die neue Elite; allein Sprössling einer der dominierenden Familien zu sein, genügt nicht. Die neue Elite ist also keine geschlossene Gesellschaft.
Bourdieus große Studie, die leider in einem grässlichen Soziologenlatein geschrieben ist, das auch die Übersetzung nicht umgehen kann, entpuppt sich so als eine brillante gesellschaftswissenschaftliche Arbeit, die aber den Fehler hat, dass sie wenig Gewicht auf die Frage legt, ob die so ausgebildete und ausgewählte Führungsschicht nicht eine Funktionselite ist, die den politischen, ökonomischen und sozialen Aufgaben und Problemen der französischen Gesellschaft angemessen ist.
Die gesamte Kritik dieses Ausbildungssystems unausgesprochen auf die in der Tat fehlende Chancengleichheit zu konzentrieren, lässt den Leser doch etwas unbefriedigt. Das heißt nicht, dass Bourdieus Untersuchung nicht eine spannende, anregende, wenn auch anstrengende Lektüre darstellt.
Pierre Bourdieu
Der Staatsadel.
UVK-Verlag, Konstanz 2004; 473 S., 39,- Euro