Öl und Gas stehen im Zentrum eines geopolitischen Ringens
In dieser Neuauflage der imperialen Rivalität im 19. Jahrhundert zwischen dem Britischen Empire und dem russischen Zarenreich versuchen mächtige Spieler das Herz der eurasischen Landmasse zu kontrollieren, das in einem Machtvakuum daliegt. Heute haben die USA die Führungsrolle übernommen. Zusammen mit den Russen mischen neue regionale Mächte wie China, Iran, Türkei und Pakistan mit. Transnationale Ölkonzerne verfolgen ebenfalls ihre Interessen - auf kaltschnäuzige Wildwest-Manier.
Seit dem 11. September hat die Bush-Regierung einen massiven Militäraufmarsch in Zentralasien veranstaltet und Truppen in Afghanistan und den neuen Republiken Usbekistan, Kirgisien und Georgien stationiert. Die ersten US-Kampftruppen auf ehemals sowjetischem Boden haben die geostrategische Balance in der Region verändert, wobei Washington neben dem Anti-Terror-Feldzug drei Ziele verfolgt: den Sieg gegen Russland im Kalten Krieg zementieren, den Einfluss Chinas eindämmen und die Schlinge um Iran fester zurren.
Zugleich benutzt die Bush-Regierung den Krieg gegen den Terror, um Ölinteressen in Zentralasien zu verfolgen. Dieses dramatische geopolitische Unterfangen, in das Diktatoren und korrupte Ölscheichs verstrickt sind, wird wahrscheinlich nur mehr Terroristen hervorbringen. Hauptbeute im Großen Spiel sind die kaspischen Bodenschätze.
An den Ufern und auf dem Grund des Kaspischen Meeres liegen die größten unerschlossenen fossilen Energiereserven der Welt. Die Schätzungen rangieren zwischen 35 und 190 Milliarden Barrel Rohöl. Skeptische Geologen halten viele Schätzungen für überzogen, doch das US-Energieministerium geht noch immer davon aus, dass in Aserbaidschan und Kasachstan allein mehr als 130 Milliarden Barrel liegen, mehr als drei Mal so viel wie die US-Reserven. Ölgiganten wie ExxonMobil, ChevronTexaco und British Petroleum haben bereits mehr als 30 Milliarden Dollar in neue Produktionsanlagen investiert.
Die aggressive Verfolgung amerikanischer Ölinteressen in der kaspischen Region begann schon unter Clinton, der persönlich Öl- und Pipeline-Diplomatie mit kaspischen Machthabern betrieb. US-Energiemagnaten waren beeindruckt. "Ich kann mich an keine Zeit entsinnen, in der eine Region so plötzlich strategisch so bedeutsam wurde wie die kaspische", sagte Dick Cheney 1998 in einer Rede vor Ölindustriellen in Washington. Damals war er Chef des Öldienstleister-Giganten Halliburton. Im Mai 2001 empfahl Cheney, inzwischen Vizepräsident, im Nationalen Energiereport, dass "der Präsident die Energiesicherheit zu einer Priorität unserer Handels- und Außenpolitik" mache. Dabei hob er die kaspische Region als "rasch wachsenden neuen Zufuhrbereich" hervor. In dem Bestreben, Clintons Ölbilanz zu übertreffen, trug die Bush-Regierung das neue Große Spiel in die zweite Runde.
Mit einem Ölförderpotenzial von mehr als drei Millionen Barrel pro Tag im Jahre 2010 spielt die kas-pische Region eine entscheidende Rolle in der US-Politik der "Diversifizierung des Energieangebots". Diese Strategie verfolgt das Ziel, Amerikas Abhängigkeit vom arabisch dominierten Opec-Kartell zu mindern, das seine Beinahe-Monopol-Stellung als Druckmittel gegen industrialisierte Länder nutzt. Da der weltweite Konsum unaufhörlich steigt und viele Quellen außerhalb des Nahen Ostens langsam versiegen, wird die Opec auf lange Sicht seinen Anteil am Weltmarkt weiter ausbauen. Zur gleichen Zeit müssen die USA schon in fünf Jahren mehr als zwei Drittel des Energiebedarfs importieren, meist aus Nahost.
Viele Menschen in Washington sorgen sich besonders über die wachsende Instabilität in Saudi-Arabien, dessen Verstrickungen in Terror seit dem 11. September aufgedeckt worden sind. Wie die Bombenanschläge auf Öleinrichtungen im vergangenen Jahr gezeigt haben, wächst das Risiko, dass islamistische Gruppen das korrupte saudische Regime stürzen könnten, um den Ölfluss an "Ungläubige" zu stoppen. Die Konsequenzen, wenn acht Millionen Barrel Öl - zehn Prozent der weltweiten Produktion - von den Märkten verschwinden sollten, wären katastrophal.
Auch ohne eine derartige anti-westliche Revolution ist das saudische Öl sozusagen ideologisch kontaminiert. Um innenpolitische Unruhen zu vermeiden, hat Riad die radikal-islamische Wahhabi-Sekte finanziert, deren Prediger zum Terror gegen Amerika aufrufen. Um aus diesem faustischen Pakt mit Saudi-Arabien heraus zu gelangen, versuchen die USA sich nun Zugang zu den Ölressourcen im Kaspischen Meer zu verschaffen.
Zentralasien ist allerdings kaum sicherer als Nahost, und die Ölpolitik macht die Lage nur schlimmer: Konflikte sind ausgebrochen über Pipelines, die das Öl vom landumschlossenen Kaspischen Meer zu Hochseehäfen bringen sollen. Russland, das sich noch als imperialer Herr über seine ehemaligen Gebiete sieht, besteht auf Pipeline-Routen durch sein Hoheitsgebiet im Nordkaukasus, darunter Tschetschenien. China, der zunehmend ölabhängige Riese, will östlich von Kasachstan verlaufende Rohre bauen. Iran bietet sein bestehendes Pipeline-Netz für Exporte durch den Golf an.
Statt dessen haben die Regierungen von Clinton und Bush zwei Pipelines unterstützt, die sowohl Russland als auch Iran umgehen. Die eine, erst Mitte der 90er-Jahre von der US-Ölfirma Unocal geplant, würde von Turkmenistan durch Afghanistan zum pakistanischen Hafen von Gwadar am Indischen Ozean verlaufen. Wenige Monate nach dem Sturz des Taliban-Regims unterzeichnete der afghanische Präsident Hamid Karzai, ein ehemaliger Unocal-Berater, einen Vertrag mit dem pakistanischen Staatschef Pervez Musharraf und dem turkmenischen Diktator Saparmurad Nijasow, um grünes Licht zu geben für den Bau einer 3,2 Milliarden Dollar teuren Gas-Pipeline durch den Korridor Herat-Kandahar in Afghanistan. Eine Machbarkeitsstudie soll erstellt werden, eine parallele Ölpipeline ist später geplant. Bislang hat das Treiben der Kriegsfürsten in Afghanistan private Investoren abgehalten, sich finanziell zu engagieren.
Jüngst abgeschlossen wurde hingegen der Bau einer gigantischen 3,8 Milliarden Dollar teuren und 1700 Kilometer langen Pipeline von Aserbaidschans Hauptstadt Baku durch Georgien bis zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. British Petroleum, ihr Hauptbetreiber, hat Milliarden im ölreichen Aserbaidschan investiert und kann sich auf Unterstützung der Bush-Regierung verlassen, die im Mai 2002 etwa 500 Elitetruppen im von Bürgerkrieg geschüttelten Georgien stationiert hat.
Schon aus ökologischen und sozialen Gründen umstritten - sie wird wohl kaum die Armut in den notorisch korrupten Ländern mildern - verschlimmert die im Mai 2005 eröffnete Pipeline auch die Instabilität im Südkaukasus. Jahrelang hat die russische Regierung, die noch immer tausende Truppen in Georgien und Armenien stationiert hält, versucht, westliche Pipeline-Investoren abzuschrecken, indem sie blutige ethnische Konflikte nahe der Pipeline-Route angefacht hat, etwa in der armenischen Enklave von Berg-Karabach in Aserbaidschan und in den abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien.
Moskau und Peking stören sich am wachsenden amerikanischen Einfluss in ihrem strategischen Hinterhof. Aus Sorge, dass die amerikanische Präsenz die muslimischen Uighuren in seiner zentralasiatischen Provinz Xinjiang zu einem Aufstand ermutigen könnte, hat China jüngst Militärmanöver mit Kirgisien veranstaltet und die Beziehungen besonders zu Usbekistan gestärkt.
Die russische Regierung tolerierte ursprünglich das US-Eindringen in ihr ehemaliges Reich, in der Hoffnung, dass Washington im Gegenzug russische Verbrechen in Tschetschenien ignorieren würde. Doch für den Kreml ist die "neue strategische Partnerschaft" gegen den Terror mit dem Weißen Haus nie mehr gewesen als eine taktische Zweckehe, um Russlands angeschlagene Wirtschaft mithilfe westlichen Kapitals auf die Beine zu helfen. Für die Mehrheit des russischen Establishments ist es undenkbar, dauerhaft auf seine Hegemonialansprüche auf Zentralasien zu verzichten.
Russlands Verteidigungsministerium hat wiederholt gefordert, dass die Amerikaner innerhalb von zwei Jahren aus dem Hinterhof abziehen. Präsident Wladimir Putin hat neue Sicherheitsverträge mit den zentralasiatischen Herrschern unterzeichnet und im Oktober 2003 persönlich eine neue Militärbasis in Kirgisien eröffnet. Es ist der erste Stützpunkt, den Moskau seit Ende des Kalten Kriegs außerhalb Russlands Grenzen eingerichtet hat. Mit Kampfflugzeugen ausgerüstet, liegt er kaum 50 Kilometer von der US Airbase entfernt.
Abgesehen vom Gespenst eines zwischenstaatlichen Konflikts, gefährdet der Energie-Durst der Bush-Regierung die wenigen Erfolge im Krieg gegen den Terror. Die von der US-Politik erzeugten Ressentiments erleichtern es Al Qaida-ähnlichen Organisationen, neue Kämpfer zu rekrutieren. Sie hassen Amerika, weil die Bush-Regierung in ihrer Suche nach antiterroristischen Verbündeten im neuen Großen Spiel einige der brutalsten Autokraten der Region hofiert hat, darunter Aserbaidschans Heydar Alijew, Kasachstans Nursultan Nasarbajew und Pakistans Pervez Musharraf.
Als brutalster Tyrann unter den neuen Verbündeten gilt Islam Karimow, der exkommunistische Diktator von Usbekistan, der den USA während des Afghanistan-Kriegs Ende 2001 erlaubte, im Süden des Landes einen Militärflughafen in Karschi-Chanabad ("K-2") zu errichten. Danach hatte die Bush-Regierung offenbar die Augen zugedrückt vor der Unterdrückung der Oppositi-on und islamischer Gruppen. "Solche Leute verdienen einen Kopfschuss. Falls notwendig, werde ich sie selbst erschießen", sagte Karimow dem Marionetten-Parlament einmal. Im April/Mai ließ er nach Angaben von Menschenrechtsgruppen etwa 500 Demonstranten in Andischan im Osten niederschießen. Die nun folgende Kritik Washingtons veranlasste die Regierung in Taschkent Ende Juli, die USA zur Räumung von K-2 aufzufordern. Das US-Außenministerium hat öffentlich eingeräumt, dass usbekische Sicherheitskräfte "Folter als routinemäßige Untersuchungstechnik" anwenden. Noch 2002 jedoch gab Washington dem Karimow-Regime rund 500 Millionen Dollar an Hilfe und Mietzahlungen für die US Airbase in Khanabad. Etwa 79 Millionen Dollar davon sollen direkt an Sicherheitsorgane geflossen sein.
Mit der Politik, zentralasiatische Tyrannen zu stützen, wiederholt Washington frühere Fehler, die etwa in den 80er- und 90er-Jahren im Nahen Osten zum Aufstieg Bin Ladens geführt haben, da viele Untertanen sich zunehmend den antiamerikanischen Militanten zuwenden. Am Ende könnte sich im neuen Großen Spiel die Ölinfrastruktur als zu anfällig für Terrorangriffe herausstellen, um Stabilität zu gewährleisten. Die kaspische Region mag die nächste große Tankstelle sein - dort aber wie auch im Nahen Osten werfen bereits viele junge Männer mit brennenden Streichhölzern um sich.
Lutz Kleveman ist freier Journalist und Autor. Er lebt auf Gut
Ankeloh bei Hamburg.