Anne Applebaums beklemmendes Buch über den Gulag
Erstaunlich ist die weitgehende Nichtexistenz des Gulags im öffentlichen Bewusstsein. Das soziale, kulturelle und politische Umfeld für gründliche Kenntnisse über den Gulag fehlt, klagt die Journalistin Anne Applebaum. Das liege nicht allein am jahrzehntelangen Mangel an Quellenmaterial, sondern auch daran, dass unser Blick auf die Geschichte der Sowjetunion und Osteuropas ideologisch verstellt gewesen sei.
Bewegend unspektakulär hat Alexander Solschenizyns "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" von 1962 die unerhörte Wirklichkeit des sowjetischen Zwangsarbeitslagersystems geschildert: "Hier gilt das Gesetz des Stärkeren." Was diese Erzählung am Einzelnen verdeutlicht - die zersetzende Macht der Willkür im sowjetischen Lager -, stellt Anne Applebaum im Überblick dar. Wer beide Bände nebeneinander (wieder-)liest, begreift deren Komplementarität und erfasst den Wert des wichtigen Buches der amerikanischen Autorin.
Kalt wie eine Kartographin vermisst Applebaum die einzelnen Stätten - eine Landkarte von 476 Lagerkomplexen. Sie geht den Anfängen des Gulags ab 1917 nach ("Massenterror gegen wirkliche und vermeintliche Feinde gehörte von Anfang an zur Revolution"), beschreibt anhand zahlreicher Gespräche mit Zeitzeugen Leben und Arbeit in den Lagern, schildert die Zwangsarbeitslager während des Zweiten Welt-kriegs und auch, dass Stalins Tod 1953 manches änderte, die Gulag-Tradition aber beim Umgang mit den Dissidenten während der 70er- und 80er-Jahre prägend blieb.
Applebaum weiß, dass sie sich auf dem verminten Gelände der pauschalierenden Totalitarismus-Gleichsetzung bewegt. Sie nennt drei markante Unterschiede zwischen nationalsozialistischen und sowjetischen Lagern: Nicht nur ist die Geschichte der nationalsozialistischen KZ's kürzer und einheitlicher und kannte der Gulag sowohl relativ grausame als auch relativ humane Phasen. Entscheidend ist: Die Definition des Feindes in der Sowjetunion war viel verschwommener als die des Juden und der politischen Gegner im NS-Staat: "Keine Kategorie sowjetischer Häftlinge lebte in ständiger Erwartung des Todes".
Das Hauptmotiv für die Einrichtung der Lager in der SU war ökonomischer Natur. Unter Lenin, der im Bürgerkrieg die politischen Gegner zermürben wollte, wurden die Arbeitslager installiert. Anfang der 30er- Jahre wandelte sich deren Aufgabe, - die Inhaftierten werden zur wirtschaftlichen Aufbauarbeit gezwungen. Zugleich dienen die Lager dazu, alle erdenklichen als Gegner deklarierte Teile der Bevölkerung zu disziplinieren. Rasch wechselnde Verdächtigungen setzten potentiell jeden unter Verdacht - "jeder konnte zu jeder Zeit verhaftet werden".
Insgesamt 18 Millionen Menschen, schätzt Applebaum, haben zwischen 1929 und 1953 die Lager und Arbeitskolonien durchlaufen und größtenteils unter unzumutbaren Bedingungen gelebt. Doch: "Sowjeti-sche Häftlinge starben in der Regel nicht an der Effizienz ihrer Peiniger, sondern eher an Ineffizienz und Vernachlässigung."
Nach Stalins Tod kommen durch eine Amnestie eine Million Menschen frei. Das Regime ordnet an, das bestehende System der Zwangsarbeit sei "wegen seiner wirtschaftlichen Ineffizienz und Perspektivlosigkeit zu liquidieren". Welchen sozialen und politi-schen Sprengsatz die Rückkehr dieser Menschen, ihre Entwurzelung, das weitgehende Fehlen von Entschädigungszahlungen, das Aufeinandertreffen von Denunzierten und Denunzianten für die Gesellschaft bedeutete, ist kaum vorstellbar, lässt aber ahnen, warum sich Russland bis heute weigert, das Lagersystem als Teil der eigenen Geschichte zu akzeptieren.
Die Autorin bringt eine Fülle von Informationen zu einem grausamen Lager- und Repressionssystem, dessen Nachwirkung immer noch zu spüren ist. Der Gulag ist geschrieben in der Überzeugung, "dass es fast sicher wieder geschehen wird". Diese bemerkenswerte historisch-politische Darstellung ist - trotz des düsteren Fazits - ein Sachbuch im besten Sinne des Wortes, überzeugend recherchiert, gut geschrieben - und lohnend zu lesen. Frauke Hamann
Anne Applebaum
Der Gulag.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Wolf.
Siedler Verlag, München 2003;
734 S., 32,- Euro