Im "neuen" Irak gewinnen die Kurden an politischem Einfluss
Die Kurden sind mit einer geschätzten Anzahl von 30 bis 40 Millionen das größte Volk im Nahen Osten ohne eigenen Staat. Ihr Siedlungsgebiet wurde zuerst im 16. Jahrhundert zwischen dem Osmanischen und Persischen Reich geteilt. Mit der Neuordnung der Region nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Kurden, die zuvor im Osmanischen Reich gelebt hatten, auf die neu entstandenen Staaten Türkei, Irak und Syrien aufgeteilt. Diese jüngste Teilung ist von ihnen im Grunde nie akzeptiert worden und vor allem in der Türkei und im Irak kam es immer wieder zu Aufständen. In der Türkei hat es nach der offiziellen Geschichtsschreibung bis 1938 insgesamt 28 Aufstände gegeben, die alle niedergeschlagen wurden.
Die Kurden im Norden, in der ehemaligen osmanischen Provinz Mosul, hatten von Anfang an Widerstand gegen den Zusammenschluss mit den beiden arabischen Provinzen Bagdad und Basra zum Staat Irak geleistet. Sie hatten zeitweise Teile des kurdischen Gebietes unter ihre Kontrolle gebracht und 1970 ein Autonomieabkommen durchgesetzt, welches aber nie in die Praxis umgesetzt wurde. Mit dem Vertrag von Algier zwischen Saddam Hussein und dem Schah des Irans, in dem zwischen beiden Seiten vereinbart wurde, die Unterstützung der Kurden im jeweils anderen Land zu beenden, war der Kampf zunächst verloren. 1988 führte Bagdad einen groß angelegten Angriff gegen das Kurdengebiet unter Einsatz chemischer Waffen. Nach dem Golfkrieg 1991 wurde mit der Resolution 688 des UN-Sicherheitsrats dem Irak ein Flugverbot für das Gebiet nördlich des 36. Breitengrades erteilt und für die dort lebenden Kurden eine "Sicherheitszone" errichtet. In diesem Gebiet, das den größten Teil des Siedlungsgebietes der Kurden im Irak umfasst, gründeten sie eigene Institutionen, hielten Wahlen für ein Regionalparlament ab und gründeten eine föderale kurdische Regierung.
Nach dem Sturz des Saddam-Regimes streben die Kurden im Irak danach, ihre faktische Freiheit auf eine rechtliche Grundlage zu stellen. Die im März 2004 angenommene vorläufige irakische Verfassung entspricht dieser Erwartung im Prinzip. Bei den Parlamentswahlen vom 30. Januar 2005 erzielte die Vereinigte Kurdische Liste einen großen Erfolg und wurde - nach den Schiiten - zur zweitstärksten Kraft im irakischen Übergangsparlament. Der Kurde Jalal Talabani wurde Staatsspräsident. Es kann als gesichert betrachtet werden, dass der Irak ein föderativer Staat sein wird und Irakisch-Kurdistan eines seiner föderativen Gebiete.
Aber der Charakter der Föderation ist unter den Parteien höchst umstritten: Die Kurden, die nach wie vor von einem unabhängigen Staat träumen, jedoch einsehen, dass dies nicht realistisch ist, streben eine lose Föderation an, während die Araber eine sehr viel engere zentralistische Föderation wollen. Auf der anderen Seite ist der Status der ölreichen Stadt Kirkuk zentraler Streitpunkt. Die Kurden bestehen darauf, dass Kirkuk zu Irakisch-Kurdistan gehört, während gleichzeitig Araber und Turkmenen Anspruch auf die Stadt erheben. In der Übergangsverfassung wurde dieses Problem noch nicht gelöst, sondern Kirkuk bis zur endgültigen Lösung ein Sonderstatus gegeben.
Der politische Status der Kurden ist nicht nur von wesentlicher Bedeutung für die Neukonstruktion des Iraks, er wird auch erheblichen Einfluss auf die Kurden in den anderen Staaten und deren Regierungen haben. Irakisch-Kurdistan hatte - obwohl nur der drittgrößte Teil - schon immer starken Einfluss auf die Kurden in den anderen Teilen, da diese dort am stärks-ten politisch organisiert waren. Mit dem Sturz Saddams, der Neuetablierung der kurdischen Institutionen, dem Wahlerfolg bei den Parlamentswahlen und der Wahl eines Kurden zum Staatspräsidenten wurde bei den Kurden in den Nachbarstaaten jedoch die Hoffnung geweckt, auch für sie täte sich jetzt eine Chance auf, ihre Freiheit zu erlangen. Teilweise wird von ihnen sogar die Erwartung geäußerst, die USA würden nach den Kurden im Irak auch die in den anderen Staaten befreien.
Aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen in den Staaten ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass die Entwicklungen in Irakisch-Kurdistan einen Domino-Effekt auslösen werden. Im Iran wird ihnen zwar keine Autonomie gewährt, aber es gibt kein Verbot der kurdischen Sprache und Kultur. Iran ist verwaltungstechnisch in Provinzen aufgeteilt und es gibt eine Provinz namens Kurdistan. Bestrebungen, mehr Rechte für sie durchzusetzen, werden auch im Iran massiv unterdrückt und die Angst vor einem möglichen Einfluss der Entwicklungen in Irakisch-Kurdistan hat zu verschärften Repressionen geführt. In jüngster Zeit wurden mehrere inhaftierte Kurden gar zum Tode verurteilt. Sie sind jedoch nicht so gut organisiert wie im Irak und ihre Erwartungen richteten sich in den letzten Jahren eher auf demokratische Reformen im Iran.
Syrien ist nach dem Sturz Saddam Husseins das einzige Land, in dem die Baath-Partei mit ihrem arabisch-nationalen Programm noch an der Macht ist. Der junge Baschar al-Assad bemühte sich zwar anfangs um ein reformerisches Profil, aber die Repressionen wurden sehr bald wieder angezogen. Die Zahl der Kurden in Syrien ist im Verhältnis zu den anderen Staaten am niedrigsten, sie wird auf circa 1,5 Millionen geschätzt. Ihre Forderungen beschränken sich auf die Gewährung kultureller Rechte und die Wiedereinbürgerung der Kurden, denen in den 60er-Jahren die syrische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Davon sind etwa 250.000 Kurden betroffen, die noch heute als staatenlos gelten.
Aufgrund der guten Kommunikationswege sind die Einflüsse aus dem Nordirak in Syrien größer als im Iran, was bei der Regierung in Damaskus Beunruhigung auslöst. Die Unruhen in Qamishli am 12. März 2004 und das Vorgehen der syrischen Polizei wird von vielen Kurden als eine gezielte Einschüchterungsmaßnahme des Staates gewertet. Anlass für die Gewaltausbrüche war ein Fußballspiel, bei dem Araber Slogans für Saddam riefen, die Kurden für Barzani. Die syrische Polizei griff ein und eröffnete das Feuer. Nach kurdischen Angaben wurden mindestens 30 Kurden getötet, Hunderte verletzt und circa 2.000 verhaftet. Insgesamt wurden in Syrien ebenso wie im Iran die Repressionen gegen sie verschärft.
Den größten Einfluss haben die Entwicklungen im Irak auf die Kurden in der Türkei. Die Politik dort war im Vergleich zu den anderen Staaten am stärksten auf Assimilierung ausgerichtet. Es war lange verboten, die kurdische Sprache zu sprechen, geographische Bezeichnungen wurden durch türkische ersetzt, die Kurden als "Bergtürken" bezeichnet. Das Sprachverbot wurde 1991 aufgehoben, nachdem Hunderttausende von Kurden aus dem Nordirak vor den Angriffen Saddams in die Türkei geflohen waren. Im Rahmen der Beitrittsbemühungen zur EU und der in diesem Zusammenhang an die Türkei gestellten Forderungen im Bereich von Demokratisierung und Menschenrechten wurden auch bezüglich der Kurden einige Reformschritte unternommen. So gibt es seit 2004 private Kurdischkurse und - mit strikten inhaltlichen und zeitlichen Beschränkungen - kurdischsprachige Sendungen in Radio und Fernsehen.
Im Gegensatz zu den Kurden betrachtet die türkische Regierung das Problem mit diesen Reformen offenbar als gelöst. Ob von Seiten der EU diesbezüglich weitere Forderungen aufgestellt werden, ist fraglich. Zwar wird in dem Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom Oktober 2004 die Forderung nach einer vollständigen Achtung der Rechte von Minderheiten erhoben, dies wird aber nicht konkretisiert und bisher wurde von der Türkei nicht einmal die Erfüllung der von EU und Europarat gesetzten Standards für Minderheitenrechte gefordert.
Unter den Kurden ist die Zustimmung zu einem Beitritt der Türkei besonders hoch, da sie sich davon eine Verbesserung ihrer politischen und wirtschaftlichen Situation versprechen. Sie sind jedoch enttäuscht darüber, dass sie in dem Dokument zur Beitrittspartnerschaft - der türkischen Politik folgend - nicht benannt werden und die Frage auch von der EU als reines Menschenrechtsproblem gesehen wird. Bei ihnen ist daher in letzter Zeit die Tendenz spürbar, die Hoffnungen weniger auf eine EU-Mitgliedschaft, als auf die Perspektiven zu setzen, die sich aus den Entwicklungen in Irakisch-Kurdistan ergeben könnten.
Neben der Enttäuschung über die EU und die begrenzten Reformschritte in der Türkei wird unter ihnen auch zunehmend das Problem diskutiert, dass eine EU-Außengrenze durch ihr Gebiet die Kurden in der Türkei noch einschneidender von ihren Volksgenossen in den Nachbarstaaten trennen würde. Der Traum von einem vereinten, unabhängigen Kurdistan, der zwar derzeit von keiner relevanten kurdischen Organisation ernsthaft als politisches Ziel vertreten wird, aber dennoch in den Köpfen und Herzen weiter existiert, müsste damit endgültig begraben werden.
Die Bestrebungen der Kurden im Irak nach größtmöglicher Unabhängigkeit werden von europäischen Politikern und Beobachtern oft als Störfaktor und Ausdruck eines rückständigen nationalen Denkens gesehen. Der Versuch der Gründung eines unabhängigen Staates - sei es in einem Teil oder unter Einschluss aller Teile - wäre in der Tat Sprengstoff für die Stabiliät in der Region. Auch den Kurden ist klar, dass die Verwirklichung dieses Traumes nicht realisierbar sein wird oder unvorstellbare Opfer von ihnen verlangen würde. Ihre Erfahrung hat den Kurden aber auch gezeigt, dass ihnen als Minderheit in den Nationalstaaten der Region keine politischen und kulturellen Rechte gewährt werden und letztlich auch ihre physische Existenz nicht gesichert ist. Stabilität sowohl im Irak als auch in der gesamten Region wird daher nur erreicht werden, wenn die Kurden in allen Staaten in Sicherheit und mit einem für sie zufriedenstellenden Rechtsstatus leben.
Amke Dietert, Ex-MdB, ist Mitarbeiterin am Deutschen
Orient-Institut in Hamburg.