Die Berliner Mauer kann wohl den traurigen Titel der berühmtesten Grenze der Welt für sich reklamieren. Wie sie entstand und was davon noch steht
Als im Sommer 1961 der Strom der Flüchtlinge aus der DDR anschwoll und an West-Berliner Stammtischen das Wort die Runde machte, nun laufe "die Zone leer wie ein rostiger Eimer", rechneten viele Bewohner der Vier-Sektoren-Stadt mit harten Reaktionen der Sowjets und ihrer deutschen Gefolgsleute. Unsicher aber blieben alle Voraussagen: Östliche Eingriffe in den Luftverkehr hätten die westalliierten Berlin-Garantien so eindeutig verletzt, dass militärische Konflikte mit unabsehbaren Folgen nicht auszuschließen gewesen wären. Eher war mit schärferen Kontrollen innerhalb des sowjetisch kontrollierten Gebietes zu rechnen - namentlich an allen Übergängen vom Ostsektor Berlins zu den angrenzenden DDR-Bezirken Potsdam und Frankfurt (Oder).
Die Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin hermetisch abzuschnüren, galt weithin als unvorstellbar: Die innerstädtische Trennlinie kreuzte Straßen und Plätze, Parks und Friedhöfe, Waldgebiete, Felder, Seen , Flüsse und Kanäle. Befragt, ob die DDR die Errichtung der Staatsgrenze am Brandenburger Tor plane, hatte SED-Chef Walter Ulbricht im Juni vor westlichen Journalisten erklärt, seine Bauarbeiter seien mit Wohnungsbau beschäftigt, niemand wolle eine "Mauer" bauen. An dieses alsbald gebrochene Versprechen erinnerten sich die westlichen Medien erst wieder, als vom 16. August an eine Sperr-Mauer die ausgelegten Stacheldrahtverhaue, spanischen Reiter und militärisches Gerät ersetzte. Vom Westen her schallte jene Ulbricht-Sentenz immer wieder über die höher und höher wachsende Mauer in den Ostteil der Stadt zurück.
Wut, Verzweiflung, Angst vor einer weiteren Verschärfung der Berlin-Krise bestimmten das Meinungsbild der meisten West-Berliner im Herbst und Winter jenes Jahres, während Politiker und Publizisten in den Hauptstädten der Westmächte bald erkennen ließen, dass sie den Mauer-Bau als Alternative zu einer weit gefährlicheren Machtprobe deuteten, wie man sie seit dem sowjetischen Berlin-Ultimatum von 1958 befürchtete hatte. In seinen "Erinnerungen" schrieb Berlins damaliger Regierender Bürgermeister Willy Brandt später: "Es stellte sich heraus, dass die Alliierten einer falschen Krise entgegengezittert hatten."
Als am 16. August vor dem Schöneberger Rathaus eine riesige Menschenmenge - etwa eine Viertel Million West-Berliner - gegen die Absperrung Ost-Berlins protestierte, sah man auf dem Rudolf-Wilde-Platz, der später den Namen Kennedys tragen sollte, Schilder mit Aufschriften wie "Papierne Proteste stoppen keine Tanks" - "Werden wir vom Westen betrogen ?" - "München - Berlin, 1938 - 1961?" . Brandt richtete einen Brief an den US-Präsidenten: "Untätigkeit und reine Defensive könnten ein Vertrauenskrise zu den Westmächten hervorrufen ... könnten zu einem übersteigerten Selbstbewusstsein des Ost-Berliner Regimes führen". Am folgenden Wochenende überwachte der Präsident, vom Weißen Haus am Telefon mit einem Vorposten in Helmstedt verbunden, die Verlegung von 1.500 Soldaten auf dem Landweg nach Berlin. Vizepräsident Lyndon B. Johnson flog in Begleitung des ehemaligen Generals Lucius D. Clay an die Spree - Clay war den Berlinern als "Vater der Luftbrücke" vertraut. Er ließ im Oktober Panzer am Checkpoint Charly auffahren, um das Recht der Westalliierten auf unkontrollierten Zutritt zum Ostsektor durchzusetzen
Zu den dringlichsten Aufgaben des Senats zählten soziale und wirtschaftliche Maßnahmen, um der drohenden Abwanderung aus West-Berlin entgegenzuwirken. In jeder Senatssitzung wurde die Stadtregierung über neue streng vertrauliche Daten zu Fortzügen aus Berlin informiert. Nie zuvor waren im Westteil der Stadt Grundstücke und Häuser so billig zum Verkauf angeboten worden. Ein durchaus ideenreiches Bündel von Plänen entstand in Bonner Ministerien und Berliner Senatsverwaltungen, um die Bewohner des Westteils zum Bleiben zu ermuntern: Entwürfe für die Wirtschaftsförderung und den Ausbau wissenschaftlicher Institutionen, für die Pflege der kulturellen Landschaft und für die Profilierung Berlins als Zentrum bundesdeutscher Entwicklungshilfe. Die Staatskassen waren üppig gefüllt - man konnte sogar das finanzieren, was viele Berliner ironisch die "Zitterprämie" nannten: Einen einmaligen Zuschuss zu Ferienreisen, 100 Mark für jeden, ob Kleinkind oder Greis.
Doch was auch immer als verheißungsvolle Signale für eine gesicherte Zukunft West-Berlins wahrzunehmen war, es blieb überschattet von tödlichen Zwischenfällen an der Mauer und von Berichten über Schikanen auf West-Berlins Transitwegen. Das Begehren, den West-Berlinern wenigstens - wie den Westdeutschen - Passierscheine zu Ein-Tages-Besuchen des Ostsektors zu gewähren, sollte bis zum Dezember 1963 unerfüllt bleiben.
Am letzten Tag des Jahres 1961 hatte ein enger Vertrauter von Bundeskanzler Adenauer, der Bundesminister Heinrich Krone (CDU), notiert, in Berlin seien die Menschen nicht mehr so erregt wie in den Monaten zuvor: "Sie sind aber besorgt, sehr besorgt. Sie stellen die Frage, wann sie gehen sollten." Wie ein Blitzschlag habe der 13. August - "Schicksalstag des deutschen Volkes" - die düstere Lage erhellt: "An der Mauer entlang ist Deutschland getrennt, verläuft die Grenze des kommunistischen Ostens gegen die freie Welt. Und - was wir immer nicht glauben wollten, die amerikanische Politik nimmt diese Grenze zur Kenntnis. ... Wir wissen jetzt alle, wo heute die Grenze verläuft, bis zu der sich die Amerikaner engagieren. Dieser Rückzug auf diese Linie hat viel an Vertrauen erschüttert."
Zur selben Zeit verfasste eine angesehene Berliner Publizistin, Margret Boveri, einen Beitrag für ein aktuelles Taschenbuch "Berlin und keine Illusion". Darin beschrieb sie die "immaterielle und doch so undurchdringliche Mauer", die sich längst "fast unmerklich in der Vorstellungswelt der Deutschen auf beiden Seiten der Trennungslinie gebildet" habe - sie werde sich anders als die seit dem 13. August 1961 aus Steinen, Mörtel und Zement gefügten Mauer nicht "mit physischen Mitteln von einem Tag auf den anderen abtragen" lassen, denn sie sei "in der Landschaft des kalten Krieges in ihrer Doppelseitigkeit allgegenwärtig: gebaut aus vermeintlichen Erkenntnissen und propagandistisch erzeugten Vorstellungen, zementiert durch immer neu aufwallende und wieder erstarrende Lagen hochgepeitschter Erregungen". Es werde schwer sein, sie abzutragen.
Drei Jahrzehnte später behielt Margret Boveri Recht - gewiss nicht mit Blick auf jene, die noch Kinder und Jugendliche waren, als die Mauer fiel, wohl aber in der Wahrnehmung jener, die das Mauer-Regime in der aktivsten Phase ihrer Existenz gepriesen oder verflucht, erlebt und erlitten hatten. Manfred Rexin
Der Autor war Leiter der Hauptabteilung "Kultur und Zeitgeschichte" des RIAS Berlin.