Der neue Grundrechte-Report
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hegt eine Hoffnung: Eine "mobilisierte Öffentlichkeit" könne vielleicht noch Abhilfe schaffen, meint die Ex-Justizministerin. Von der Politik erwartet die FDP-Politikerin jedenfalls nicht allzu viel beim Bemühen um die Zähmung von SIS II, des "Schengener Informationssystems der zweiten Generation": Das nämlich drohe sich zu einem "Albtraum des auf die Wahrung der Grund- und Freiheitsrechte bedachten Datenschutzes auszuwachsen".
SIS II soll auf EU-Ebene noch mehr polizeiliche Personenangaben sammeln, soll "computergestützte Personenprofilrecherchen" ermöglichen, soll die Speicher- und Übermittlungskapazitäten für biometrische Daten erweitern und manches mehr. "Wer kann", fragt die FDP-Bundestagsabgeordnete, "diese Entwicklung stoppen, wer dieses System kontrollieren?" Niemand, lautet die ehrliche Antwort, es sei denn, eine "kritische Öffentlichkeit" wird aktiv.
Die Bürger wachrütteln angesichts der wachsenden Gefahren der sich immer mehr ausformenden Repressions- und Überwachungsgesellschaft und angesichts der damit verbundenen Bedrohungen von Freiheit und Rechtsstaat: Das ist das Anliegen des gesamten "Grundrechte-Report 2004". Dieser von mehreren Bürgerrechtsorganisationen wie etwa der Gustav-Heinemann-Initiative oder der Humanistischen Union (HU) herausgegebene Sammelband, der zum achten Mal erscheint, nimmt "Verstöße gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes" unter die Lupe.
Die 39 Beiträge dokumentieren, in welchem Umfang inzwischen Grundrechte eingeschränkt werden - ein Prozess, der bereits vor dem 11. September 2001 einsetzte und der sich seither unter Verweis auf die Terrorbekämpfung massiv verstärkt hat. Der Kampf gegen den Terrorismus wird nicht auf die leichte Schulter genommen; immer bleibt das schwierige Abwägen zwischen den Rechten des einzelnen und dem Schutz der Allgemeinheit. Generell wird davor gewarnt, allzu eifrig und allzu schnell in die Grundrechte einzugreifen.
Unter den Autoren findet sich manch prominenter Name, neben Leutheusser-Schnarrenberger etwa der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, die nordrhein-westfälische Datenschutzbeauftragte Bettina Sokol oder Thilo Weichert, demnächst Datenschutzbeauftragter in Schleswig-Holstein (wo er bislang als Vize amtiert).
Was die Lektüre spannend, aber auch bedrückend macht: Das Buch beleuchtet vor allem den schleichenden Prozess der zunehmenden Überwachung und damit der Beschneidung des freien, weil unkontrollierten Alltagslebens der Bürger. Verwundert und erschreckt reibt man sich die Augen, wenn diese Eingriffe einmal in der Gesamtschau offenbart werden.
Von einer "Zertrümmerung" des Fernmeldegeheimnisses spricht Burkhard Hirsch: Über 20.000 Telephonüberwachungen werden mittlerweile jährlich angeordnet. Da kommen Zweifel an der Wahrung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit auf. Es werden ja nicht nur die eigentlichen Ziel-, sondern auch deren Kontaktpersonen abgehört. Der Autor: "Es müssen etwa 500.000 Personen jährlich sein."
HU-Geschäftsführer Nils Leopold schildert detailliert, dass die "Vollbiometrisierung" der Menschen mit der Aufnahme von Fingerabdrücken oder gesichtsgeometrischen Merkmalen in Ausweisdokumenten bereits im Gang ist und wie auf diese Weise in vielen Bereichen von der Arbeitswelt bis zum polizeilichen Datenabgleich oder zum Grenzübertritt eine Totalkontrolle der Bürger möglich wird.
Da erscheint die Perspektive der erkennungsdienstlichen Behandlung von jedermann nicht aus der Luft gegriffen. Leopold: "Die Abnahme von Fingerabdrücken symbolisiert Stigmatisierung und Kriminalisierung." Der Datenschutzrechtler führt den Lesern auch vor Augen, in welch enormem Ausmaß private Besitzer und Nutzer von Gebäuden Passanten auf Trottoirs und Straßen und damit im öffentlichen Raum mit Überwachungskameras filmen.
In keineswegs eifernder, sondern in eher nüchterner Sprache reihen die Autoren Beispiel an Beispiel: die Übermittlung von Flugpassagier-Daten an die USA, die Einführung bislang nicht existierender behördenübergreifender Personenkennziffern, die Installierung eines zu Kontrollzwecken technisch problemlos auf alle Fahrzeuge ausdehnbaren LKW-Maut-Systems, die ausufernde Speicherung genetischer Daten durch die Polizei - es läuft wahrlich viel.
Der Report erweist sich als Lehrbuch über den Spannungsbogen zwischen Verfassungsanspruch und -wirklichkeit. Die Autoren wollen sich in die politische Auseinandersetzung einmischen. Angesichts der fortschreitenden Beschneidung freiheitlicher Grundrechte scheint dieses Engagement freilich nicht von großem Erfolg gekrönt zu sein. Bleibt nur Resignation?
Ein Beitrag Nils Leopolds schildert die Klage gegen ein Berliner Kaufhaus, dessen Kameras die Passanten im öffentlichen Umfeld überwachen. Das Gericht ordnete zwar nicht wie erhofft die Demontage der Kameras an, beschränkt aber die Videokontrolle auf einen Gehweg-Streifen von einem Meter neben dem Gebäude, und dieses Filmen des öffentlichen Raums jenseits der Grundstücksgrenze dürfe auch nicht generell, sondern nur ausnahmsweise erfolgen.
Jetzt macht sich in Berlin eine Bürgerinitiative daran, von anderen privaten Kamerabetreibern die Beachtung dieses Urteils einzufordern. Der Report, ohnehin keine Kampfschrift und kein Pamphlet, stimmt also nicht nur Klagelieder an. Karl-Otto Sattler
Grundrechte-Report 2004.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2004;
224 S., 9,90 Euro