Das Recht braucht keine territorialen Grenzen - im globalen Kontext bilden sich Formen "komplexer Souveränität" heraus
Entgegen derartigen, wenig hoffnungsfroh stimmenden Entwicklungen steht jedoch auch eine Reihe anderer Eindrücke: im Mai 2004 wurde in den USA zum ersten Mal ein Todesurteil mit ausdrücklichem Verweis auf internationales Recht aufgehoben; die Volksrepublik China verankerte ausdrücklich einen Bezug auf die Menschenrechte in ihrer Verfassung; und schließlich hat der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit aufgenommen.
Gerade am Beispiel des Internationalen Strafgerichtshofs lässt sich anschaulich aufzeigen, wie unterschiedlich die Zeichen der Zeit gedeutet werden können: man kann die Blockadehaltung einiger Staaten, ja das aktive Torpedieren der Ziele des Gerichtshofes durch Bemühungen der USA, mittels bilateraler Abkommen die Überstellung von US-Bürgern an den Gerichtshof zu verhindern, als Scheitern des Projekts werten, erstmals dauerhaft eine internationale Strafgerichtsbarkeit zu etablieren. Man kann aber auch gerade die Tatsache, dass sich eine solche internationale Strafgerichtsbarkeit trotz des Widerstandes der USA etabliert hat, als Erfolgsmeldung im Sinne eines Reifungsprozesses des Völkerrechts interpretieren: So gesehen, wäre es um das Recht in der Weltgesellschaft weitaus besser bestellt, als dies zunächst den Anschein haben mag.
Unbestritten ist, dass die "Rechtsmasse" in der Weltgesellschaft, dass die Menge des Rechts jenseits der Nationalstaaten in einer kaum überschaubaren Maschinerie der Norm- und Regelgenerierung sowie der Institutionenbildung immer weiter zunimmt. Damit ist nicht nur das klassische Völkerrecht angesprochen, das weiterhin fast ausschließlich souveräne Staaten als vollmündige Rechtssubjekte anerkennt. Vielmehr ist damit ein ausufernder Prozess globaler Rechtsentwicklung gemeint, der die rechtliche beziehungsweise rechtsförmige Regelung unterschiedlichster Bereiche umspannt. Nicht nur die Staaten gießen internationale Kooperation zunehmend in Rechtsformen. Vielmehr entwickelt sich ein Korpus transnationalen Rechts ohne maßgeblichen Einfluss der Staaten. Am meisten diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Entwicklung eines wesentlich von privaten Akteuren wie etwa der Internationalen Handelskammer ausgeprägten Norm- und Schiedssystems im Bereich des transnationalen Handels (der so genannten "lex mercatoria"). Jenseits von Fragen des Handels haben darüber hinaus vielfältige Untersuchungen zur "Privatisierung" der Weltpolitik, zur Herausbildung von privaten Steuerungsregimes im globalen Kontext nachgewiesen, dass es sich hier um eine umfassendere Entwicklung handelt, in welcher sich der Bestand rechtlicher Normen in der Weltgesellschaft jenseits staatlichen und zwischenstaatlichen Rechts vermehrt durch die Tätigkeit oder doch zumindest unter der wesentlichen Beteiligung privater Akteure fortentwickelt.
Das quantitative "Wuchern" von Rechtsnormen in der Weltgesellschaft ließe sich zunächst noch als relativ unspektakulärer und im Sinne globaler Modernisierungsdynamiken erwartbarer, mangels Durchsetzungsmacht jedoch folgenloser Prozess globaler Verrechtlichung abtun. Aber gerade hier fällt die neue Qualität ins Auge, welche dieser Verrechtlichungsprozess in den vergangenen Jahren gewonnen hat: ob private Schiedsgerichte etwa bei der Internationalen Handelskammer (ICC), staatliche Schiedsgerichte wie etwa bei der Welthandelsorganisation (WTO), oder aber der Internationale Strafgerichtshof (ICC): sie alle stehen für eine zunehmende Ausbildung von Sekundärnormen im Recht der Weltgesellschaft, das heißt Normen, welche nicht nur Regeln aufstellen, sondern Verfahren bei Regelverstößen festlegen oder Bestimmungen für den Umgang mit widerstreitenden Regeln (so genannte Kollisionsnormen) enthalten. Hierin zeigt sich eine nachhaltige Reifung des Rechts jenseits des Nationalstaates.
Insgesamt deuten diese Tendenzen darauf hin, dass sich das Recht der Weltgesellschaft zunehmend eigendynamisch entwickelt. So beschreibt etwa die soziologische Systemtheorie diesen Prozess als die Evolution eines eigenständigen, selbstreferentiellen Funktionssystems "Recht" in der Weltgesellschaft; aber auch aus anderen soziologischen Traditionen lassen sich ähnliche Diagnosen ableiten, so etwa, wenn die globale Rechtsentwicklung als Ergebnis der Tätigkeit und des Kommunikationszusammenhangs einer Gemeinschaft von "international lawyers" und von "Rechtsunternehmern" interpretiert wird. Besonders deutlich wird die Eigendynamik dieser Entwicklung in Bezug auf die Tätigkeit des Europäischen Gerichtshofes, der durch seine Rechtsprechung, vor allem aber auch durch seine Inanspruchnahme durch nationale Rechtssysteme schon lange als Motor einer nicht mehr vorrangig politisch gesteuerten Rechtsevolution im Rahmen der Europäischen Union gelten kann.
Die geschilderte Entwicklung - wie auch die Entwicklung des Völkerrechts in seiner Gesamtheit - demonstriert eindrucksvoll, dass staatliche Souveränität und eine letztlich mit dem staatlichen Monopol legitimer Gewaltanwendung verknüpfte Rechtsdurchsetzung nicht notwendig für die Rechtsgeltung sind, wie es durch Rechtsauffassungen in der Tradition Austins nahegelegt wird. Ein Monopol legitimer Gewaltanwendung (ob die des souveränen Nationalstaates, des UN-Sicherheitsrates oder eines anderen Gebildes) stellt sicherlich in Bezug auf bestimmte Formen des Rechts die beste Voraussetzung für die Rechtsdurchsetzung dar, ist aber nicht notwendige Bedingung für die Geltung jedweden Rechts.
So verstanden, "braucht" das Recht daher insbesondere auch keine territorialen Grenzen. Die Funktion von territorialen Grenzen für das Recht leitet sich allein aus einer Vorstellung ab, nach der die Geltung des Rechts letztendlich nur auf der Legitimationsgrundlage souveräner Staatlichkeit aufbauen kann. Diese Auffassung wird aber um so fragwürdiger, wenn man gerade der Souveränität keine rechtsunabhängige, gleichsam übernatürliche Existenz zuspricht, aus welchem sich dann das Recht ableiten würde. Mit dem Recht und der Globalisierung des Rechts verändern sich erstens die Form und Funktion von Souveränität als Institution. In Bezug auf die Souveränität als einer Letztbegründungsfiktion des Rechts können zudem zweitens die angesprochenen Prozesse der Rechtsentwicklung kaum als ein "Mehr" oder "Weniger" an Souveränität qualifiziert werden. Vielmehr bilden sich im globalen Kontext Formen von "komplexer Souveränität" heraus.
Wenn demgemäß Grenzen nicht zwingend notwendig für das Recht einer Weltgesellschaft sind, läge dann nicht gerade in der globalen Rechtsentwicklung der Ansatz für eine grenzenlose Welt? Gälte Ähnliches mithin nicht auch für die Politik? Betrachtet man Recht und Politik aus einer weltgesellschaftlichen Perspektive, dann wandelt sich der Blick auf territoriale Grenzen. Territoriale Grenzen konstituieren dann nicht mehr nationalstaatliche politische und rechtliche Räume. Vielmehr erscheinen sie als Form der inneren Differenzierung globaler Räume. Internationale und globale Politik "entstehen" in dieser Perspektive nicht wundersamerweise aus der Interaktion von wesensmäßig unabhängigen, dieser Interaktion vorgelagerten Einheiten, den Staaten.
Es gibt nur ein politisches System in der Weltgesellschaft, das jedoch nicht aus Territorialstaaten "zusammengesetzt", sondern in weiten Teilen intern in territoriale Segmente differenziert ist. Eine solche Perspektive erlaubt es anzuerkennen, dass sich ein Großteil von Politik weiterhin innerhalb von Nationalstaaten abspielt. Die zunehmende Bedeutung internationaler, transnationaler und globaler Politikprozesse erscheint dann jedoch nicht als eine "Auflösung" territorialer Grenzen - ganz im Gegenteil. Die zunehmende Bedeutung globaler Politikprozesse verweist auf einen Wandel der Bedeutung und der Funktion territorialer Grenzen im politischen System der Weltgesellschaft. Das politische System der Weltgesellschaft differenziert und strukturiert sich immer weniger entlang territorialer Grenzen, sondern zunehmend entlang funktionaler Erfordernisse. Genauso wenig wie die Entwicklung eines globalen Rechtssystems bedeutet, dass nationale Rechtsordnungen ersatzlos wegfallen, bedeutet dies, dass nationalstaatliche politische Ordnungen obsolet werden. Das politische System macht mithin nur einen ähnlichen Wandlungsprozess wie das Rechtssystem durch. Grenzen bleiben dabei weiterhin wichtig, aber diese Grenzen sind immer weniger territorialer Natur.
Ein souveräner "Weltstaat", in welchem territoriale Grenzen für Politik und Recht keine herausragende Bedeutung mehr besitzen, entsteht nicht. Das Rechts- wie auch das politische System der Weltgesellschaft reifen jedoch in einem Maße heran, dass es durchaus berechtigt erscheint, hier eine entstehende Weltstaatlichkeit zu diagnostizieren. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass Orte kollektiven Handelns und kollektiv verbindlichen Entscheidens, dass politische Strukturen und Institutionen ähnlich wie in der skizzierten Entwicklung des Rechts sich nicht mehr vorrangig anhand territorialstaatlicher Unterscheidungen ordnen lassen. Weltstaatlichkeit bedeutet, dass wichtige Funktionen politischen Handelns und der Rechtsprechung auf unterschiedliche Orte im und jenseits des Nationalstaates diffundieren. Der National- beziehungsweise Territorialstaat bleibt in diesem Sinne Teil einer solchen Weltstaatlichkeit und ist ihr nicht entgegengesetzt.
"Weltstaatlichkeit" meint dabei aber mehr als den geläufigen Begriff der "Global Governance". Die Rede von der Weltstaatlichkeit betont zum einen, dass es nicht nur um "Global Governance" im vermeintlich neutralen Sinne einer politischen Steuerung jenseits des Nationalstaates geht, sondern dass der Entwicklungs- und Reifeprozess des politischen Systems und des Rechtssystems der Weltgesellschaft hier zusammen zu sehen sind. Sie betont darüber hinaus aber zum anderen auch, dass sich hinter dem Reifungsprozess des politischen Systems der Weltgesellschaft, wenn auch nur in Ansätzen, Elemente politischer Gemeinschaftsbildung ausmachen lassen. Diese politische Gemeinschaft etabliert sich zwar weiterhin vorrangig temporär und punktuell und ist dabei auf die globale Skandalisierung von Ereignissen angewiesen (vom 11. September bis zu den Folterungen im Irak). Sie verfestigt sich aber teilweise bereits zu globalen parteilichen Auseinandersetzungen, wie etwa in der alljährlichen Entgegensetzung des Weltwirtschafts- und des Weltsozialforums deutlich wird. Davos und Porto Allegre stehen in diesem Sinne gerade aufgrund der sich darin widerspiegelnden Partikularinteressen für die Reifung eines weltpolitischen Systems.
Die Diagnose der Herausbildung einer Art Weltstaatlichkeit ohne Weltstaat aufgrund des Reifungsprozesses des politischen Systems und des Rechtssystems der Weltgesellschaft ist zunächst nicht mehr und nicht weniger als dieses - eine Diagnose. Die normative Bewertung dieser Entwicklung steht auf einem ganz anderen Blatt. Es erscheint unbestreitbar, dass ein potenzieller Gewinn an rechtlichen und politischen Gestaltungsmöglichkeiten jenseits des Nationalstaates mit einem teilweise Verlust an demokratischer Legitimität einhergeht. Ein solcher Verlust demokratischer Legitimität soll und darf nicht dazu führen, die Entwicklung der Politik und des Rechts der Weltgesellschaft nicht beim weltstaatlichen Namen zu nennen und sie geradezu zwanghaft auf nationalstaatliche Grundkategorien zu reduzieren. Ein solcher Verlust an demokratischer Legitimität weist vielmehr darauf hin, dass die Herausbildung von Weltstaatlichkeit allem voran politischer Gestaltung bedarf.
Mathias Albert ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld und Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand des Instituts für Weltgesellschaft.