Binationale Einrichtungen und ihr Kampf, die Grenzen zu überwinden
Beim Start vor elf Jahren hatte Euro-Info drei Mitarbeiter, jetzt sind es zwölf. Für Verbraucher, sagt die Leiterin, "gibt es seit der Einführung des EU-Binnenmarkts und des Euro eigentlich keine Grenzen mehr". Eigentlich: "Aber wenn man in den Alltag eintaucht, stößt man im Detail auf immer neue Grenzen." Beim elsässischen Winzer eine Kiste Riesling kaufen und mit nach München oder Berlin nehmen, das geht. Aber via Internet in Burgund eine Ladung Rotwein bestellen und sich nach Hause in die Bundesrepublik liefern lassen, das ist nicht machbar: Nicht, weil es verboten ist, sondern weil das französische Steuerrecht dies faktisch vereitelt.
Albert Hamm ist Präsident der in Saarbrücken ansässigen Deutsch-Französischen Hochschule (DFH). Der Straßburger Anglistikprofessor sagt schnörkellos: "Das ist zweifelsohne unser schwierigster Punkt." Der Gründungsvertrag hat der Einrichtung, die für fast 5.000 Studenten gemeinsame Ausbildungsgänge an 130 Universitäten zwischen Bordeaux und Hamburg organisiert, eigentlich die Entwicklung eines echten binationalen Diploms als eine zentrale Aufgabe zugewiesen. Eigentlich: Geklappt hat es auch nach vielen Jahren noch nicht. Das Hochschulministerium in Paris und hierzulande die Kultusministerkonferenz haben die innerstaatlichen Voraussetzungen für einen solchen Schritt nicht geschaffen. Die DFH fungiert als grenzübergreifende Dachorganisation, ist mithin keine Uni mit Lehrbetrieb. Deshalb - da ziehen deutsche wie französische Paragraphen eine Grenze - kann Saarbrücken auch keine akademischen Titel vergeben. So gibt es nach der Abschlussprüfung in den diversen Disziplinen "Doppeldiplome": Eine französische oder deutsche Uni stellt eine Urkunde aus, deren Gleichwertigkeit für das jeweilige Fach im anderen Land zertifiziert wird. Die guten Chancen der DFH-Absolventen auf dem europäischen Arbeitsmarkt schmälert das jedoch nicht. DFH-Generalsekretär Achim Haag: "Wir gehen mit der Grenze produktiv um."
"Die Beschäftigung mit der Grenze ist nicht frustrierend, das ist spannend." Seit acht Jahren kümmert sich Axel Bussek als deutscher Justitiar bei Arte in Straßburg zusammen mit seinen französischen Kollegen darum, auf der Basis der divergierenden Rechtssysteme beider Länder praktikable Lösungen für den Sendebetrieb der TV-Anstalt zu finden. Ob Arbeitsrecht, Tarifrecht, Urheberrecht: Da stößt man zwangsläufig auf Neuland. "Wir bewegen uns in einem transnationalen Rechtsraum, wir müssen Regelungen finden, die in beiden Staaten Bestand haben", erläutert der vormalige ZDF-Mann. Der Haustarifvertrag trägt auf Arbeitnehmerseite zwei Unterschriften - von deutschen und französischen Gewerkschaften. Alles macht doppelte Arbeit. Aber die Rolle des Pioniers reizt natürlich auch: "Was wir hier juristisch erarbeiten, kann vielleicht Modellcharakter haben", meint Bussek.
Arte zu definieren, ist nicht einfach, da verschwimmen die Grenzen. "Unsere Strukturen sind deutsch-französisch, aber unser Programmanspruch ist europäisch", erklärt Claude Savin, Sprecherin des Senders. ARD und ZDF sowie Arte France in Paris sind die Träger der Anstalt, in Straßburg residiert die Zentrale mit rund 400 in Frankreich wie Deutschland rekrutierten Mitarbeitern, im Präsidentenamt wechseln sich Deutsche und Franzosen ab: da schwingt Proporz mit. "Unser Programm aber ist", so Bussek, "international konzipiert, unser Sender bringt nicht zwei zusätzliche nationale Programme auf einem weiteren Kanal".
Arte, die DFH, Euro-Info: Das sind drei Institutionen mit völlig verschiedenen Tätigkeitsfeldern. Und doch haben diese Einrichtungen eine Gemeinsamkeit: Sie existieren, weil zwischen Deutschland und Frankreich eine Grenze verläuft, und sie haben den Auftrag, diese Grenze zu überwinden. So wie es scheint, dürfte dies eine Aufgabe auf Dauer sein, zu erledigen Schritt für Schritt - auch wenn heute weitaus weniger Grenzkontrollen stattfinden (auf den Rheinbrücken stehen die Uniformierten im Übrigen noch oft genug).
Die Erfahrungen in der Praxis sind zuweilen recht durchwachsen. Gestaunt haben vor allem die deutschen Mitarbeiter am Saarbrücker DFH-Sitz: Da wollte doch ein Pariser Minister die Schirmherrschaft über eine DFH-Sprachenkampagne nicht übernehmen, weil ihm der Plakat-Werbespruch "Deutsch zahlt sich aus" zu salopp daherkam - und so war denn auf den Postern zu lesen, dass Deutsch ein "Trumpf für morgen" ist. Das klingt wohl seriös. Es sind ja nicht nur die Staatsstrukturen, die Wirtschaftssysteme, die Bildungsgänge, das Steuerrecht, das Sozialmodell, was weitreichend differiert. Auch unterschiedliche Mentalitäten, Traditionen, Umgangsformen, Lebensstile links und rechts des Rheins spielen eine erhebliche Rolle. Martine Mérigeau wundert sich zum Beispiel, dass Deutsche kaum Autos in Frankreich kaufen, die dort um zehn Prozent billiger sind als in hiesigen Gefilden. Offenbar fürchten viele noch immer bürokratische Probleme bei der Zulassung, obwohl dies mittlerweile wesentlich vereinfacht wurde. Die Euro-Info-Direktorin: "Da gibt es eine Grenze im Kopf".
Bei der konkreten Arbeit merken die 20 Beschäftigten in der Saarbrücker DFH-Zentrale, die ebenfalls aus beiden Ländern kommen und zweisprachig sind, kaum noch nationale Unterschiede. "An flache Hierarchiestrukturen", berichtet Haag, "waren die Franzosen anfangs nicht so gewohnt, aber das hat sich schnell gelegt". Im Hochschulrat, wo die Universitäts- und Staatsvertreter aus beiden Ländern sitzen, fällt Professor Hamm noch eine Besonderheit auf: Die Franzosen erscheinen häufig bestens vorbereitet, mit ausformulierten Unterlagen und dem Ergebnis der Verhandlungen schon im Kopf - die Deutschen hingegen wollen die Themen erst einmal ausdiskutieren.
Umso heftiger prallen die Welten an den Universitäten aufeinander. "Das ist für deutsche Studenten oft ein regelrechter Kulturschock", hat Albert Hamm beobachtet - dann nämlich, wenn sie sich bei den obligatorischen Semestern in Frankreich "wie Schüler behandelt fühlen", wie Achim Haag sagt. Alles ist reglementiert, Büffeln ist angesagt, in den Seminaren schreibt man mit, was die Dozenten sagen, es wird wenig diskutiert. An deutschen Hochschulen kommen sich junge Franzosen anfangs schon mal verloren vor: Das eigenständige Lernen und wissenschaftliche Arbeiten der hiesigen Studenten ist ihnen etwas fremd, das Studium ist nicht so fest strukturiert, die Dinge scheinen sich irgendwie zu verlaufen.
Indes sind in den binationalen Studiengängen Anzeichen für gewisse Angleichungen zu registrieren. Deutsche lernen disziplinierter, in französischen Seminaren wird häufiger diskutiert, ins Fach Physik wurden in Nancy aufgrund der Erfahrungen mit deutschen Studenten mehr Praktika integriert. Eines unterstreicht Hamm ausdrücklich: "Die DFH strebt keine Homogenisierung der binationalen Ausbildung, keinen europäischen Einheitsbrei an, wir wollen den Kulturschock produktiv nutzen."
In Frankreich hat Arte bei der Zuschauerresonanz eine Quote von 3,5 bis vier Prozent, in der Bundesrepublik lediglich von 0,6 Prozent. Das hat mit bislang unüberwindbaren Grenzen zu tun. Anders als in Deutschland erreicht die Anstalt zwischen Marseille und Lille wegen der terrestrischen Ausstrahlung praktisch alle Haushalte, zudem steht Arte dort in Konkurrenz zu nur vier weiteren landesweiten Sendern. In den Anfangsjahren des Senders drifteten die Sehgewohnheiten bei Deutschen und Franzosen noch spürbar auseinander. "Inzwischen", sagt Sprecherin Savin, "hat sich das verändert". Klar, Filme mit Schauspielern, die im jeweiligen Land Stars sind, locken dort auch mehr Zuschauer vor den Bildschirm. Andreas Schreitmüller, bei Arte für Spielfilme zuständig, berichtet aber, dass etwa Krimis Marianne und Michel gleichermaßen in den Bann schlagen - "und bemerkenswerterweise haben deutsche Komödien in Frankreich viel Erfolg". Natürlich haben deutsche und französische Fernsehfilme ihren eigenen Charakter, wobei Schreitmüller keine prinzipiellen Differenzen, sondern lediglich verschiedene "Tendenzen" ausmacht: Deutsche Streifen kämen schnell zur Sache, "bringen das Thema gleich auf den Punkt". Auf Franzosen wirke das etwas unelegant: Sie bevorzugten einen eher spielerischen Einstieg.
Offenbar wiegen bei den Arte-Journalisten die beruflichen Gemeinsamkeiten mehr als die nationale Zugehörigkeit. Die unmissverständliche Antwort Schreitmüllers erübrigt jedenfalls weitere Nachfragen: "Mich verbindet mit einem französischen Spielfilmkollegen mehr als mit einem deutschen Nachrichtenredakteur." Anfangs geisterten noch gewisse Klischees in den Köpfen herum, erinnert sich Claude Savin: dass etwa Deutsche ein Studio nicht richtig ausleuchten oder Franzosen keine Abläufe organisieren können. Aber das war einmal.
In Kehl hat Martine Mérigeau nicht nur unzählige Beispiele parat für nationale Interessen und Rechtsvorschriften, die einen grenzenlosen Konsumentenmarkt behindern - so bieten etwa deutsche und französische Versicherungen im Nachbarland nach wie vor keine Policen im Direktverkauf an, die Märkte bleiben abgeschottet, Wettbewerb wird unterbunden. Auch die Verbraucher legen ihre Gewohnheiten nicht ab: "Deutsche kommen zu uns, um sich zu informieren, Franzosen, um zu reklamieren." Das hat damit zu tun, dass in der Bundesrepublik die Beratung von Konsumenten einen hohen Stellenwert hat und der "mündige Verbraucher" hochgehalten wird - und dass links des Rheins den Konsumenten mehr gesetzlich verbürgte Rechte als hierzulande zustehen. Bei Verhandlungen mit den diversen Geldgebern, die Euro-Info finanzieren, muss Mérigeau schon auf unterschiedliche Mentalitäten achten: "Französische Behörden betrachten uns als öffentlichen Dienst, deutsche Instanzen sehen uns als eigenständiges Unternehmen."
Besonders die Sprache scheint Dynamik in die Überwindung der Grenze zu bringen, zumindest bei den "Profi-Europäern". Bei Arte, bei der DFH und bei Euro-Info reden die Beschäftigten meist in der eigenen Sprache, die Kollegen verstehen das ja. Nicht selten gehen aber auch in einem Satz das Französische und Deutsche durcheinander - vor allem, wenn für einen Begriff das Pendant in der anderen Sprache kompliziert zu formulieren ist. So freut sich bei der DFH in Saarbrücken schon mal ein französischer Mitarbeiter über seine erfolgreiche Suche auf dem Schreibtisch: "J'ai trouvé le Verwendungsnachweis." Und bei Arte heißt es: "Il faut discuter la question du Mifrifi", man muss die Frage der mittelfristigen Finanzplanung erörtern. Auch "le Mengengerüst", erzählt Claude Savin, gehört inzwischen zum französischen Sprachschatz bei dem Straßburger Sender. Karl-Otto Sattler arbeitet als freier Journalist in Berlin.