Große Aufgabe der christlichen Religionsgemeinschaften
Hauptgeschäftsführer Josef Sayer unterstützt selbstverständlich die Millenniumsziele der Vereinten Nationen, bis zum Jahr 2015 die Armut auf der Welt zu halbieren. Zugleich gibt er zu bedenken: "Selbst wenn dieses Ziel erreicht würde, würden immer noch weltweit mehr als 400 Millionen Menschen hungern. Dies ist angesichts der vorhandenen Reichtümer ein bleibender Skandal. In diese Wunde müssen wir weiterhin den Finger legen."
Die Spendenaktion "Brot für die Welt" der evangelischen Landes- und Freikirchen sowie der alt-katholischen Kirche kann ebenfalls auf eine fast 50-jährige Geschichte zurückblicken. Sie konnte 2003 rund 55,5 Millionen Euro an Spenden zugunsten der notleidenden Menschen auf der südlichen Erdhalbkugel verbuchen. Gegenüber dem Jahr 2002 bedeutet dies ein Zuwachs um elf Prozent. Dabei muss berücksichtigt werden, dass im Jahr des Jahrhunderthochwassers der Elbe auch die evangelischen Christen in erster Linie für die Opfer dieser Katastrophe spendeten.
Cornelia Füllkrug-Weitzel, die Direktorin von "Brot für die Welt": "Das gute Spendenergebnis zeigt, dass das Gerede von der Spendenmüdigkeit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes unsinnig ist. Trotz der wirtschaftlich unsicheren Lage hierzulande sind die Menschen bereit, denen zu helfen, die mehr Not leiden. Sie verstehen, dass langfristige Bemühungen zur Überwindung von Armut und die Bekämpfung ihrer Ursachen nicht weniger wichtig sind, als akute Nothilfe in Krisenfällen."
Die Zusammenarbeit zwischen "Misereor" und "Brot für die Welt" ist sehr eng. Sie reicht von der Absprache über Hilfsprojekte bis hin zur gegenseitige Aushilfe mit Geld, wenn der einen Seite kurzfristig einmal die finanziellen Mittel für ein wichtiges Hilfsprojekt ausgehen. Ökumene ist beiden Hilfswerken längst eine praktizierte Selbstverständlichkeit - in Deutschland, wenn es um die gemeinsame Interessenvertretung gegenüber Staat und Gesellschaft geht, in der Dritten Welt, wo die notleidenden Menschen nicht nach ihrer Konfession gefragt werden.
Die Organisation der Hilfswerke ist freilich sehr unterschiedlich. Während das bischöfliche Hilfswerk "Misereor" nicht nur die Spendengelder (sowie das jährliche Fastenopfer der Katholiken) verwaltet, sondern auch die Kirchensteuergelder für die Dritte Welt sowie die finanziellen Mittel, die die Bundesregierung über die Katholische Zentralstelle für Entwicklungshilfe (KZE) zur Verfügung stellt, handelt es sich bei "Brot für die Welt" nach wie vor um ein reines Spendenwerk. Dieses ist (noch) Teil des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Letztere hat zwischen die meisten ihrer entwicklungspolitischen Maßnahmen im Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) mit Sitz in Bonn gebündelt. Der EED verwaltet die Gelder der Landeskirchen (mindestens ein Prozent der Kirchensteuereinnahmen sollen für die Dritte Welt verwandt werden, darüber hinaus ein weiteres freiwilliges Prozent, wie etwa in der Evangelischen Kirche im Rheinland). Dazu kommen die staatlichen Zuschüsse des Bundes und der Europäischen Kommission, die in der Hauptabteilung Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe (EZE) gebündelt sind. Zahlreiche andere Werke und Aufgaben sind im EED nun zusammengefasst, der sich auch um die entwicklungspolitische Bildungsarbeit im Inneren kümmern soll. Dazu kommen Friedensdienste und ökumenische Stipendien in Entwicklungsländern.
Konrad von Bonin, Vorstandsvorsitzender des EED: "Der EED versteht Entwicklung als einen Prozess der Befreiung von Hunger, Armut und von der Abhängigkeit von ungerechten Strukturen. In diesem Prozess können Konflikte entstehen, manchmal sind sie sogar unvermeidlich. Die Beteiligten müssen die Möglichkeit haben, diese Konflikte auch auszutragen - jedoch ohne Gewalt. Jedes Entwicklungsprojekt, in dem das gelingt, ist deshalb immer auch ein Projekt gegen den Krieg."
Im vergangenen Jahr konnte "Misereor" allein aus der traditionellen Fastenkollekte der katholischen Kirche 27,6 Millionen Euro einnehmen. Die Einzelspenden schlagen mit 27,7 Millionen Euro zu Buche, zusammen also rund 55 Millionen Euro allein aus Spenden. Dazu kamen noch 10,9 Millionen Euro aus der katholischen Kirchensteuer, die die 27 Diözesen ihrem Hilfswerk zur Verfügung stellten. Und eben 81 Millionen Euro von der KZE, insgesamt also 150 Millionen Euro.
Addiert man übrigens die finanziellen Mittel, die "Misereor" von 1959 bis 2003 für seine Arbeit in der Dritten Welt zur Verfügung standen, dann ergibt sich eine Summe von knapp fünf Milliarden Euro: 2,14 Milliarden Euro Spenden, 0,4 Milliarden Euro Kirchensteuermittel und 2,368 Milliarden Euro öffentliche Mittel (Entwicklungshilfeministerium, EU-Kommission, Bundesländer). Diese Gelder ermöglichten insgesamt 88.396 Projekte.
Von den 1.439 im vergangenen Jahr bewilligen Projekte entfallen beispielsweise 267 auf den Sektor Bildung, Ausbildung, Kultur (mit 21,4 Millionen Euro), 186 auf Gesundheit ( 17,7 Millionen Euro), 318 auf Arbeit, Wirtschaft und Soziales (33,8 Millionen Euro), 470 auf Rahmenbedingungen und Gesellschaft (34,9 Millionen Euro) und 30 auf Nothilfe (2,4 Millionen Euro).
Beispiel Liberia: Seit 27 Jahren fördert "Misereor" eine ganze Bandbreite von Projekten in dem westafrikanischen Land. Von Anbeginn des Bürgerkrieges in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden die kirchlichen Projektpartner vor Ort dabei unterstützt, sich für die Versöhnung der kriegsführenden Parteien einsetzen und Liberia auf lange Sicht eine Zukunft in Frieden und Demokratie ermöglichen zu können. Seit dem Abdanken von Staatspräsident Robert Taylor, dem Friedensabkommen von Accra und nicht zuletzt durch den Einsatz der UN-Friedensmission besteht nach Hauptgeschäftsführer Sayer die begründete Hoffnung, dass diese Bemühungen Früchte tragen.
Für "Misereor" ist jetzt die Reintegration der ehemaligen Kämpfer in die Gesellschaft ein dringend notwendiger Schritt. Ein besonders gravierendes Problem sind dabei die rund 20.000 ehemaligen Kindersoldaten. "Misereor" fördert deren Integration beispielsweise durch berufliche Ausbildung und Traumaarbeit. Seit Jahren wird zugleich mit zahlreichen Projekten die Demokratieförderung und Menschenrechtsarbeit gefördert. Sayer: "Gute Erfolge sind zu verzeichnen."
Die wie "Misereor" 1959 gegründete evangelische Spendenaktion "Brot für die Welt" ist inzwischen ausschließlich auf Spenden und Kollekten angewiesen - wobei die Kollekte in den Weihnachtsgottesdiensten der evangelischen Kirche zentrale Rolle spielt. Insgesamt 55,5 Millionen Euro wurden der Aktion im vergangenen Jahr gespendet, das entspricht einem Zuwachs von elf Prozent gegenüber 2002. Für Direktorin Cornelia Füllkrug-Weitzel verständlicherweise eine große Freude: "Und unsere Arbeit kann viele Erfolgsgeschichten aufweisen - von Bäuerinnen und Bauern in Sri Lanka, die mit angepassten Anbautechniken ihre Erträge steigern und ihre Äcker schützen; von Frauen in einem brasilianischen Großstadt-Slum, die gemeinsam Wege finden, nicht nur ihre Familie zu versorgen, sondern ihr Leben in Würde zu leben und ihre Rechte durchzusetzen oder von Gesundheitshelferinnen in Kamerun, die seit Jahren erfolgreich AIDS-Aufklärung betreiben und dadurch Hunderte von Menschen vor einer Ansteckung bewahren."
Für Frau Füllkrug-Weizel stellt AIDS eine besondere Herausforderung dar. Gerade an ein kirchliches Hilfswerk. Außerdem stelle es die Entwicklungszusammenarbeit vor ihre bislang größte Herausforderung. Hinter den nackten statistischen Zahlen verbergen sich Millionen tragischer Einzelschicksale von Ausgestoßenen, "die unter Brücken sterben müssen, von Waisenkindern, die sich alleine durchs Leben schlagen, von Alten, die von niemanden mehr versorgt werden können." Dahinter würden sich aber auch "Tausende heroischer Geschichten von Hilfsbereitschaft und Solidarität" verbergen. "Brot für die Welt" gibt gegenwärtig 11,2 Millionen Euro für Projekte zur Bekämpfung von HIV/AIDS aus.
Der Evangelische Entwicklungsdienst kann 2004 über rund 145 Millionen Euro verfügen. Die größten Einnahmen stammen aus der Kirchensteuer und aus dem Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Große Sorge bereitet dem EED freilich, dass die Kirchensteuermittel (in diesem Jahr rund 45,1 Millionen Euro) auf Grund der schlechten Finanzlage der 23 evangelischen Landeskirchen ständig zurückgehen.
Großen Wert legt der EED auf den Zivilen Friedensdienst (ZFD), einer Aktion von Nichtregierungsorganisationen, die auch vom Entwicklungshilfeministerium intensiv gefördert wird. Dabei geht es um die Entsendung von kompetenten Fachkräften in Gebiete, wo Krieg oder Konflikt, Bedrohung oder Unsicherheit den Alltag der Menschen bestimmen. Hier ein beispielhafter Bericht über die Friedensarbeit auf Midanao, im Süden der Philippinen gelegen und zweitgrößte Insel des Landes. Ihre wirtschaftliche und politische Entwicklung hängt stark davon ab, ob der ethnisch-religiöse Konflikt zwischen muslimischen Moros, den Minderheiten der Lumad und der christlichen Mehrheit gelöst werden kann. Starker bewaffneter Widerstand der Moros und eine Militarisierung des Lebens destabilisieren die gesamte Gesellschaft der Insel.
Die Auseinandersetzungen machen sich fest am Zugang zum Land. Moros und ethnische Minderheiten wurden von christlichen Bevölkerungsgruppen verdrängt, die zum großen Teil aus anderen Landesteilen zuwanderten. Politisch verhärteten sich in den vergangenen Jahren die Fronten zwischen den Moros einerseits und der philippinischen Regierung, dem Militär und den christlichen Siedlern andererseits. Erst sei kurzem werden die Lumads und ihre Interessen in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Dies ist auch der Unterstützung durch christliche Aktionsgruppen zu verdanken. Sie organisieren regelmäßige Gespräche - zum Teil im Radio und Lokalfernsehen - zwischen Christen, Muslimen und Angehörigen der ethnischen Minderheiten, um das gegenseitige Verständnis und das friedliche Zusammenleben zu fördern.
Durch die Unterstützung des EED kann die promovierte Ethnologin Edvilla Talaroc nun am Institut zur Erforschung der Kultur Mindanaos die Wert- und Glaubensvorstellungen ethnischer Minderheiten untersuchen - und die Frage, wie sich Entwicklungsprozesse auf ihr soziokulturelles Umfeld auswirken. Die Forschungsergebnisse der in Europa ausgebildeten Philippinin fördern den Dialog zwischen den Bevölkerungsgruppen auf dieser Insel.
Der 1999 gegründete EED beteiligt sich in weltweiter Partnerschaft am Aufbau einer gerechten Gesellschaft. Er wendet sich gegen Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Geschlecht und Religionszugehörigkeit. Zugleich steht der EED damit Menschen bei, die in Not und Armut leben, deren Würde verletzt wird oder die von Kriegen oder anderen Katastrophen bedroht sind.
Der EED ergreift und fördert Maßnahmen, die in Kirche, Öffentlichkeit und Politik das Bewusstsein und die Bereitschaft wecken und stärken, sich für die Überwindung von Not, Armut, Verfolgung und Unfrieden in der Welt einzusetzen und die dazu beitragen können, dass sich die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für eine menschliche Entwicklung verbessern. Ständig wird die Vernetzung mit anderen europäischen kirchlichen Hilfswerken verbessert.
Die kirchliche Entwicklungsarbeit wird nicht nur von diesen großen Werken bestimmt, sondern von einer Vielzahl weiterer Einrichtungen ergänzt, die durch private Spenden große entwicklungspolitische Leistungen erbringen. Inzwischen werden seitens des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auch Staaten der ehemaligen Sowjetunion gefördert. Für diesen Bereich haben die Kirchen auf katholischer Seite das Hilfswerk "Renovabis" und auf evangelischer Seite das Hilfswerk "Hoffnung für Osteuropa" gegründet.
Von großer Bedeutung ist das wie "Misereor" in Aachen beheimatete Hilfswerk der Kinder, das die jährlichen Spenden im Rahmen der Sternsinger-Aktion in zweistelliger Millionenhöhe verwaltet. Inzwischen handelt es sich dabei um das größte Hilfswerk von Kindern und Jugendlichen für Gleichaltrige in aller Welt. Obwohl das Bischöfliche Hilfswerk "Adveniat" (Essen) in erster Linie innerkirchliche Arbeit in Lateinamerika fördert, leistet es doch auch viel Entwicklungshilfe. Der jährlich stattfindende und ökumenische "Weltgebetstag der Frauen" stellt seine Kollekten in Millionenhöhe ebenfalls für Frauenprojekte in aller Welt zur Verfügung. Viele Orden, Diözesen, Landeskirchen, Kirchengemeinden oder christliche Initiativen fördern einzelne Projekte in aller Welt.
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.