Vom Lastenausgleich zum Leistungsausgleich
Das Thema Familie hat Konjunktur. Kein Politiker, der nicht Kinder als die Zukunft der Gesellschaft preist. Kein Medium, das sich nicht in irgendeiner Form mit den vielen Facetten des Kindseins in Deutschland befasst. Doch aus der Nische, in der sie jahrelang ihr Dasein fristeten, rückten Eltern und Kinder nicht, weil endlich der Sinn dafür erwacht wäre, dass Familien eine besonders zu pflegende Keimzelle der Gesellschaft sind. Die Dringlichkeit, die das Thema gegenwärtig erfährt, gründet eher in der demographischen Entwicklung und hat damit in erster Linie eine ökonomische Dimension: Die Deutschen werden immer älter. Es gibt zu wenig junge Menschen, um den Bestand der sozialen Sicherungssysteme zu gewährleisten, um hinreichend Nachwuchs für den Arbeitsmarkt zu generieren. Überwiegend ökonomisch wird auch die Debatte darüber geführt, wie die Geburtenrate stimuliert werden kann. Zumindest was das Vokabular anbelangt, hat sich der Grundtenor positiv gewandelt: Der Familienlastenausgleich wurde zum Familienleistungsausgleich.
Der Begriff scheint jedoch so ziemlich der einzige Konsens in der Debatte. Die Wirtschaftsforschungsinstitute etwa sind sich nicht einig, ob Bürger, die Kinder erziehen, finanziell angemessen behandelt werden oder nicht. Während das Kieler Weltwirtschaftsinstitut lobend hochrechnet, der Staat wende jährlich rund 150 Milliarden Euro für Familien auf - von der Bildung bis zu Steuervergünstigungen -, kommt das Münchner ifo-Institut zu dem Schluss, die Familien hätten in zwölf Jahren rund 33 Milliarden zu viel an Steuern gezahlt. Fest steht so viel: Ein Kind schlägt nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes monatlich mit rund 670 Euro an Kosten zu Buche. Hochgerechnet auf 18 Jahre summieren sich die Ausgaben danach auf 145.000 Euro. Für das Studium oder die finanzielle Unterstützung bei der Ausbildung kann noch einmal die Hälfte hinzu gerechnet werden. Davon trägt die öffentliche Hand nach den Angaben des sechsten Familienberichts etwa 25 Prozent. Der Rest bleibt für die Eltern.
Deren Einkommen aber sinkt mit der Geburt des ersten Kindes. Das Statistische Landesamt in Baden-Württemberg errechnete 2002, dass kinderlose junge Ehepaare mit 2.387 Euro durchschnittlich über 376 Euro mehr verfügen als junge Familien. Eine Ursache für die Einkommensdifferenzen ist die Aufgabe beziehungsweise Einschränkung der Berufstätigkeit - zumeist immer noch der Mutter. Kinderlose Partner sind zu 90 Prozent beide erwerbstätig, Eltern nur noch zu 70 Prozent, wobei der Anteil weiter sinkt, je mehr Kinder geboren werden.
Um diese strukturellen Nachteile von Familien gegenüber Kinderlosen abzubauen, wurden seit den 80er-Jahren die gesetzlichen Leistungen verbessert. Die Liste ist lang und viel versprechend: Kindergeld, Kinderfreibetrag, Erziehungsgeld, Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung, um nur einige zu nennen. Der Staat greift tief in seine Kassen: 1982 erhielt eine Familie mit drei Kindern über das Kindergeld insgesamt 179 Euro monatlich an Zuwendungen. Im Jahr 2000 gingen 737 Euro an eine dreiköpfige Familie an Kindergeld und Erziehungsgeld, also 558 Euro monatlich mehr als zu Beginn der 80er-Jahre.
Das ließe vermuten, dass die Benachteiligung der Familien zwischenzeitlich ausgeglichen wurde. Doch der Schein trügt. Einige der Transferleistungen werden mittlerweile sehr selektiv gezahlt. Das Erziehungsgeld beispielsweise wurde seit 1986 nicht mehr erhöht und geht nur noch an Geringverdiener. Für Familien mit drei Kindern liegt das Kindergeld mittlerweile bei 462 Euro. Die baden-württembergische Studie kann eine weitgehende Angleichung der Lebensverhältnisse für ihren Untersuchungszeitraum ebenfalls nicht bestätigen. Es zeige sich, "dass die strukturelle Schlechterstellung der Familien nicht behoben werden konnte". Familien mit einem Kind verfügen pro Kopf über all die Jahre relativ konstant über etwa 60 bis 63 Prozent des Einkommens kinderloser Ehepaare. Familien mit zwei Kindern liegen bei etwa der Hälfte, mit drei Kindern bei rund 40 Prozent.
Seit Beginn der 90er-Jahre hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt den Gesetzgeber zum Handeln im Interesse der Familien ermahnt. In der Folge wurde beispielsweise das Existenzminimum unterhaltspflichtiger Kinder steuerfrei gestellt. Die Deutsche Bundesbank errechnet in ihrem nach wie vor aktuellen Monatsbericht von April 2002, dass dieser verfassungsrechtlich notwendige Freibetrag etwa für das Jahr 2000 Steuerausfälle von 20,5 Milliarden Euro zur Folge hatte. Dabei handelt es sich jedoch nicht um wohltätigen Verzicht des Staates zugunsten der Familien. Er hat auf die ihm vermeintlich entgangenen Summen keinen Anspruch, denn der Steuerfreibetrag ist die Folge des im Grundgesetzartikel 20 festgelegten Sozialstaatsprinzips, wodurch das Existenzminimum garantiert wird.
Überhaupt ist bei der Liste der Transferleistungen ebenso wie bei den Ausgaben für Betreuungs- und Bildungsausgaben - von der Versorgung der unter Dreijährigen, dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz bis hin zum BAFöG - zu berücksichtigen, dass diese aus staatlichen Einnahmen und damit zu einem erheblichen Teil von Familien mit Kindern selbst aufgebracht werden. Die Bundesbank errechnet, "dass Haushalte, in denen im Jahr 2000 Kinder lebten, die ihnen gewährten Vergünstigungen zu etwa einem Drittel selbst finanzierten". Verbrauchssteuern wie die Mehrwertsteuer schlagen natürlich wegen des hohen Konsumbedarfs bei Familien stärker zu Buche. Gleiches gilt für die Ökosteuer, die der Gesetzgeber obendrein eingeführt hat, um die Rentenbeiträge überschaubar zu halten - wovon Kinderlose ebenso profitieren wie Eltern. Abgesehen davon: Die jüngste Debatte um die Beiträge von Kinderlosen zur Pflegeversicherung hat gezeigt, wie die desolate Haushaltslage die politische Phantasie beflügelt. Um der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden, wonach die Familien bei der Beitragszahlung zur Pflegeversicherung besser gestellt werden müssen, wurde eine Beitragserhöhung für Kinderlose in den Blick genommen.
Die hessische Landesregierung kommt in einer Studie unter dem Titel "Muss die Familienpolitik neue Wege gehen?" zu dem Schluss, erforderlich sei eine familienpolitische Strukturreform des Sozialstaates: "Familien müssen in den Stand versetzt werden, ihre Kinder aus dem selbst erwirtschafteten Einkommen zu unterhalten, statt in die Rolle von Almosenempfängern gedrängt zu werden." Mittlerweile würden rund drei Viertel aller staatlichen Einnahmen über Sozialversicherungsbeiträge und indirekte Steuern erhoben. Beides sei familienfeindlich. Obwohl sich die Geburtenzahlen seit den Wirtschaftswunderjahren fast halbierten und der Anteil der Sozialausgaben verdoppelte, habe sich die materielle Situation vieler Familien nicht etwa verbessert, sondern verschlechtert.
Wie es besser gehen kann, macht beispielsweise Frankreich vor. Der Nachbar im Westen hat eine gut gefüllte Familienkasse mit einer Vielzahl von Transferleistungen gepaart mit einem Steuersystem, in dem das zu versteuernde Einkommen nicht für den Haushalt, sondern pro Kopf berechnet wird. Jedes Kind verringert die Steuerschuld - und hat obendrein auch gute Aussichten auf einen Betreuungsplatz, was zu einer hohen Beschäftigungsquote von Müttern führt. Das Ergebnis: Die Franzosen stehen mit ihrer Geburtenrate von 1,9 Kindern pro Frau weit über dem europäischen Durchschnitt von 1,5. Deutschland dagegen hat eine Geburtenrate von 1,35 - eine der niedrigsten in der Welt- und Platz 185 von 190 erfassten Ländern. Martina Fietz
Die Autorin ist Parlamentarische Korrespondentin von "Cicero" und lebt in Berlin.