Das bayerische Rehau lag tief im Schatten des "Eisernen Vorhangs". Was hat sich seit 1989 geändert?
Alle paar Kilometer zweigt eine Straße zum nächsten Grenzübergang zwischen Deutschland und Tschechien ab. Vielleicht, überlegt man, während der Wagen die Ausfahrt nach Rehau hinabrollt, sollte das Verkehrsministerium allmählich ein neues Design für die Hinweis-Schilder entwerfen, denn ein roter Kreis mit schwarzem Balken signalisiert nur eines: Halt! Hier ist Schluss, hier geht es nicht mehr weiter! Und das gilt ja nicht mehr. Schon 1990 öffnete die damalige Tschechoslowakei im Zuge der politischen Liberalisierung ihre Pforten, seit der EU-Osterweiterung am 1. Mai 2004 stehen die Türen noch ein bisschen weiter offen.
Früher, ja, da hatte das transnationale Stoppzeichen seine Berechtigung. Da war kurz hinter der Stadt Rehau, heute 10.700 Einwohner, gelegen am Rande des nördlichen Fichtelgebirges, die Welt zu Ende. Die Grenze zur CSSR verlief drei Kilometer vom Ortskern entfernt, die mit Selbstschuss-Anlagen bestückten Zäune der DDR versperrten knapp neun Kilometer entfernt den Weg. Die Grenze war immer da, der Eiserne Vorhang umschloss die Kleinstadt Rehau bis 1989 enger als fast jeden anderen Ort in Deutschland. Das bedeutet, einmal andersherum betrachtet, dass beinahe nirgendwo Menschen derart hautnah sowohl die Mauer- (und Zaun-)Öffnung der DDR als auch die stetige Durchlöcherung des Vorhangs mit erlebt haben - bis hin zum 1. Mai 2004. Wobei der entscheidende Grenzfall womöglich noch gar nicht geschehen ist.
Das weiß auch Edgar Pöpel, 65. Schließlich versteht er sich als Mann, der weit vorauszuschauen pflegt. Weiter als die anderen um ihn herum. Und wenn er doch einmal zurück blickt, dann sieht er auf 21 Jahre als erster Bürgermeister von Rehau und weitere fünf als dessen Stellvertreter. Schon am 1. Oktober 1989 wusste CSU-Mann Pöpel, der sich selbst als "Hardliner" und Franz Josef Strauß als großes Vorbild bezeichnet: "Der Eiserne Vorhang kann nicht mehr lange Bestand haben. Das war jener Tag, an dem die DDR-Flüchtlinge aus der Botschaft in Prag ausreisen durften. Die kamen dann mit dem Zug über Dresden nach Hof." Rehau gehört zum Landkreis Hof. Der Lauf der Geschichte spielte sich plötzlich gleich neben der Gemeinde ab, die zuvor jahrzehntelang am Rande von allem gelegen hatte. Pöpel behielt Recht: Am 17. November 1989 saß die erste Delegation aus der Gemeinde Oelsnitz, die nur wenige Kilometer entfernt im sächsischen Vogtland liegt, bei ihm im Rathaus, angeführt vom örtlichen Pfarrer.
Seit jenem Tag ist eigentlich alles anders geworden in Rehau. So beschreibt es zumindest Edgar Pöpel, der problemlos in einem endlosen Monolog alle Stationen herunterrattern kann, die ihm nach den Grenzöffnungen 1989 und 1990 als wichtig erscheinen. Das beginnt mit der Soforthilfe für Oelsnitz: "Monatelang war, zum Beispiel, unser Kämmerer drüben, monatelang der Stadt-Baumeister, um den Wiederaufbau dort zu unterstützen. Die Oelsnitzer kommen heute noch gern rüber nach Rehau, kaufen hier ein und erinnern sich in Dankbarkeit an die Erste Hilfe." Und geht weiter mit einem Besuch in der tschechischen Grenzgemeinde Asch nur zwei Tage nach der offiziellen Liberalisierung der CSSR. Dann folgen etwa die Gründung der "Gemeinschaft der Freunde im Herzen Europas", bestehend aus zwölf grenznahen Gemeinden aus Sachsen, Bayern und Böhmen, Partnerschaften mit Asch und Oelsnitz, Kontakte auf Kommunal-, Vereins- und Geschäftsebene, dazu eine lange Reihe von Auszeichnungen, Besuchen, Festveranstaltungen und die Errichtung diverser Erinnerungstafeln und Gedenksteine - zuletzt am 1. Mai, als anlässlich der EU-Osterweiterung ein Denkmal an einem kleinen Grenzpfad errichtet wurde, der den Rehauer Ortsteil Neuhausen mit Nové Domy auf tschechischer Seite verbindet. Das besteht aus zwei steinernen Stelen, die sich gegeneinander neigen und oben in einer Flamme verschmelzen. Was Bürgermeister Pöpel so interpretiert: "Ein zerbrochener Sein, das einstmals zerbrochene Europa, wächst jetzt wieder zusammen." Allerdings, wenn man genau hinschaut, nur an der Spitze, nicht am Sockel. Was aber passiert unterhalb der Ebene von Denkmalweihen und Städtepartnerschaften?
Eigentlich nicht viel, findet Elisabeth Scharfenberg. Sie wohnt in Rehau-Neuhausen nur einen kräftigen Steinwurf von der tschechischen Grenze entfernt und sitzt für die Grünen im Bezirkstag. Auf die Frage, was sich im Alltag verändert hat, muss sie eine Weile überlegen: "Man sieht erst seit kurzem mehr Tschechen im normalen Leben. Letztens saßen im Wirtshaus in Rehau auch mal ein paar, die da gegessen haben. Da war ich ganz überrascht, denn das ist sonst eher nicht vorgekommen. Es geht jetzt so langsam los, dass die Tschechen auch mal am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Sonst sind sie zur Arbeit oder mal zum Einkaufen gekommen, aber das war es dann auch."
Ihrem Mann Klaus, der für die Sozialdemokraten im Rehauer Stadtrat aktiv ist, fallen vor allem die Sportvereine ein, in denen talentierte Tschechen gern als Verstärkung geholt werden, dazu die jährliche deutsch-tschechische Fußballschule oder die enge Zusammenarbeit zwischen dem deutschen BUND und tschechischen Partnern in Sachen Naturschutz. Aber sonst? "Sie werden sehen", sagt Elisabeth Scharfenberg, "wir haben ganz viele Denkmäler in Rehau - die liebt der Herr Pöpel. Das ist so eine abgehobene Form des Miteinanders, genauso wie offizielle Empfänge, Urkundenverleihungen oder Städtepartnerschaften. Aber es geht nicht in die Tiefe hinein, nicht in die Familien und auch nicht wirklich in die Vereine. In Rehau wird Partnerschaft dargestellt, aber nicht gelebt."
Das sieht Bürgermeister Pöpel ganz anders. Doch außer ihm vermittelt niemand, mit dem man in Rehau über Europa, EU-Osterweiterung oder verschwindende Grenzen spricht, allzu große Begeisterung. Auf der anderen Seite ist auch keine Panik zu spüren, ausgelöst etwa durch die gängigen Befürchtungen über wirtschaftliche Konkurrenz im Osten durch billige Arbeitskräfte und kostensparende Produktionsstandorte - die, wie das Münchner Ifo-Institut prophezeite, sich in Grenzregionen besonders drastisch niederschlagen soll. "Dort werden Senkungen des Lohnniveaus unvermeidbar sein", hat der Wirtschaftsweise und Ifo-Leiter Hans-Werner Sinn geurteilt.
Das wiederum sieht Ulf Mainzer ganz anders: "Es muss intelligentere Lösungen geben, als einfach mit den Löhnen runterzugehen." Mainzer ist als Manager der Rehau AG zuständig für die Personalplanungen. Um die Stadt Rehau zu verstehen, muss man die gleichnamige Firma besuchen - denn ohne die würde hier überhaupt nichts gehen. 1948 mit einer einzigen Maschine gegründet, ist die Rehau AG mittlerweile zu einem weltweit operierenden Unternehmen in Sachen Kunststoffherstellung und -verarbeitung gewachsen, die insgesamt 15.000 Mitarbeiter beschäftigt, davon allein 2.400 an ihrem Stammsitz. Dieser Erfolgsgeschichte ist es zu verdanken, dass Rehau im strukturschwachen Nordosten Bayerns eine absolute Ausnahmestellung innehat. Der Arbeitsamtsbezirk Hof zählt mit 13 Prozent Arbeitslosigkeit stets zu den Spitzenreitern im Freistaat, in Rehau liegt die Quote laut dem Bürgermeister derzeit zwischen vier und fünf Prozent.
Während rundum die Porzellanindustrie völlig zusammengebrochen ist, die Textilindustrie als zweites einstmals starkes Standbein der Region nur noch dahinsiecht und ein erfolgversprechender Strukturwandel nicht mal im Ansatz stattgefunden hat, konnte in Rehau die gleichnamige AG bislang alle Lücken schließen. So übernahm die Firma in den vergangenen Jahrzehnten bereitwillig die meisten Werke pleite gegangener Unternehmen, darunter eine Porzellan-, eine Holzwolle- und eine Polstermöbelfabrik, dazu eine Brauerei und einen Schlachthof.
Auch die Öffnung der Grenzen konnte die Rehau AG für sich nutzen, sagt Ulf Mainzer, und zählt all die Werke, Niederlassungen und Verkaufsbüros auf, die seit 1990 in der einstigen Tschechoslowakei, in Russland, Ungarn oder den fünf neuen Bundesländern gegründet wurden - ohne dass deswegen im Westen Arbeitsplätze verloren gingen. Worauf Mainzer sehr stolz ist: "Wir eröffnen neue Werke, ohne dafür andere in Deutschland schließen zu müssen. Es fand bis jetzt immer nur eine Erweiterung statt, keine Verlagerung." Und das, obwohl die Firma, ein konservativ geführtes Familienunternehmen, die Verlockungen des Ostens auch nutzen will: "Wir werden Fertigungen, die sich in Deutschland nicht mehr rechnen, in Ländern mit niedrigen Löhnen platzieren." Dass diese Entwicklungen Auswirkungen auf die Grenzregionen haben werden, sieht auch Mainzer. Doch er formuliert es positiv: "Es wird hier sicher eine schnellere Anpassung der verschiedenen Lohnniveaus auf den verschiedenen Seiten der Grenze geben als anderswo. Aber die Löhne werden im Durchschnitt steigen." Es fragt sich nur, wo sich dieser Durchschnitt am Ende einpendelt.
Denn die wirtschaftliche Stagnation in Deutschland bekommen auch die kleine Stadt und die große Kunststoff-Firma Rehau zu spüren. So ging die Arbeitslosigkeit laut Stadtverwaltung vor zwei, drei Jahren noch gegen Null. Zudem hat die Rehau AG Arbeitsplätze in Deutschland abgebaut: Waren es zu Hochzeiten an die 8.000 Beschäftigte hierzulande, so ist die Zahl in den vergangenen Jahren auf etwa 7.200 gesunken.
Es mag an diesem drohenden Herannahen der Krise liegen, dass man in Rehau wenig Begeisterung verspürt über offene Grenzen und die europäische Einigung. In einem Kurzwarengeschäft im Zentrum hängt ein Schild: "Bei uns können Sie weiter mit D-Mark bezahlen." Es wirkt wie ein trotziges Festhalten an einer Zeit, da alles noch schön übersichtlich und nationalstaatlich geordnet war. Blickt man auf das Schild, fällt einem plötzlich wieder ein, was in beinahe verblüffender, wörtlicher Übereinstimmung völlig unterschiedliche Gesprächspartner in Rehau gesagt haben: "Die Menschen, die hier leben, schauen nicht so gern über den eigenen Tellerrand hinaus." Zitieren lassen möchte sich niemand mit dieser Aussage. Man kann es aber so formulieren wie Doris Beer, Pressesprecherin der Rehau AG: "Eine Aufbruchsstimmung, so wie sie drüben auf der anderen Seite der Grenze herrschte, die gab es hier nicht. Man hat sich gefreut, dass die Grenze auf ist, dass man sich in alle Himmelsrichtungen frei bewegen konnte - aber das war es dann auch."
Während die Wiedervereinigung auch im Rückblick als epochales Ereignis betrachtet wird, scheint vor allem das Interesse am Nachbarn Tschechien begrenzt. So mussten vom Land finanzierte Tschechisch-Kurse mangels Teilnehmern weitgehend eingestellt werden. "Da gab es nach der Liberalisierung einen großen Enthusiasmus, der dann aber stark nachgelassen hat", gesteht selbst Edgar Pöpel ein, wobei er ausnahmsweise leicht resigniert dreinschaut, "und das wird sich wohl auch nicht mehr ändern". Fährt man aber nach Tschechien und fragt dort nach dem Weg, "dann finden sie meistens ein paar Mädchen oder zwei Buben so von 15, 16 Jahren, die sagen ihnen auf Deutsch, wo sie lang müssen. Das ist dort die zweite Fremdsprache. Hier lernen die Schüler neben Englisch lieber Französisch oder Italienisch." Europa beginnt eben im Westen und nicht drei Kilometer weiter östlich.
Dieses Phänomen ist aus den Grenzgebieten zu den Niederlanden oder Dänemark bekannt: Auf der anderen Seite sprechen fast alle Deutsch, doch hierzulande beherrscht kaum jemand die Vokabeln des kleinen Nachbarn. In Rehau scheint diese Form der Ignoranz allerdings etwas stärker ausgeprägt zu sein. Sieht man sich länger in diesem sauberen, eher grauen Industriestädtchen um, das sich sichtlich Mühe gibt, etwas bunter zu wirken, dann fällt auf, dass fast nirgendwo ein tschechisches Wort zu lesen ist, weder auf Speisekarten noch auf Hinweisschildern oder in Geschäften. Dabei hat die Stadt nicht einmal vergessen, auf dem zentralen Maxplatz in türkischer Sprache darauf hinzuweisen, dass es verboten ist, den Rasen zu betreten.
Es ist auch weder am Vormittag noch am Nachmittag ein tschechisches Auto in der Stadt zu sehen. Eine Verkäuferin in einem Zeitschriftenladen findet das nicht ungewöhnlich: "Ich sehe selten Tschechen, die hierher zum Einkaufen kommen. Es gibt einige, die hier Jobs haben, meistens in der Gastronomie, aber die kommen zur Arbeit und fahren dann wieder weg." Natürlich mag das Ausbleiben schlicht an den Preisen liegen. Doch die nicht gelebte Partnerschaft, die Elisabeth Scharfenberg ebenso beschreibt wie eine Redakteurin des "Rehauer Tagblatts", hängt sicher mit dem durch die Vergangenheit belasteten Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen zusammen. Nach Kriegsende kamen an die 3.000 Sudetendeutsche aus dem nur wenige Kilometer entfernten Asch nach Rehau und organisierten sich in einem Heimatverein. "Da gibt es natürlich Falken und Tauben", sagt Bürgermeister Pöpel. Viele Konflikte, die sich meist um verlorenes Hab und Gut drehen, schwelen 14 Jahre nach der Grenzöffnung weiter - auch wenn auf beiden Seiten niemand gern darüber spricht.
Die Vergangenheit, die Mentalität, das reichlich wertkonservative Klima, dessen beste Aushängeschilder der von allen Seiten als äußerst fähig, aber auch äußerst diktatorisch beschriebene Bürgermeister und die Rehau AG sind, die sich beharrlich weigert, einen Betriebsrat zuzulassen, dafür aber diverse Mitarbeiter als CSU-Stadträte entsendet - das alles notiert der Reporter als einleuchtende Gründe, warum man an einem ganz normalen Tag in Rehau so wenig davon spürt, dass die Stadt nun, wie es die Eigenwerbung verspricht, "in der Mitte Europas liegt".
Aber der Kern liegt woanders. Nüchtern betrachtet, verhält es sich für die Rehauer einfach nicht soviel anders als für den Rest der Bevölkerung im ehemaligen Westdeutschland: Das Verschwinden des eisernen Vorhangs hat am eigenen Leben kaum etwas verändert - selbst, wenn er direkt vor der eigenen Nase hing. Das politische, soziale, gesellschaftliche, kulturelle System ist gleich geblieben. Arbeitslosigkeit und Sozialabbau wurden auch schon vor 1989 als stetig wachsende Bedrohung empfunden. Und in Rehau steht und fällt bis heute alles mit der gleichnamigen Firma. Die verhält sich aber im positiven Sinne bislang zu konservativ, um ihren Hauptsitz Rehau wegen möglicher Vergrößerungen der Gewinn-Margen zugunsten eines Wechsels ins Ausland erheblich zu verkleinern - obwohl Firmenchef Jobst Wagner aus steuerlichen Gründen mittlerweile die Geschäfte von der Schweiz aus führt.
Echte, spürbare ökonomische Veränderungen werden möglicherweise erst dann eintreten, wenn nach Ablauf einer siebenjährigen Schonfrist Arbeitskräfte aus den neuen EU-Staaten ohne jede Beschränkung in Deutschland arbeiten dürfen. Erst dann wird sich wirklich zeigen, ob der Rehauer Arbeitsmarkt durch einen Andrang von Fachkräften etwa aus Tschechien umkämpfter wird. Ob preisgünstigere Konkurrenz aus den neuen Mitgliedsstaaten auf die engen Spezialmärkte drängt, in denen sich die Rehau AG tummelt. Oder ob sie sich auf den neuen Absatzmärkten im Osten behaupten und weiter expandieren kann, was letztlich auch dem Stammsitz in Rehau zugute käme. Das ist die entscheidende Frage, der sich Rehau in den kommenden zehn, zwanzig Jahren stellen muss. Die echte Grenzöffnung steht der Grenzstadt noch bevor. Bis jetzt ist nicht viel passiert. Zumindest in Rehau.
Jörg Schallenberg arbeitet als freier Journalist in München.