Saudi-Arabien sendet ambivalente Signale in Richtung Westen
Diese Doktrin wurde von allen nachfolgenden Präsidenten übernommen. Sie bildete zudem, formalisiert durch bilaterale Militärabkommen, die Grundlage für die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien nach 1990. Dazwischen und danach lagen Jahre des gemeinsamen Kampfes gegen Kommunismus, Nasserismus, Baathismus und Chomeinismus. Die Interessenübereinstimmung war so stark, dass sie außerordentlich unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen, Weltbilder und Wertvorstellungen überdeckte.
Ein weiterer wesentlicher Grund für die Kohäsion liegt in der riesigen Summe von etwa 600 Milliarden US-Dollar, die saudische Investoren in den USA anlegten. Damit ist Saudi-Arabien unmittelbar am Wohlergehen der US-Wirtschaft interessiert; es entstand quasi ein Kartell von Erzeugern und Verbrauchern, die beide einen Preis anstreben, der der Gegenseite nicht schadet. Zu den Nachbeben des Schocks der Terroranschläge vom 11. September 2001 zählt zweifellos die Neubewertung Saudi-Arabiens in der amerikanischen Öffentlichkeit. Mit einer Mischung aus Unglauben und Erstaunen fragten sich immer mehr Politiker und Medien, wie zuverlässig ein verbündetes Land sein kann, aus dem 15 der 19 Attentäter stammen.
Im Juli 2002 gelangten Ergebnisse einer Studie der Politikberatungsinstitution Rand Corporation für das Pentagon an die Öffentlichkeit. Sie erklärte Saudi-Arabien zum Feind erklärt und rief die USA zu einem Kurswechsel auf. Ebenfalls noch vor dem Irak-Krieg behauptete Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, der Umgang mit den irakischen Schiiten sei wesentlich leichter als der mit saudi-arabischen Wahabiten. Der Stern des Freundes befand sich in rasantem Sinkflug. Hierzu passt auch die Verlegung von 6.000 US-Soldaten in die "gastfreundlicheren" Emirate Kuwait und Katar, wofür der Irak-Krieg als Anlass diente.
Die nach wie vor starken gemeinsamen Wirtschaftsinteressen verhinderten zwar, dass Washington vollends das Tischtuch zerschnitt, aber viele Kongressabgeordnete standen unter so starkem Druck der Öffentlichkeit, dass sie der Regierung Auflagen für die Fortsetzung der Beziehungen zu Saudi-Arabien erteilten. Dazu gehörten ultimative Forderungen an Riad, klare Schritte im Kampf gegen den Terror zu unternehmen: Bekämpfung, Festsetzung, gegebenenfalls Auslieferung von Terroristen und die Unterbindung finanzieller Unterstützung für "dubiose" Empfänger. Den längsten Schatten warf ohne Zweifel die Forderung, Staat und Gesellschaft zu demokratisieren.
Der 11. September hatte die politische Klasse der USA veranlasst, viele der bisher als ehern geltenden Prämissen der Außenpolitik infrage zu stellen. Immerhin war gerade auf besonders nachdrückliche Weise deutlich geworden, dass das Beharren auf dem Status quo keinesfalls Schutz und Sicherheit gewährleisten. Politische Reden und Publikationen führten in dem Zusammenhang das Demokratiedefizit in Nordafrika/Nahost als eine der wesentlichen Ursachen für die Ausbreitung des Terrorismus an. Von da ab war es nicht mehr weit, die Demokratisierung der Region zum vitalen Ziel für die nationale Sicherheit der USA zu erklären. Von Beginn an war offenkundig, dass die Glaubwürdigkeit des Projekts nicht zuletzt mit seiner Anwendung auf das seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu den Freunden zählende Saudi-Arabien steht und fällt. In diesem Sinne durften die saudischen Prinzen nicht mit der Bekämpfung von Terroristen und der Austrocknung von deren Finanzquellen "davonkommen", sie mussten auch substanzielle Fortschritte bei der Liberalisierung ihres Systems nachweisen.
Genauso schnell wie die Forderung aufkam, wurde aber auch klar, dass Saudi-Arabien zu jenen Kandidaten in Nordafrika/Nahost gehört, die schon aus strukturellen und institutionellen Gründen für den Demokratie-Import am wenigsten geeignet scheinen. Es bedurfte einer Krisensituation im bilateralen Verhältnis wie nach dem 11. September, um schlaglichtartig zu verdeutlichen, dass sich die gemeinsamen Positionen der USA und Saudi-Arabiens vornehmlich in Wirtschafts- und Finanzkooperation sowie der Abgrenzung respektive Bekämpfung von Dritten manifestierten.
Sowohl aus wirtschaftlichen wie auch aus Sicherheitsüberlegungen sahen sich die Al Saud nicht in der Lage, die Forderungen vollends zu ignorieren. Deshalb reagierten sie, wie in Jahrzehnten gelernt: Entgegenkommend in der Form, unnachgiebig im Inhalt. Der frühere Kronprinz und heutige König Abdallah versicherte wiederholt den festen Willen des Königreichs, das jahrzehntelange Bündnis mit den USA fortzusetzen. In der Terrorbekämpfung erfüllte Riad nahezu alle US-Forderungen.
Man ergriff Maßnahmen gegen Geldwäsche und ließ Konten einfrieren, die mit Terroristen des 11. Septembers in Zusammenhang gebracht werden konnten. So wurden im Juli 2004 jegliche Bargeldspenden in Moscheen verboten, im Oktober löste Innenminister Nayif die besonders kritisierte Al-Haramein-Stiftung ersatzlos auf. Auch in der direkten Bekämpfung von Terroristen waren 2004 spektakuläre Erfolge gelungen. Von den zu Jahresanfang veranschlagten 500 bis 600 in Saudi-Arabien wirkenden Al-Qaida-Mitgliedern wurden bis Jahresende zwischen 400 und 500 gefangengenommen oder getötet.
Auch die Forderungen nach demokratischer Umgestaltung wurden nicht a priori zurückgewiesen, sondern auf eigene Weise ausgelegt. Als Regent Abdallah am 20. Januar 2003 eine von 104 reformorientierten Intellektuellen und gemäßigten Islamisten unterschriebene Petition ("Vision für die Gegenwart und Zukunft der Heimat") erhielt, die Wahlen zum Konsultativrat und Regionalversammlungen, Gewaltentrennung, eine Jus-tizreform, Bürger- und Menschenrechte sowie mehr Rechte für Frauen forderten, reagierte die Herrscherfamilie anders als noch ein Dutzend Jahre zuvor bei ähnlichen Petitionen nach dem 2. Golfkrieg 1991. Abdallah ließ die Initiatoren nicht nur ungeschoren, er lud vielmehr 36 von ihnen zum Gespräch. Dadurch ermutigt, folgten weitere Petitionen. Aus sporadischen Eingaben mit willkürlichen Reaktionen wurde ein permanentes Forum des "Nationalen Dialogs". Obwohl über den Inhalt kaum etwas in die Medien gelangte, war ein Zeichen gesetzt, wie die Al Saud im Allgemeinen und Abdallah im Besonderen gedachten, den Reformprozess zu gestalten. Der gelenkte Dialog mit auserlesenen Reformern ließ die Herrscherfamilie Kurs und Geschwindigkeit der Umgestaltungen selbst bestimmen und demonstrierte der kritischen Weltöffentlichkeit gleichzeitig ernsthafte Bemühungen um mehr Partizipation.
Die Übernahme der Königswürde durch Abdallah nach dem Tod seines Vorgängers Fahd am 1. August lässt eine Verstetigung dieses Kurses erwarten, weil Abdallah nun nicht mehr die Rücksichten eines Regenten nehmen muss. Fortgesetzt werden damit aber auch die bisher angewandten Repressionspraktiken; denn wer den von den Herrschern gesetzten Rahmen nicht akzeptiert, wird rücksichtslos unterdrückt. Ein exemplarischer Fall ereignete sich am 16. März 2004 in Riad, als Reformer, die offenbar kurz vor einer Parteigründung standen, in ihren Wohnungen oder am Arbeitsplatz verhaftet wurden. Die meisten kamen bis Monatsende frei, nachdem sie sich verpflichtet hatten, künftig keine Petitionen mehr zu unterzeichnen, keine "illegalen" Versammlungen abzuhalten und nicht mit der Presse zu sprechen. Drei Reformaktivisten, Matruq al-Falih, Abdallah al-Hamid und Ali al-Dumaini, verweigerten diese Verpflichtung und bleiben seitdem in Haft.
Die Bestimmung von Faktoren, die den Al Saud ihr Verhalten erlaubt, beantwortet auch die Frage, ob Saudi-Arabien zum "Prügelknaben" taugt. Im Wesentlichen drängen sich zwei Faktoren auf. Zum einen der seit Ausbruch der Zweiten Intifada 2000 stetig, seit dem Irakkrieg exponentiell angestiegene Antiamerikanismus in der saudi-arabischen Bevölkerung. Eine vom Gallup-Institut im Frühjahr 2002 durchgeführte Meinungsumfrage ergab, dass noch 16 Prozent der Saudis den USA positiv gegenüberstehen. Ein stillschweigender Boykott amerikanischer Waren legte ein noch offensichtlicheres Zeugnis über die Stimmung ab. Seit September 2001 fielen die US-Exporte nach Saudi-Arabien um mehr als die Hälfte. In dieser Atmosphäre musste die Königsfamilie bedacht sein, dass ihre zaghaften Reformschritte nicht als Kapitulation vor den USA bewertet werden.
Andererseits kann mit Kritik an der israelfreundlichen Politik Washingtons auf komfortable Weise ein Konsens mit "Volkes Stimme" hergestellt werden. Im November 2001 erklärte Außenminister Saud al-Faisal in Washington auf die Frage, warum so viele Saudis heimliche Sympathien für Osama bin Laden hegten: "US-Unterstützung für Israel ... (ist) der Schlüsselfaktor". Es herrscht weitgehend Konsens in der Öffentlichkeit, dass es dem Bestreben der USA, den Völkern der Region die Demokratie zu bringen, so lange an Glaubwürdigkeit fehlt, so lange die Palästina-Frage davon ausgenommen ist. Diese Atmosphäre wirkt selbstverständlich auch auf die Reformkräfte. Selbst wenn sie Teile der Demokratisierungsagenda der USA in ihre Petitionen übernahmen, waren sie peinlich darauf bedacht, keine Querverbindungen zu suggerieren und die Vorschläge damit in den Augen der Öffentlichkeit zu delegitimieren.
Zum anderen der tiefe Konservatismus der Saudis. Mit Ausnahme des Wirtschafts- und Rechtsbereichs, wo rasche Umgestaltungen erforderlich sind, um Inves-titionen zu ermutigen und Arbeitslosigkeit abzubauen, kommt die Taktik der Al Saud im politischen Bereich, die Reformschritte langsam anzugehen, dem Beharrungsstreben der Bevölkerungsmehrheit entgegen. Es herrscht weitgehend Konsens darin, zunächst zu beobachten, welche Folgen eine Maßnahme mit sich bringt, ehe die nächste begonnen wird. So erklärt sich die weitgehende Zurückhaltung in den Gemeinderatswahlen nur zum Teil aus den beschränkten Kompetenzen der kommunalen Räte. Ausschlaggebend war vielmehr der tief verwurzelte Reflex, das Bekannte dem Unbekannten vorzuziehen. Diese Eigenschaft präsentiert sich generationen- und geschlechterübergreifend. Der Westen im Allgemeinen und die USA im Besonderen tun jedenfalls gut daran zu berücksichtigen, dass Konservative, nicht Reformer den größten Anteil an der öffentlichen Meinung halten.
Dr. Henner Fürtig ist Nahost-Referent am Deutschen
Orient-Institut in Hamburg.