Strukturwandel der Familie
Die Ehe hat die alleinige Dominanz als Basis der Familie verloren. Die Zahl der Eheschließungen ist rückläufig. Die Ehen sind instabiler geworden; das zeigen steigende Scheidungsraten. Nichteheliche Lebensformen sind zunehmend verbreitet. Die Familiengründung hat sich verzögert, das heißt, Eheschließungen und die Geburt von Kindern finden heute später im Leben statt als vor Jahrzehnten. Das reproduktive Verhalten hat sich seit Mitte der 60er-Jahre substanziell verändert: Das bestandserhaltende Niveau der Fertilität wurde in fast allen Ländern unterschritten. Der Anteil kinderloser Frauen und Männer steigt.
Diese Trends sind in allen europäischen Staaten zu beobachten. Aber gleichzeitig sind sozialökonomische Unterschiede, kulturelle Besonderheiten, aber auch eine unterschiedliche Ausrichtung familienpolitischer Bestrebungen Faktoren, die bewirken, dass der Wandel der Familie in Europa nicht nach einem einheitlichen Muster geschieht und unterschiedliche Tempi in den einzelnen Ländern aufweist. Die drei hier aufgeführten europäischen Staaten sollen diese Differenzierungen verdeutlichen.
Junge italienische Frauen wünschen sich im Durchschnitt immer noch mehr als zwei Kinder. Das zeigte eine Studie zur Lebensqualität in Europa, die von der "European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions" in diesem Jahr veröffentlicht wurde. Aber während die Italienerinnen, die bereits älter als 55 Jahre sind, noch durchschnittlich 2,6 Kinder als ideale Familiengröße ansehen, ging dieser Wert bei den unter 35-jährigen Italienerinnen auf nur noch 2,1 Kinder je Frau zurück.
Selbst die Realisierung dieses Kinderwunsches müssen die italienischen Frauen oftmals lange vor sich herschieben. Bei der Geburt ihres ersten Kindes ist eine Italienerin im Schnitt schon 28 Jahre alt. Das entspricht dem europäischen Durchschnitt. Italien erlebte wie eine Reihe anderer südeuropäischer Staaten seit der zweiten Hälfte der 70er-Jahre einen Rückgang der Geburtenhäufigkeit, der das Land zu einem der geburtenärmsten Staaten Europas gemacht hat. In der Mitte der 90er-Jahre sank die Gesamtfruchtbarkeit Italiens auf unter 1,2 Kinder je Frau, ein europäisches Minimum. Seitdem ist die Fertilität für Italien zwar wieder leicht angestiegen (2001: 1,2 Kinder je Frau). Diese Werte gehören aber immer noch zu den geringsten in Europa.
Warum ist es gerade ein Land wie Italien, das so extrem niedrige Fertilitätswerte aufweist? Junge italienische Frauen (und Männer) sehen sich in einem Lebensabschnitt, der für die Gründung einer Familie ideal wäre, zahlreichen Aufgaben gegenüber, die parallel zu bewältigen sind: die Beendigung der Ausbildung, die Suche nach Arbeit, der Einstieg in eine berufliche Karriere, die Etablierung einer festen Partnerbeziehung und nicht zuletzt die Suche nach einer Wohnung. Mit diesen Anforderungen werden junge Menschen überall in Europa konfrontiert. Aber die Bedingungen, alle diese Aufgaben unter einen Hut zu bringen, sind in Italien besonders schwierig. Das betrifft einen schwer zugänglichen Wohnungsmarkt, die Folgen einer hohen Arbeitslosigkeit und eine nahezu fehlende Flankierung der Entscheidung zur Elternschaft durch familienpolitische Maßnahmen.
Von den geringen Geburtenzahlen abgesehen leben italienische Familien noch immer ziemlich traditionell. Nichteheliche Lebensformen sind wenig verbreitet. Nur zwei Prozent der Gesamtbevölkerung und nur elf Prozent der Jugendlichen unter 30 Jahren lebten mit dem Partner oder der Partnerin unverheiratet zusammen. Wenn man bedenkt, dass auch die Eheschließungen auf einem niedrigen Niveau stagnieren, führt das dazu, dass junge Menschen in Italien seltener in eigenen Familien und Partnerschaften leben als in anderen europäischen Ländern. Viele der jungen Erwachsenen leben lange Zeit bei ihren Eltern - 1998 wohnten weit mehr als drei Viertel der italienischen Männer zwischen 25 und 29 Jahren und mehr als die Hälfte der gleichaltrigen italienischen Frauen noch im Elternhaus.
Die meisten osteuropäischen Staaten hatten noch bis zum Ende der 80er-Jahre ein Geburtenniveau, das deutlich über dem europäischen Durchschnitt lag. Im Jahr 1990 war in den baltischen Staaten (darunter in Lettland), in Polen und in der Slowakei ein Geburtenniveau knapp über zwei Kindern je Frau zu beobachten. Nach dem Zerfall der politischen Systeme in Osteuropa begann sich auch das Geburtenverhalten mit einer hohen Dynamik zu verändern. Die Fertilität sank auf das weltweit niedrigste Niveau. In Lettland wurden 2002 nur durchschnittlich 1,2 Kinder je Frau geboren. Das ist ein Wert, der noch unter dem Niveau eines solchen Niedrigfertilitätslandes wie Deutschland liegt. Typisch für die osteuropäischen Staaten und damit auch für Lettland war neben den hohen Geburtenraten ein früher Zeitpunkt der Familiengründung. Auch hier sind seit Beginn der 90er-Jahre Angleichungsprozesse an westliche Muster zu beobachten. Das Alter bei der Geburt des ersten Kindes in Lettland hat sich seit 1991 um zwei Jahre erhöht und liegt jetzt bei 24,6 Jahren. Allerdings ist das im europäischen Vergleich noch ein junges Alter. In Deutschland bekommen Frauen im Durchschnitt erst mit mehr als 28 Jahren ihr erstes Kind.
Die politischen und sozioökonomischen Umbrüche in Lettland führten nicht nur zu Einbrüchen bei den Geburtenzahlen. Auch die Zahl der Eheschließungen und der Ehescheidungen sank deutlich auf etwa die Hälfte des Niveaus von 1991. Das beförderte einen steigenden Anteil nichtehelicher Geburten, der mit 42 Prozent im Jahr 2001 bereits fast das Niveau solcher Länder wie Frankreich oder Dänemark erreicht hat.
In ihren Wünschen sind sich die jungen Lettinnen treu geblieben: Sie möchten im Durchschnitt noch immer mehr als zwei Kinder und nur ein verschwindend geringer Teil von ihnen (zwei Prozent) möchte überhaupt keine Kinder haben. Die mittlerweile langanhaltende, extrem niedrige Geburtenhäufigkeit spricht aber eher dafür, dass sich zumindestens ein Teil dieser Kinderwünsche nicht erfüllen wird.
Frankreich gehört zu den wenigen Staaten in Europa, die dem allgemeinen europäischen Trend zu niedrigen Geburtenzahlen nicht folgten. Französische Frauen bekamen im vergangenen Jahr durchschnittlich fast zwei Kinder. Das ist ein Spitzenwert innerhalb der EU. Eine weitere Besonderheit: Seit 1990, in einem Zeitraum, in dem fast alle anderen europäischen Länder rückläufige Geburtenraten verzeichneten, sind die Geburtenziffern in Frankreich sogar noch gestiegen. Kinderlosigkeit blieb eine Randerscheinung. Lediglich acht Prozent der Frauen des Geburtsjahrgangs 1955 blieben kinderlos, das ist etwa ein Drittel des Wertes der westdeutschen Frauen des gleichen Jahrgangs.
Der Geburtenanstieg in Frankreich in den vergangenen Jahren ist vor allem den Frauen über 30 zu verdanken. Die Familiengründung in Frankreich findet heute später statt als früher - das äußert sich in einem veränderten Erstgebärendenalter. Französinnen sind im Durchschnitt 28 Jahre alt, wenn sie ihr erstes Kind bekommen; 1980 lag dieses Alter noch bei 25 Jahren. Aber die Lebensphase, in der Französinnen Kinder bekommen, hat sich verlängert. Bekamen noch vor zehn Jahren Frauen unter 30 Jahren deutlich mehr Kinder als Frauen über 30, so ist heute dieses Verhältnis fast ausgeglichen. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass die Bedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie für französische Frauen, die bereits mitten im Berufsleben stehen, besonders günstig sind.
Eine Besonderheit Frankreichs ist die hohe Frauenerwerbstätigkeit, die sich überwiegend in Vollzeitbeschäftigung manifestiert. Für französische Frauen gehört es zur Normalität, dass sie unabhängig davon, ob sie eine Familie haben oder nicht, kontinuierlich erwerbstätig bleiben. In diesen Vorstellungen werden sie wirkungsvoll unterstützt. Frankreich verfolgt bereits seit Jahrzehnten eine Familienpolitik, die geburtenfördernde Zielstellungen verfolgt. Neben der finanziellen Entlastung von Familien zielt sie bereits seit langem auf eine Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zum Beispiel durch den Ausbau der Kinderbetreuung. Ein Eckpunkt der jüngsten Zeit ist dabei die Kinderbetreuung der jüngsten Kinder. Die familienpolitischen Leistungen werden zum Teil einkommensabhängig gewährt, sodass Alleinerziehende und Familien mit geringem Einkommen davon stärker profitieren als einkommensstarke Familien. Im System der Kinderbetreuung werden unterschiedliche Betreuungsarrangements gefördert, zum Beispiel auch Tagesmütter, Kinderfrauen und Angebote privater Einrichtungen zur Kleinkindbetreuung.
Entsprechend hoch ist auch der Kinderwunsch der Französinnen. Junge Französinnen unter 35 Jahren gaben ihre Idealvorstellung für die Familiengröße mit fast 2,6 Kindern an. Deutsche Frauen möchten im Durchschnitt nur 1,7 Kinder. Lediglich knapp vier Prozent der französischen Frauen dieser Altersgruppe wünschen sich kein Kind. In Deutschland ist dieser Wert mit 17 Prozent mehr als viermal so groß.
Sonja Menning ist Volkswirtschaftlerin. Sie arbeitet seit 1984 zu unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Themen mit den Schwerpunkten Demographie, Familie und Lebenssituation älterer Menschen. Derzeit arbeitet sie freiberuflich für das Deutsche Zentrum für
Altersfragen in Berlin.