Grenzbesuch
Plötzlich ist man in Frankreich, genauer gesagt im Département Bas Rhin, und hätte es beinahe gar nicht bemerkt: Die deutsche B9 wird übergangslos zur französischen A35, der Grenzübergang bei Lauterbourg ist verwaist, kein Zöllner fragt nach dem Pass. Wehten nicht "Schwarz-Rot-Gold" und "Bleu-Blanc-Rouge" an den Fahnenmasten, die Zollgebäude wären als solche kaum noch zu erkennen. Nur dann und wann lässt sich ein Wagen des Bundesgrenzschutzes oder der französischen Kollegen blicken.
Die vielen Autos mit deutschen Kennzeichen sind auf den Straßen des Elsasses nicht zu übersehen. Das Land zwischen Vogesen und Rhein übt auf die Deutschen eine große Anziehungskraft aus - vor allem auf ihre Mägen. Zwischen Wissem-
bourg im Norden über Strasbourg nach Mulhouse im Süden belagern sie die Gourmet-Tempel und Landgasthöfe. Zu meist angemessenen Preisen lassen sie sich lukullisch verwöhnen: sei es nun mit der feinen französischen Küche oder handfesten Elsässer Spezialitäten wie Baeckeoffe, Flammkuchen oder Guglhupf. Wer dann noch nicht genug hat, steuert nach dem Verdauungsschnaps den nächstgelegenen "Supermarché" an. Vor deren Toren werden kistenweise Rotwein oder "Crémant", das Elsässer Pendant zum französischen Champagner, in die Kofferräume von VW, BMW und Mercedes gestapelt - garniert mit frischen Baguettes und Gänseleberpastete.
Verlässt man bei Lauterbourg die A 35 und folgt der Landstraße nach Westen, so erreicht man die 750-Seelengemeinde Scheibenhard an der Lauter. Der kleine Fluss bildet dort seit dem Wiener Kongress die Grenze zu Deutschland und zur deutschen Nachbargemeinde Scheibenhardt - ebenfalls rund 750 Einwohner. Leicht zu unterscheiden: "dt" am Ende wie "deutsch". Als in der Silvesternacht 1992/93 die Zollgrenzen in der EU fielen, feierten Scheibenhardter und Scheibenharder auf der Lauterbrücke ausgelassen eine Art friedliche "Wiedervereinigung". Die deutsch-französische Fehde sollte endlich der Vergangenheit angehören, Zusammenarbeit war und ist angesagt.
Doch während Konflikte verschwanden, entstanden auch neue. Ein Beispiel: Die Deutschen investieren ihr Geld nicht nur gerne in leibliche Genüsse - sie bleiben auch ebenso gerne auf Dauer. Die Grundstücks- und Immobilienpreise waren Anfang der 90er-Jahre so viel günstiger, dass so mancher Badener und Pfälzer sich hier ein neues Domizil suchte; vorzugsweise ein schmuckes altes Fachwerkhaus. Schöner Wohnen im Elsass, weniger Steuern zahlen in Frankreich, Geld verdienen in Deutschland. Die Immobilienpreise stiegen, die Stimmung auf der elsässischen Seite sank. Prinzipiell verstehen sich die "Erben Karls des Großen" am Oberrhein aber recht gut. Auch wenn die Bereitschaft, die Sprache des Nachbarn zu erlernen, noch etwas größer sein dürfte.
Ob das Elsässische als deutscher Dialekt im französischen Zentralstaat auf Dauer überlebt, bleibt abzuwarten. Bislang zeigen sich die Elsässer jedoch als wahre Überlebenskünstler: Allein in den 75 Jahren zwischen zwischen 1870/71 und 1945 wechselte ihre Heimat, ebenso wie das benachbarte Lothringen, viermal den Besitzer. Erst kam der deutsche Kaiser, dann wieder die Franzosen, dann die Nazis und schließlich wieder die Franzosen. Dieses Hin- und Hergeschubse zwischen Paris und Berlin, und die Erfahrung, von beiden Seiten nicht für vollwertig genommen zu werden - als "Boches" beschimpft, als "Rucksackfranzosen belächelt -, ließ eine eigene Identität entstehen: "In erster Linie sind wir Elsässer, in zweiter Linie Franzosen, aber bestimmt keine Deutschen", ist eine gängige Antwort, wenn man die Menschen in der Region nach ihrem Zugehörigkeitsgefühl befragt. Böse ist das nicht gemeint. Es spricht aber von leidvollen Erfahrungen - mit und auf beiden Seiten.
Wer sich eine genauere Vorstellung von der Mentalität der Elsässer und ihrer wechselvollen Geschichte machen will, dem sei der autobiografische, humorvolle Roman "Die Linden von Lautenbach" von Jean Egen empfohlen. Er erzählt die Geschichte eines 1920 im Elsass geborenen Kindes, dass sich zwischen zwei Nationen hin- und hergerissen fühlt, geschrieben in Französisch ("in dieser Sprache habe ich schreiben gelernt") und ins Deutsche übersetzt ("durch den Dialekt habe ich in dieser Sprache zu träumen begonnen"). Egen berichtet: "Vornamen, die in der französischen Sprache wie Kristall klingen, scheppern im Elsässischen wie rostiges Blech, meine Onkel, Charles, Edouard, Joseph, Hubert, werden zu Schari, Wari, Seppi, Hüppri, und Jeanne und Marguerite werden zu Schanni und Greti. Im übrigen besitzen wir Klänge, die eine französische Kehle nicht herausbringt. Unsere Kehlen sind mit Meerretich, Münsterkäse, Sauerkraut und Kirsch gebeizt, und der Dialekt klingt eben, wie diese Schätze unseres Bodens schmecken. Herb und Stolz." Alexander Weinlein