Im Gespräch: Kerstin Griese (SPD), Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag
Das Parlament: Frau Griese, die meisten Menschen, Jüngere wie Ältere, stehen der Lebensform Familie positiv gegenüber. Doch immer weniger Menschen leben diese Lebensform, wenn man definiert, dass Familie da ist, wo Kinder sind. Warum sind Politik, Wirtschaft und Gesellschaft so spät aufgewacht, um Familien zu stärken?
Kerstin Griese: Es gilt eben nicht mehr Adenauers Spruch "Kinder kriegen die Leute sowieso". Denn obwohl fast alle jungen Menschen Kinder wollen, sinkt die Geburtenrate in Deutschland seit Jahren, genauso in Ländern wie Italien, Österreich und Spanien, deren Geburtenzahlen EU-weite Schlusslichter sind. Viel zu lange bedeutete eine Familie zu gründen, dass die Frauen zu Hause bleiben müssen und keine Wahlfreiheit haben. Da haben sich die Ansprüche - zu Recht - verändert. Denn die junge und gut ausgebildete Frauengeneration will genauso wie die Männer Kinder und Berufstätigkeit vereinbaren können. Unsere Gesellschaft ist insgesamt zu wenig kinderfreundlich. In vielen Bereichen wie zum Beispiel in der Wirtschaft dachte man jahrzehntelang, dass das kein Thema für die Unternehmen wäre. Inzwischen macht sich die Erkenntnis breit, dass wir in allen Bereichen der Gesellschaft kinder- und familienfreundlicher werden müssen. Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, diskutieren wir nun schon einige Zeit, und haben bereits wichtige Schritte unternommen.
Das Parlament: Familien standen keineswegs immer im Zentrum der Politik, so wie im Moment. Was kann der Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überhaupt tun, damit Familien gestärkt werden?
Kerstin Griese: In der vergangenen Legislaturperiode haben wir - auf das Jahr gerechnet - das Kindergeld um gut 500 Euro erhöht. Damit haben wir - zusammen mit Luxemburg - das höchste Kindergeld in Europa. Wir wissen aber, dass finanzielle Transfers die Menschen nicht überzeugen, eine Familie zu gründen. Was wir brauchen, sind mehr Einrichtungen für Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder. Die Förderung der Kleinsten muss im Mittelpunkt stehen und die Gesellschaft insgesamt muss mehr Verantwortung dafür übernehmen. Das ist der Paradigmenwechsel, den die Familienpolitik der rot-grünen Koalition jetzt vorgenommen hat. Und das ist ein entscheidender Erfolg der Familienpolitiker und -politikerinnen im Bundestagsausschuss.
Das Parlament: Eine Delegation des Ausschusses hat im Mai Helsinki und London besucht. Welche Erkenntnisse zur Kinderbetreuung und zur Frühförderung haben Sie von den europäischen Nachbarn mitgebracht, und was lässt sich auf die deutschen Strukturen übertragen?
Kerstin Griese: Große Sorgen macht uns in Deutschland die Situation der Kinder, die in bildungsfernen Schichten und sozial benachteiligten Stadtteilen aufwachsen. In Großbritannien gibt es mit den "Early Excellence Centers" einen hervorragenden Ansatz. Dort wird Hilfe und Unterstützung aus einer Hand angeboten, indem Kindergärten, Krabbelgruppen, Jugendhilfe, Erziehungshilfe, Gesundheitsberatung, Hilfe bei der Jobsuche und bei sozialen Fragen sowie Sprachkurse für Kinder und Eltern in einem Stadtteilzentrum zusammen gefasst sind und vernetzt arbeiten. Ziel ist es, jedem Kind einen "sicheren Start" anzubieten. In Deutschland werden die Hilfen für Familien leider oftmals viel zu verstreut angeboten. Die Familien, die solche Angebote wirklich dringend brauchen, werden damit häufig nicht erreicht. Deswegen sollten in Deutschland solche Zentren in den Städten und Gemeinden entstehen - zunächst als Modellprojekte, später flächendeckend. Finnland ist - wie die anderen nordischen Länder auch - ein herausragendes Beispiel dafür, wie die Gesellschaft ihrer Mitverantwortung für die Kinder gerecht wird und die Eltern damit nicht allein lässt. Die dortige Infrastruktur für Betreuung, Förderung und Bildung nützt nicht nur den Eltern, sondern gerade auch den Kindern.
Das Parlament: Die bedarfsdeckende Kinderbetreuung und -förderung vor allem der ganz Kleinen bis drei Jahre weist in Deutschland Defizite auf. Werden bis zu 1,5 Milliarden Euro jährlich ab dem Jahr 2005 reichen, um dieses Angebot in den Kommunen auszubauen?
Kerstin Griese: Für den Beginn reicht das auf alle Fälle. In den westdeutschen Ländern gibt es Kinderkrippen bekanntlich nur in "homöopathischen Dosen" - da bedeutet dieses Geld bereits einen enormen Schub. Es geht darum, endlich einen Anfang zu machen und die Kommunen zu unterstützen, die schon jetzt gesetzlich verankerten Angebote für Unter-Dreijährige bereit zu stellen. Viele Halbtags-Kindergartenplätze für Drei- bis Sechsjährige müssten wegen der sinkenden Geburtenzahlen in den nächsten Jahren geschlossen werden. Wenn diese in Gruppen für Null- bis Sechsjährige oder Ganztagsplätze umgewandelt würden, wären wir schon einen großen Schritt weiter. Übrigens nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ, denn altersgemischte Gruppen sind die pädagogisch wertvollsten. Außerdem wollen wir die Arbeit von Tagesmüttern - und manchmal auch -vätern - durch bessere Qualifizierung und steuer- und versicherungsrechtliche Absicherung stärken. In Ostdeutschland, wo es für etwa 35 bis 40 Prozent der Kinder unter drei Jahren ein Angebot gibt, kann mit mehr Geld die Qualität der Arbeit verbessert werden.
Das Parlament: Der Ausbau der Kinderbetreuung soll in Zeiten leerer Staatskassen gelingen. Inwiefern sind die Kosten für eine Schritt für Schritt immer besser ausgebauten Kinderbetreuung gerechtfertigt?
Kerstin Griese: Der volkswirtschaftliche Gewinn von Investitionen in Kindertageseinrichtungen übersteigt die Kosten bei weitem, wie eine DIW-Studie nachgewiesen hat. Allein die Beschäftigung erwerbswilliger Mütter mit akademischer Ausbildung würde für die öffentlichen Kassen Einnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro bedeuten. Pädagogisch hochwertige Kinderbetreuung führt zudem zu Einsparungen im Sonderschulbereich, bei der Jugendhilfe, der Integration von Migrantinnen und Migranten und langfristig zur Kriminalitätsvermeidung.
Das Parlament: Welche Chancen sehen Sie, Familien- und Kinderarmut zu verringern, wenn sich Kindererziehung und -betreuung mit Berufstätigkeit besser verbinden lassen?
Kerstin Griese: Eine sehr große Chance. Gerade für allein erziehende Mütter sind verlässliche Betreuungseinrichtungen die wesentliche Voraussetzung für eine Erwerbstätigkeit. Nur Erwerbstätigkeit der Eltern hilft auf Dauer auch den Kindern und beugt Armut vor. Dieser Weg ist meines Erachtens sinnvoller, als finanzielle Transfers zu erhöhen. Trotzdem mache ich mir nichts vor: Das Problem liegt tiefer. Viele sind ja nicht deswegen arm, weil sie viele Kinder haben. Sondern sie waren auch schon vorher arm, hatten eine schlechte oder gar keine Ausbildung, wenig Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt und die Motivation zur Arbeitsaufnahme war kaum vorhanden. Hier muss gezielte Förderung bei den Eltern ansetzen.
Das Parlament: Wie können materielle Förderungen der Familie nicht nur existenzsichernd sein, sondern auch Anreize schaffen, erwerbstätig zu werden und die berufliche Fortentwicklung zu suchen?
Kerstin Griese: Oft müssen wir sogar noch vorher ansetzen. Es gibt Eltern, die noch nicht mal einen Schulabschluss haben. Das bedeutet für das Aufwachsen der Kinder, dass Bildung und Beruf kaum erlebt werden. Hier müssen gezielte Anreize gesetzt werden. Wir müssen unsere sozialen Transfersysteme so gestalten, dass wir einen Einstieg in die Erwerbstätigkeit besonders attraktiv machen. Wichtig ist mir der Kinderzuschlag, den wir ab 2005 an gering verdienende Erwerbstätige auszahlen. Das ist der richtige Weg, denn es wird Eltern der Anreiz gegeben, in Erwerbstätigkeit zu gehen oder zu bleiben - und gleichzeitig werden die Kinder unterstützt.
Das Parlament: Väter entwickeln offenbar langsam ein neues Rollenverständnis. 4,9 Prozent nehmen derweil Elternzeit. Reicht das Gesetz zur Elternzeit in seiner jetzigen Gestalt aus, um die partnerschaftliche Aufteilung der Familienarbeit voranzubringen?
Kerstin Griese: Auch hier ist eine gute Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur der wesentliche Ansatz. Von der Basis einer verlässlichen Betreuung aus kann die Elternschaft wesentlich leichter partnerschaftlich aufgeteilt werden. Unser Gesetz, das es ermöglicht, dass beide Elternteile gleichzeitig Elternzeit nehmen und zudem bis zu 30 Stunden in der Woche arbeiten dürfen, hat bereits die Steigerung des Väteranteils bei der Elternzeit von zwei auf fast fünf Prozent erreicht. Das ist ein kleiner Schritt vorwärts, aber ich wünsche mit da deutlich mehr Beteiligung der Männer. Ich fände es eine tolle Idee, wenn jedem Elternteil beispielsweise ein Viertel der Elternzeit exklusiv zustände und sie die andere Hälfte frei untereinander aufteilen könnten. In Schweden hat man mit einer ähnlichen Regelung gute Erfahrungen gemacht. Ziel muss sein, dass Männer und Frauen Kinder und Beruf vereinbaren können. Es darf nicht sein, dass Eltern gezwungen sind, zu Hause zu bleiben.
Das Parlament: Was muss sich gesellschaftlich eben auch in den Köpfen und Haltungen von Menschen noch verändern, wenn man bedenkt, dass Gesetze nur die Rahmenbedingungen schaffen können?
Kerstin Griese: Insbesondere bei den Männern muss sich eine Menge ändern, wenn Kinder in der heutigen Zeit weiterhin in allen Schichten der Gesellschaft ihren Platz haben sollen. Es sind leider immer noch die Frauen, die die Hauptarbeit tragen. Viele Männer verbringen ihre Zeit lieber bei Überstunden in der Firma, statt zu Hause zu sein und sich um so profane Dinge wie Windeln wechseln und Kindermahlzeiten kochen zu kümmern. Ich weiß aber auch, dass es Männern in vielen Bereichen des Arbeitslebens noch immer schwer gemacht wird, sich mehr um die Kinder kümmern zu können. Deshalb geht es auch darum, dass sich in der Wirtschaft Haltungen verändern, damit Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Praxis möglich ist und nicht abgetan wird. Dass das Bild des oftmals als "Softie" verschrienen Mannes, der die Rolle des Vaters nicht nur beim sonntäglichen Zooausflug ausfüllen möchte, in unserer Gesellschaft mehr anerkannt wird, hängt - nicht nur, aber auch - von uns Frauen ab. Und nicht zuletzt gibt es viele Ansätze, den Alltag kinderfreundlicher zu gestalten: in der Straßenbahn, beim Einkaufen, im Restaurant, bei der Stadtgestaltung, wenn es um marode Spielplätze geht, bei den Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen und Geschäften, bei der Koordination von Arbeits-, ÖPNV- und Kinderbetreuungszeiten. Da helfen keine Gesetze, sondern ein Umdenken in den Köpfen muss stattfinden. Da sind wir in den vergangenen Jahren wirklich ein Stück weiter gekommen.
Das Parlament: Hat die Wirtschaft Ihrer Einschätzung nach die Zeichen der Zeit erkannt und verstanden, dass sich Familienfreundlichkeit für das Unternehmen auszahlen kann?
Kerstin Griese: Die Spitzenverbände der
Wirtschaft beteiligen sich einhellig an der "Allianz für
Familie", die Bundesfamilienministerin Renate Schmidt ins Leben
gerufen hat. Aber auch in vielen Firmen lassen sich unzählige
Einzelbeispiele für Familienfreundlichkeit finden. Das allein
ist schon ein Erfolg. Manchmal wundere ich mich aber, wenn
Vertreter der Wirtschaft auf der einen Veranstaltung mehr
Familienfreundlichkeit predigen und wenig später einer
drastischen Verlängerung der Arbeitszeit das Wort reden. Das
passt nicht zusammen. Denn Familien und Kinder brauchen
insbesondere eines: nämlich Zeit.
Das Interview führte Ines Gollnick.
www.kerstin-griese.de