Müssen und können sich die politischen Parteien in Deutschland noch voneinander abgrenzen?
Unterschiede deutlicher machen und die Union attackieren, das ist in der Tat wichtig", sagte der SPD-Parteivorsitzende und Fraktionschef im Bundestag, Franz Müntefering, jüngst in einem Interview im "Vorwärts". Er bestätigt damit den scheinbar allgemeinen Befund, dass zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung die Grenzen etwa zwischen den beiden großen Volksparteien verschwimmen. Ist das eine richtige Diagnose und was hat sie, wenn sie stimmt, für Folgen? Der Begriff der Grenze ist - gerade bezogen auf den politischen Raum - komplex, höchst ambivalent und wenig geeignet, definitorische Klärungen zu erreichen. Das liegt daran, dass das Verständnis von einer Grenze stark perzeptionsabhängig ist. Sehen wir uns deswegen zunächst das Grenzproblem an, bezogen auf die einzelnen Parteien.
Für alle gilt, dass es verschwimmende Grenzen zu den so genannten neuen (und alten) sozialen Bewegungen ebenso wie zu den unzähligen Bürgerinitiativen und anderen gesellschaftlichen Organisationen gibt. Zu denjenigen Gruppen, die ihnen programmatisch nahe stehen, können sich die Parteien gar nicht scharf abgrenzen, weil sich die Parteiprogrammatik in Teilen mit den Zielen der Bürgerinitiativen und Bewegungen deckt. Sie wollen es daher auch nicht, weil dies ihr potenzielles Wählerreservoir verkleinern würde. Die Brisanz dieser Entwicklung wird deutlich, wenn man sich erinnert, dass den demokratischen Parteien erstmals in der deutschen Geschichte 1949 eine verfassungsmäßige Stellung eingeräumt wurde (Artikel 21 GG), also eine klare rechtliche Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Formationen vollzogen wurde. Demgegenüber gibt es jetzt eine neue Unübersichtlichkeit für den Bürger, der erkennen können muss, ob er zum Beispiel mit der grünen Partei nicht zugleich auch den Bund für Umwelt und Naturschutz (teil-)legitimiert.
Diese programmatischen Grenzverwehungen gibt es inzwischen auch und mit ansteigender Tendenz zwischen den demokratischen Parteien selbst. Für alle Parteien korrodieren die Grenzen großer Teile ihrer Programme bis hin zur Unkenntlichkeit. In vielen Bereichen, vom zu Grunde liegenden Menschenbild bis zu den Zielvorstellungen von Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Schutz der Menschenwürde gibt es so große Schnittmengen, so dass unterscheidende Spezifikationen nur noch nach tiefschürfenden Erklärungen verständlich werden - und dabei ist dann auch noch viel Rabulistik im Spiel.
Tatsächlich gibt es aber noch genügend, teilweise gravierende Unterschiede. Denken wir zum Beispiel an das, was Regierungsparteien und Opposition im Bundestag zur Reform des Gesundheitswesens vorgeschlagen haben: hier Bürgerversicherung (SPD), dort Kopfpauschale (Union). Oder in der Arbeitsmarktpolitik, wo sich die Unterschiede gerade im Problemfall Kündigungsschutz besonders deutlich zeigen: SPD für mehr, Union für weniger gesetzliche Sicherung der Arbeitsplätze. Die Ziele beider Seiten sind dabei ziemlich ähnlich. Alle Beteiligten wollen mehr Menschen in Lohn und Brot halten beziehungsweise bringen.
Doch der Wahlbürger scheint diese Unterschiede nicht wahrzunehmen oder, aus Verärgerung über soziale Einschnitte, nicht mehr wahrnehmen zu wollen. Außerdem scheinen gegenwärtig Unterschiede und damit Grenzen neu zu entstehen. Zwischen SPD und den Gewerkschaften gibt es offenkundig über die Agenda 2010 unüberbrückbare Auffassungsunterschiede, auch wenn man nun nicht mehr so öffentlich darauf herumreiten wird. Andererseits geriert sich die CSU als soziales Gewissen der Union und setzt neue Grenzmarkierungen gegenüber Kapitalinteressen. Sind hier Tiefenumbrüche in der gesamten Gesellschaftsformation im Gange? Vieles deutet darauf hin.
Die Zeiten, in denen das christliche Bürgertum die Unionsparteien, Lohnarbeiter die SPD und Zahnärzte/
Rechtsanwälte/Kaufleute grundsätzlich die FDP gewählt haben, weil etwa weltanschauliche Grenzen oder durchgreifende Klientelinteressen bestanden, sind - falls es sie je gab - endgültig vorbei. Das aktuelle Wahlverhalten der Bürgerschaft mit Blick auf beide Volksparteien, die per se keine Weltanschauungsparteien mehr sind, beweist das. Die Stammwählerschaften schrumpfen, die so genannten Wahlhochburgen sind schon geschliffen beziehungsweise verlieren gänzlich ihre Wahlen entscheidende Funktion. Mit fast jeder Wahl wächst die Gruppe der Wechselwähler. Bei der vergangenen Europawahl sind immerhin knapp 900.000 Wähler von der SPD zur Union und rund 240.000 zur PDS gewandert. Das war die bisher größte Wählerwanderung in der Geschichte dieser Republik.
In großen Städten mit hinreichend gemischten Wählerschaften (Berlin, Hamburg), in denen sich soziale Schichtung und generative Parameter kaum in Wahlperioden ändern, werden wechselnde Mehrheiten ins Amt gewählt, manche Wahlregionen (Thüringen, Sachsen, Hessen) wechseln einfach über längere Zeit ihre Farbe - gegenwärtig meist von Rot zu Schwarz. In diesen Fällen wurden jedoch kaum programmatische und schon gar nicht weltanschauliche Grenzen überschritten. Weil diese immer weniger wahrgenommen werden, wählt der Bürger eben diejenige Partei, die über die glaubwürdigsten Köpfe verfügt, die über parteiübergreifende Integrationsfähigkeiten verfügen beziehungsweise zu verfügen scheinen und zugleich virtuos auf dem Klavier eingängiger, grenzenlos unverbindlicher Parolen spielen können. An die Stelle einer programmatischen Grenze, also der Unterscheidbarkeit, ist der alles zudeckende Begriff der so genannten Bürgernähe getreten. In allen Parteien stehen heute die programmatisch denkenden Köpfe, die Theoretiker der politischen Inhalte, mit einer klaren, also zur programmatischen Abgrenzung fähigen Sprache, in der zweiten Reihe.
Wohin führt die neue "Grenzenlosigkeit" im deutschen Parteiensystem? Schaffen die ungeheuer komplexen Probleme der Globalisierung einen neuen inhaltlichen Mischmasch an politischen Antworten, wo alles zu allem passt und nur ein bisschen anders formuliert wird? Befördert der Prozess der verschwimmenden Grenzen die Entwicklung einer humanen Zivilgesellschaft? Die Parteienforschung gibt darauf keine klare Antwort.
Tatsache ist allerdings, dass es für die in der Wahrnehmung der Bürger verschwimmenden Grenzen zwischen den Parteien auch reale Gründe gibt. Der in Deutschland 1949 etablierte "Parteienstaat" ist einmal als "rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie" und als "Surrogat der direkten Demokratie im modernen Flächenstaat" (Leibholz, Hennies) verstanden worden. Dieser Parteienstaat, nach 50 Jahren enorm verfestigt und zum Teil in den Apparaten erstarrt, scheint gegenwärtig aufzutauen, wie sich auch die traditionellen Milieus der Parteien auflösen. Das kann positive Folgen haben - etwa, wenn es stimmt, dass sich die Grenzen zwischen Parteien und den neuen sozialen Bewegungen verwischen. Die letzteren haben eine größere Informationsverarbeitungskapazität, reagieren schneller auf neu entstehende Konflikte, auf Strömungen und Stimmungen, auf soziale Unruhen. Wenn deren Frühwarnfunktion auch in die Parteien diffundiert, dürfte dies die Aufgabe der Parteien erleichtern, zwischen Gesellschaft und Staat zu vermitteln und Entfremdungen zu vermeiden.
Andererseits stellt das Abgleiten in eine diffuse Ununterscheidbarkeit hohe Anforderungen an die Orientierungsfähigkeit des Wahlbürgers. Erschwerend kommt hinzu, dass ja Grenzen nicht nur im engeren politischen Raum verschwimmen, sondern dieses Phänomen überall im gesellschaftlichen Bereich zu beobachten ist. Spätestens seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist zu erkennen, dass Grenzen immer zugleich mit ihrer Verwischbarkeit, das heißt mit ihrer Auflösung, diskutiert werden. Standesgrenzen verschwanden, aus ziemlich klar umschreibbaren Klassen werden morphologisch kaum fassbare Schichten, aus einst strengen Moralgrenzen werden, bei Festhalten an einigen unverrückbaren Standards, promiskuitiv genutzte Wertefelder, aus kirchlicher Orthodoxie führt der Weg in die Ökumene, aus Agrarwirtschaft und Industrie wird unausweichlich die Agrarindustrie, aus Buch und Radio entstand das Hörbuch. In den Wissenschaften erleben wir geradezu osmotische Durchdringungsprozesse: Aus Biologie, Physik und Chemie ist längst eine Biochemie beziehungsweise Biophysik, wenn nicht gar eine Biochemophysik geworden, die ohne einen hohen Anteil von fortgeschrittener Mathematik gar nicht mehr zu betreiben ist. In den Ethikräten sitzen ebenso Theologen wie Philosophen und Ingenieure, die sich vor 100 Jahren, schon semantisch, gar nicht verstanden hätten. Es gibt zahllose weitere Beispiele. Dieser Prozess der Verwischung von Grenzen verläuft so stetig wie unaufhaltsam, dass wir vielfach darüber gar nicht mehr nachdenken, weil er uns, ebenso wie die immer durchlässiger werdenden Landesgrenzen in Europa, offensichtlich nicht beunruhigt. Warum sollten dann nicht auch Parteien - wenigstens partiell - ununterscheidbar werden?
Ein letzter Hinweis auf den philosophischen Hintergrund des Grenzbegriffs gilt seiner Doppeldeutigkeit und relativiert zugleich die Forderung nach wieder mehr Unterscheidbarkeit, nach klarer Grenzziehung, auch zwischen den Parteien. Es lohnt sich daran zu erinnern, dass die Zwiespältigkeit des Grenzbegriffs auf Hegel zurückgeht. Für ihn beschreibt die Funktion einer Grenze die Tatsache, dass eine Sache, ein Ding, mit etwas Anderem sowohl zusammengefügt wird, als auch von ihm abge- beziehungsweise unterschieden wird. Wer Grenze sagt, macht zugleich etwas mit einem anderen zum Ganzen, lässt aber auch beides unterschieden, getrennt sein.
Es ist wie in der Malerei: Verschwimmende Konturen schaffen neue Freiheiten der Betrachtung und Interpretation. Doch wehe, wenn man sich fragen muss, ob das Bild nicht einfach verkehrt herum aufgehängt wurde. Wer da nicht über genügend eigene, innere Orientierung verfügt, wird die Galerie enttäuscht verlassen. Im politischen Haus Deutschland hätte aber eine derartige Flucht (in die politische Abstinenz) desaströse Folgen.
Johannes L. Kuppe
Der Autor war langjähriger Leitender Redakteur bei "Das Parlament".