Kontroverse Urteile zur Entstehung des Staates Israel
Die Mythen des Staates bilden den Kern des israelischen Staatsverständnisses", so der Autor. Sie zu entzaubern und der historischen Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, ist sein zentrales Anliegen. Simcha Flapan ist Sekretär der sozialistischen Mapam-Partei und dort Leiter des Referats für Arabische Angelegenheiten. Die Brisanz des Buches liegt darin, dass erstmals ein Insider über die wirklichen Motive der zionistischen Eliten berichtet; sie können nicht als "antisemitisch" oder "antiisraelisch" denunziert werden.
Flapans Ausführungen haben eine ähnliche Brisanz wie die Tagebücher des ehemaligen Außenministers und kurzzeitigen israelischen Ministerpräsidenten Moshe Sharett, die ebenfalls totgeschwiegen werden. Wäre Sharett 1955 nicht von David Ben-Gurion gestürzt worden, die Geschichte Israels und Palästinas wäre anders verlaufen. Der Autor äußert sein Entsetzen über die unaufrichtige Politik Ben-Gurions. Er sei zu keinem Zeitpunkt zu einem Kompromiss mit den Palästinensern bereit gewesen. Dagegen wollte Sharett Frieden mit den Arabern schließen.
Flapan gliedert sein Buch nach sieben Gründungsmythen, die sich für ihn zwischen 1948 und 1952 etabliert haben und Israels Geschichte bis heute bestimmen. Dazu gehören unter anderem:
- Das Einverständnis der zionistischen Bewegung mit der UN-Teilungsresolution vom November 1947 stellte einen einschneidenden Kompromiss dar, mit dem die zionistischen Juden ihre Vorstellungen von einem sich über ganz Palästina erstreckenden jüdischen Staat aufgaben und den Anspruch der Palästinenser auf einen eigenen Staat anerkannten. Israel war zu diesem Opfer bereit, weil es die Voraussetzung dafür war, dass die Resolution in friedlicher Zusammenarbeit mit den Palästinensern verwirklicht werden konnte.
Dagegen behauptet Flapan, die Zustimmung zum Teilungsplan durch die Zionisten sei nur ein taktisches Zugeständnis im Rahmen einer unveränderten Gesamtstrategie gewesen. Sie zielte zum einen darauf ab, die Schaffung eines selbstständigen Staates für die Palästinenser zu hintertreiben. Deshalb schloss Ben-Gurion ein Geheimabkommen mit König Abdallah von Transjordanien, der mit der Annektierung des für die Palästinenser vorgesehenen Gebietes den ersten Schritt in Richtung auf sein erträumtes großsyrisches Reich zu tun glaubte.
- Die arabischen Palästinenser lehnten eine Teilung Palästinas rundweg ab und folgten dem Aufruf des Mufti von Jerusalem, dem jüdischen Staat den totalen Krieg zu erklären; dies zwang die Juden, sich auf eine militärische Lösung einzulassen.
Flapan meint: Dass die arabischen Palästinenser die Teilung Palästinas ablehnten, sei nur die halbe Wahrheit. Der Mufti habe den Teilungsplan fanatisch bekämpft, doch die Mehrheit der Palästinenser sei seinem Aufruf zum Heiligen Krieg gegen Israel zunächst nicht gefolgt. Im Gegenteil: Viele palästinensische Notablen und Gruppen bemühten sich, einen Modus vivendi mit dem neuen Staat zu finden. Erst der entschiedene Widerstand Ben-Gurions gegen die Schaffung eines palästinensischen Staates trieb die Palästinenser ganz auf die Seite des Mufti.
- Sowohl vor als auch nach der israelischen Staatsgründung folgten die Palästinenser einem Aufruf der arabischen Führung, das Land vorübergehend zu verlassen, um mit den siegreichen Armeen zurückzukehren. Die jüdische Führung bemühte sich vergeblich, sie zum Bleiben zu bewegen.
Dagegen erklärt Flapan den Transfer aus der zionis-tischen Ideologie heraus. Das Ziel der zionistischen Bewegung sei es gewesen, einen "jüdischen Staat" zu schaffen. Dazu bedurfte es der Vertreibung der Einwohner. Bereits 1938 sagte Ben-Gurion bei einer Sitzung seiner Partei: "Ich bin für die zwangsweise Aussiedlung. Ich sehe nichts Unmoralisches darin."
- Alle arabischen Staaten hatten sich am 15. Mai 1948 vereint, um in Palästina einzumarschieren, den neu entstandenen jüdischen Staat zu vernichten und dessen jüdische Bewohner zu vertreiben.
Dagegen Flapan: Die arabischen Staaten wollten in erster Linie das Abkommen zwischen der provisorischen jüdischen Regierung und König Abdallah verhindern. Sie marschierten erst nach der Ausrufung des Staates Israel und nach dem Ende des Britischen Mandats in Palästina ein, um ihren arabischen Freunden zu Hilfe zu kommen. Es war nicht ihre Absicht, Israel zu zerstören.
- Das kleine Israel stand dem Angriff der arabischen Streitkräfte gegenüber wie weiland David dem Riesen Goliath: ein zahlenmäßig weit unterlegenes, schlecht bewaffnetes Volk, das Gefahr lief, von einer übermächtigen Militärmaschinerie zerquetscht zu werden.
Der Vergleich von David und Goliath gehöre ins Reich der Legenden, so der Autor. Ebenso die Behauptung, Israel habe einer starken und effizienten arabischen Armee gegenüber gestanden. Auch die anderen arabischen Armeen, die nicht am Krieg beteiligt waren, verfügten nicht über ein entsprechendes Zerstörungspotenzial. Ben-Gurion räumte ein, dass der eigentliche Selbstverteidigungskrieg nur vier Wochen dauerte, bis zum Waffenstillstand vom 11. Juni.
- Israel hat seine Hand immer zum Friedensschluss ausgestreckt, aber kein arabischer Führer hat je das Existenzrecht Israels anerkannt; somit gab es niemanden, mit dem man Friedensgespräche hätte führen können. Dies weist Flapan ebenfalls zurück: In den Jahren zwischen 1945 und 1952 wies Israel zahlreiche von arabischen Staaten und neutralen Vermittlern unterbreitete Vorschläge zurück, die zu einer Friedensregelung hätten führen können.
Diese Geschichtsinterpretation bildet die Essenz des israelischen Selbstverständnisses. Die Lektüre des Buches lässt aber eine historisch glaubwürdigere Sichtweise aufscheinen. Bereits 1988 schrieb Flapan: "Das Diaspora-Judentum und die Freunde Israels in aller Welt müssen begreifen, dass die Politik, die Israel heute betreibt, dazu verdammt ist, den Kreislauf der Gewalt und des Terrors immer weiter in Gang zu halten, jene Kette willkürlicher und sinnloser Mordanschläge, die uns jedesmal aufs Neue schockieren, gleich, ob sie mit Pistolen oder Bomben begangen werden. Wenn die Armee eines Landes für die Ermordung eines seiner Bürger grausame kollektive Rache nimmt, so ist dies um keinen Deut rechtschaffener oder bewundernswerter als die individuelle Rache eines verzweifelten Jünglings nach der Ermordung eines der Seinen. Wenn das eine als ,nationale Verteidigung' und das andere als ,Terrorismus' bezeichnet wird, so sind das Begriffe, die nur Propaganda und eine verzerrte Sicht geprägt haben." Nach der Lektüre dieses überaus aufschlussreichen Buches kann sich jeder sein eigenes Urteil über die Geschichte des Staatswerdungsprozesses Israels bilden. Allen Politikern, politisch Interessierten und besonders der staatlich betriebenen politischen Bildung sollte es als Standardwerk dienen, da es aufklärend und nicht geschichtsklitternd wirkt.
Simcha Flapan
Die Geburt Israels. Mythos und Wirklichkeit.
Aus dem Amerikanischen von Karl Heinz Siber.
Melzer Verlag, Neu Isenburg 2005; 400 S., 19,95 Euro