Grenzhandel im Wandel: Ein Besuch an Oder und Neiße
Die Grenze an Oder und Neiße zwischen dem Bundesland Brandenburg und Polen ist ein wunderlicher Ort. Diese 250 Kilometer lange Linie mit ihren kaum mehr als zehn Übergängen ist seit dem EU-Beitritt Polens keine Zollgrenze mehr: Die meisten Waren können einfach passieren. Die Menschen beiderseits der Grenze müssen aber immer noch ihre Pässe mitführen und werden mitunter penibel kontrolliert. Und: Oder und Neiße bilden immer noch eine Wohlstandsgrenze. Die Region ist wirtschaftlich von Kleinbetrieben geprägt, die große Angst vor den Folgen der EU-Osterweiterung haben. Auf der deutschen Seite befürchten Firmeninhaber, dass die Polen gleichwertige Ware billiger produzieren. Polnische Geschäftsleute haben Sorge, den Arbeitsstandards und Umweltnormen aus Brüssel nicht gerecht zu werden. Eine Reise in die Region zeigt die Hoffnungen und Ängste der Menschen dort.
Erste Station: Gartz in der Uckermark. Hier öffnet sich die Oder langsam hin zum Stettiner Haff. Und hier wohnen einige Deutsche, die sich als Verlierer der EU-Erweiterung sehen. Silke Kunath ist Betriebsleiterin der Adler-Reederei, die von Gartz aus bisher Butterfahrten angeboten hat. Die Nachfrage war groß. Doch nach dem EU-Beitritt Polens war Schluss mit dem zollfreien Verkauf von Schnaps, Parfüm und Zigaretten auf den Oderschiffen. Von den 39 deutschen und polnischen Mitarbeitern der Reederei sind die meisten nun auf Arbeitssuche. Einer hat sich nun bei der Wäscherei im polnischen Gryfino beworben. Dorthin wird die schmutzige Wäsche aus Berliner Luxushotels gebracht und erstaunlich preisgünstig gewaschen. Dann finden Bettwäsche und Handtücher wieder ihren Weg zurück ins Hotel Kempinski am Kudamm oder ins Hotel Adlon.
Ein paar Kilometer südlich von Gartz in der Stadt Schwedt hoffen die Manager der Ölraffinerie PCK, vom Wegfall der Zollgrenzen zu profitieren. Das PCK Schwedt ist einer der größten Industriebetriebe Brandenburgs, bereitet Erdöl für die Tankstellen auf und drängt nach dem EU-Beitritt noch stärker auf den polnischen Markt. Dafür soll nördlich von Schwedt eigens ein Grenzübergang für Schwer- und Gefahrgutransporter entstehen. Doch genau das will die polnische Verwaltung auf der anderen Oderseite verhin-
dern, schließlich gibt es auch in Polen Ölraffinerien. Dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck beschied der Woiwode (Ministerpräsident) von Westpommern bei einem Besuch schroff, dass die polnische Seite einen Grenzübergang dort nicht wünscht: "Kein wirtschaftlicher Bedarf."
Ein weiteres Stück weiter südlich am Grenzübergang Hohenwutzen sind die deutschen Billigtouristen dafür besonders willkommmen. Denn gleich hinter der Grenze liegt Osinow Dolny, das frühere Niederwutzen. Eine Ansammlung von Häusern und Baracken, wo Händler Eier, Krakauer Würste oder gefälschte Markenjeans anbieten, aber auch Käse, Anglerbedarf oder Pornovideos aller Art. Ein Haarschnitt kostet drei Euro. Der kleine, staubige Ort ist ein klassischer polnischer Bazar. Hier kaufen vor allem Geringverdiener ein, und das sind in Ostbrandenburg, aber auch im nahen Berlin nicht wenige Menschen. Unter der Hand kann ein Kunde hier wohl auch gefälschte Papiere oder eine Schusswaffe erwerben. Aber eigentlich ist das Zeitalter der Billigbasare im deutsch-polnischen Grenzraum vorbei. Denn das Wohlstandsgefälle ist nicht mehr so krass wie noch vor ein paar Jahren. Die Deutschen gehen nun lieber in den neu entstandenen Supermärkten in Polen einkaufen, die häufig zum französischen Intermarché-Konsortium gehören.
Jahrelang waren die Gewerbesteuereinnahmen der Billigbasare die wichtigsten Steuereinnahmen grenznaher polnischer Kommunen. So mancher, der hier reich geworden ist, sitzt mittlerweile in der Kommunalverwaltung. In Osinow Dolny hat der Basar in Reinform überlebt, weil in dem kleinen Dorf keine Supermärkte entstanden. Unweit der Ortschaft befinden sich auch einige Sauna-Clubs, wo Prostituierte auf deutsche Freier warten. Die Frauen kommen inzwischen meist aus der Ukraine, Weißrussland oder aus Bulgarien. Polnische Zeitungen berichteten jüngst, dass auch in der Landwirtschaft bei der Spargelernte zunehmend ukrainische Tagelöhner zum Einsatz kommen. Polen fahren lieber über die Grenze und helfen bei der Spargelernte in Deutschland, wo es mindestens dreimal so viel Geld zu verdienen gibt.
Weiter südlich liegt Frankfurt (Oder) und auf der Flussseite gegenüber die polnische Kleinstadt Slubice, einst die Frankfurter Dammvorstadt. In Frankfurt (Oder) leben bereits mehr als 500 Polen, meist allerdings nicht offiziell, sondern zur Untermiete. Manche studieren an der Viadrina-Universität, andere gehen schwarz arbeiten: auf dem Bau, als Putzfrau oder als Installateur. Seit dem EU-Beitritt drängen verstärkt polnische Händler und Dienstleister nach Frankfurt (Oder). Nur polnische Bauunternehmen und Gebäudereiniger dürfen ihre Dienst noch nicht in Deutschland anbieten. Das ist vertraglich festgeschrieben, weil hier die Gefahr des Lohndumpings am größten ist.
Aber der Bäckermeister aus Slubice kann über die Grenze fahren und seine Brötchen in Frankfurt (Oder) verkaufen. Der deutsche Bäckermeister Günter Baumgärtel überlegt derweil laut, ob er seine Backstube nicht nach Polen verlagern soll, um Geld zu sparen. Die finanziell klamme Stadtverwaltung prüft insgeheim, ob der städtische Fuhrpark nicht wesentlich preiswerter von einem polnischen Kfz-Betrieb gewartet werden könnte. Und die Frankfurter gehen längst in Slubice zum Frisör, zum Fleischer oder abends in das orientalisch angehauchte Restaurant Ramzez, wo es neben polnischen Pirogi auch die gut belegte Pizza für drei Euro gibt. Der Leiter des Collegium Polonicum in Slubice, Krzysztof Wojciechowski, hat für die Industrie- und Handelskammer in Frankfurt (Oder) einen "Polen-Knigge für deutsche Unternehmer" erarbeitet. Darin gibt er tabulose Tipps, damit die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen nicht an Missverständnissen scheitern: So darf man der polnischen Geschäftsfrau ruhig mal einen Handkuss geben.
In der einstigen Hutmacher-Stadt Guben, südlich von Frankfurt (Oder) an der Neiße gelegen, geht der Bürgermeister Klaus-Dieter Hübner gegen aus seiner Sicht unsinnige Staatsverträge vor: Polen sollen erst in sieben Jahren regulär in Deutschland arbeiten dürfen. Solange ist ihre Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt, angeblich um den deutschen Arbeitsmarkt zu schützen. Hübner sieht das anders: Er hat Anfragen von italienischen Schuhfabrikanten und Textilfirmen aus Fernost, ob es nicht möglich wäre, billige polnische Arbeiter in neuen Fabriken im deutschen Guben zu beschäftigen. "Die Veredelung der Produkte würden dann deutsche Fachkräfte leisten", sagt Hübner. "Eine solche Mischung wäre ein echter Standortvorteil für unsere arme Region." Doch eine Sondergenehmigung, wie sie mehrere Bürgermeister fordern, will Berlin bisher nicht erteilen. Das bedauern auch die Stadtoberen in Gubin am anderen Neißeufer.
Auf polnischer Seite gibt es Pensionen, die Menschen aufnehmen, die weiter nach Deutschland fliehen wolllen. Der Menschenschmuggel ist hier ein einträgliches Geschäft, die Schleuserbanden sind gut organisiert. Die Warschauer Wirtschaftswissenschaftlerin Marzenna Guz-Vetter schätzt, dass im Grenzgebiet fast jeder fünfte Bewohner seine Existenz durch illegale Tätigkeiten sichert. Dazu gehören der Schmuggel von Autos und Zigaretten. Hinzu kommen illegale Kleinbetriebe, die sich auf das Fälschen von Autokennzeichen, das Montieren versteckter Behälter für Schmuggelware oder das Umlackieren von Autos spezialisiert haben. Junge Menschen, die im Grenzland ohnehin nur schwer Arbeit finden können, geraten leicht in dieses Schmugglermilieu hinein.
Doch polnischer Geschäftssinn bahnt sich meist auf legale Weise seinen Weg: So hat der Unternehmer Adam Boronowski aus Posen in jüngster Zeit 14 Tankstellen direkt hinter deutsch-polnischen Grenzübergängen bauen lassen. Dort fahren die Deutschen nun tanken und sparen pro Liter rund 30 Cent. Damit die deutschen Kunden Vertrauen fassen, hat Boronowski sogar deutsche Kassierer angestellt. Einer von ihnen ist der 44-jährige Tassilo Schlicht aus Forst in der Lausitz, der so nach jahrelanger Arbeitslosigkeit wieder einen Job gefunden hat - als einer der ersten deutschen Gastarbeiter in Polen, zwei Kilometer von seiner Forster Wohnung entfernt. Martin Klesmann
Der Autor ist Reporter der "Berliner Zeitung".