Neue politische Dynamik in der Region nach "Iraqi Freedom"
Die Optimisten verweisen auf Ägypten, wo eine Protestbewegung signalisiert, dass sie nach fast einem Vierteljahrhundert von der Präsidentschaft Mubaraks "genug" hat. In Palästina haben die Menschen demokratische Verantwortung gezeigt; die befürchteten Richtungskämpfe nach dem Tod Arafats sind ausgeblieben. Im Libanon hat die Opposition den Rückzug Syriens und relativ faire Wahlen durchgesetzt. Und in Syrien selbst hat der jüngste Kongress der Baath-Partei zu einer weitgehenden Ablösung der alten Garde und vorsichtiger Öffnung des Systems geführt. In Kuwait ist die erste Frau als Ministerin vereidigt worden; Schritte zu mehr Rechten von Frauen wurden auch in anderen Emiraten getan. Auch eine Verfassungsbewegung gibt es dort, die die Rechte der Herrschenden regelt. Und die Kommunalwahlen in Saudi-Arabien bedeuten eine erste Bewegung hin zu mehr Teilhabe der Bevölkerung. Selbst mit Blick auf die Lage in den beiden instabilsten Staaten, dem Irak und Afghanistan, sind Fortschritte beim Aufbau formaler staatlicher Strukturen zu vermelden. In den dornigsten bilateralen Konflikten schließlich, dem Palästina- und Kaschmir-Konflikt, gibt es angesichts des angekündigten Rückzugs Israels aus dem Gaza-Streifen und der pakistanisch-indischen Annäherung Funken von Hoffnung. So sind die Optimisten geneigt, dem amerikanischen Präsidenten einen gewissen Kredit für seine Bemühungen um Demokratisierung und Stabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens einzuräumen.
Die Argumente der Pessimisten reichen von unverändert autokratischer Machtausübung wie in Ägypten und Saudi-Arabien über anhaltende Gewalt im Irak und - sogar eskalierend - in Afghanistan bis zur Fortsetzung israelischer Siedlungspolitik in Palästina - ungeachtet der Proteste und Hinweise auf internationales Recht von Seiten der internationalen Gemeinschaft. Die jüngsten Ausbrüche von Gewalt in Kirgistan und Usbekistan bestärken die Pessimisten in ihrer Einschätzung, dass eine Morgenröte im Morgenland nicht sichtbar ist.
Auffallend ist im Vergleich zu früheren Jahren die doppelte Diffusität: Sowohl geographisch wie auch nach Tätern, Opfern und Motiven. Zwischen Bali und Rabat finden sich unzählige Plätze, an denen Gewalt vielfach in terroristischer Form ausgeübt worden ist. Und in den Motiven der Gewalttäter haben sich die Konturen zwischen einem Befreiungskampf (unter anderen Irak und Palästina), einem Kampf um Macht und gegen bestehende Regime (unter anderen Irak und Saudi-Arabien) sowie einem kaum zu definierenden "Kampf gegen den Westen" (Irak wiederum und viele andere Plätze) längst verwischt.
Tatsächlich ist jenen Beobachtern zu folgen, die eine Art globaler Interaktion zwischen dem Kampf gegen den Terrorismus, den der amerikanische Präsident führt und der sich geographisch wesentlich im Raum der islamischen Welt abspielt, und einem transnationalen, global operierenden militanten Dschihad-Islamismus konstatieren. Dabei spielt die Wiederbelebung des Konzepts der Umma, der islamischen Gemeinschaft jenseits der Staaten und Nationen, eine zentrale Rolle. Was Wunder also, dass auch Angehörige der Umma in der nichtislamischen Welt von der Austragung dieser Feindseligkeit nicht unberührt bleiben. Die Terroranschläge von Madrid (März 2004) und London (Juli 2005) waren die bislang stärksten Symptome dafür, dass die Ausläufer der Spirale von Gewalt und Gegengewalt auch Europa treffen können.
Eine wichtige Rolle spielen bei der Mobilisierung die neuen satellitengestützten Fernsehkanäle, die in den letzten zehn Jahren im arabischen Raum entstanden sind. Mit ihnen ist "dem Westen" das Nachrichtenmonopol abhanden gekommen, das noch bis Anfang der 90er-Jahre westliche Einflussausübung gestärkt hat. Die neuen arabischen Medien vermitteln den Menschen in ihrem - globalen - Sendegebiet ihre eigene Einordnung der Geschehnisse in Zusammenhänge ihres kollektiven Gedächtnisses. Ausgerechnet einer der Drahtzieher des Terrorattentats von Bali (Oktober 2002) hat auf den Punkt gebracht, worin der rote Faden dieser Zusammenhänge liegt: "Ich wollte den Krieg führen als Rache für die weltweite Ungerechtigkeit gegenüber Muslimen."
Der Terrorismus ist mithin kein zufälliges oder ver-einzeltes Phänomen; er signalisiert eine tiefe Beziehungskrise zwischen dem Westen und der islamischen Welt. Das mag insgesamt nicht neu sein; aber die neuerliche Demütigung des Selbstgefühls zahlreicher Muslime durch die amerikanische Invasion hat einen politisierten Rand in islamischen Gesellschaften weiter radikalisiert und lässt die Beziehungskrise in bewaffnete Konfliktaustragung eskalieren.
Die Neuordnung der Beziehungen zwischen dem Westen und dem islamisch geprägten Raum ist eine der großen politischen Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Wenn auch das Paradigma vom Zusammenprall der Kulturen zu Recht als zu schematisch kritisiert worden ist, so kann gleichwohl nicht länger übersehen werden, dass Verwerfungen aufgebrochen sind, die auch eine kulturelle Dimension haben. Das bedeutet nicht, dass sie als solche eindimensional kultureller Natur sind; aber die Art und Weise, in der sich die USA und Europa heute politisch darstellen, stößt weithin auf eine Ablehnung, die in einer kulturell und religiös geprägten Wahrnehmung von Seiten eines breiten Spektrums von Menschen in der islamischen Welt wurzelt.
Damit ist zugleich gesagt, dass sich die Gestaltung einer neuen Qualität von Beziehungen zwischen beiden Seiten wesentlich von dem Begriff der Gerechtigkeit leiten lassen sollte. Das kann nicht heißen, die Grundwerte, auf denen demokratische Ordnungen im Westen beruhen, in Frage zu stellen; die eingangs angestellten Beobachtungen der "Optimisten" lassen erkennen, dass sie weithin akzeptiert werden. Sie sind vielmehr in einer Politik zu vermitteln, die Vertrauen entstehen lässt, dass eine Synthese zwischen den Grundlagen der eigenen Kultur, zu denen wesentlich auch die Religion gehört, und den Grundwerten der Moderne, die ihren Ursprung im Westen haben, der richtige Weg ist, der islamischen Welt im 21. Jahrhundert einen Platz von Gleichen unter Gleichen zu geben. Vor diesem Hintergrund kann der Schlag gegen den Irak im Kontext des Kampfes gegen den Terrorismus als historischer Fehler bezeichnet werden. Und nicht zufällig eskalierte die Gewalt in und aus der islamischen Welt heraus mit Beginn der militärischen Vorbereitungen dazu.
Europa - als unmittelbarer Nachbar des Nahen und Mittleren Ostens - ist in besonderer Weise herausgefordert, eine Partnerschaft aufzubauen, die geeignet ist, den Gesellschaften dort langfristig Perspektiven zu umfassender Entwicklung zu eröffnen und mithin einen Beitrag zur Stabilisierung dieser Region zu leisten. Dabei werden allerdings überkommene Politikansätze überdacht werden müssen. Die Mittelmeerpolitik wäre stärker auf politische Kräfte auszurichten, die sich für demokratischen Wandel einsetzen. Dass dies bei den Regierenden zu Missstimmung führt, wird ebenso unvermeidlich sein wie zeitweilige politische Krisen und Instabilitäten im Prozess des Übergangs. Wandel ohne Entwicklung aber kann in die falsche Richtung führen. Deswegen wird die EU die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit ihren nordafrikanischen und nahöstlichen Nachbarn vertiefen und zugleich einen Beitrag leisten müssen, wirtschaftliche Zusammenarbeit innerhalb der Region zu intensivieren, um die vorhandenen Potenziale zu umfassender Entwicklung der Gesamtregion zu mobilisieren. In den Konflikten dort wird die EU klare Positionen zu beziehen haben, die sich auf Recht und Gerechtigkeit gründen - bei Tschetschenien ebenso wie bei Palästina. Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass zwischen Besatzung und Frieden ein unauflösbarer Widerspruch besteht. Wesentlich ist schließlich, dass mit den USA ein selbstbewusster Dialog darüber geführt wird, welchen Beitrag der Westen gemeinsam zur Lösung der Probleme der Region leisten und wie dem Terrorismus langfristig der Boden entzogen werden kann. Der Irak wird nur dann zur Stabilität zurückkehren, wenn die wichtigsten internationalen Mächte und die Nachbarn eng zusammenwirken.
Die nächste Herausforderung an die europäische Politik im Nahen Osten ist bereits in den Karten. Wie wird sie mit einem Iran umgehen, dessen Führung entschlossen zu sein scheint, die volle wissenschaftliche und technologische Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken anzustreben? In der Wahrnehmung der Führung in Teheran ist dies nicht nur ein Recht, das ihr als Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrages erwächst. Die Verfügung über die Kernenergie vielmehr ist ein essenzieller Schritt in Richtung "gleiche Augenhöhe", die die iranische Führung seit der Revolution auf unterschiedliche Weise angestrebt hat. Eine Politik, die den Iran bei der Kernenergie auf halbem Wege zu stoppen sucht, die Atompotenziale Israels aber nicht beim Namen nennt, wird in Teheran - und anderweitig im Nahen Osten - als Rückfall in jene "doppelten Standards" gewertet, die an der Wurzel der Krise in den Beziehungen liegen. Wenn eine "präventive" militärische Aktion à la Irak aber weder klug noch machbar ist, müsste eine auf die Entnuklearisierung des gesamten Nahen Ostens gerichtete Politik eine Verhandlungsdynamik zwischen allen Nuklearmächten in Gang setzen, an dessen Anfang naturgemäß die Anerkennung eines jeden Verhandlungspartners stehen würde - insbesondere die Anerkennung Israels durch den Iran.
An einem Punkt hat die EU eine zukunftweisende Entscheidung mit Blick auf ihr Verhältnis zur islamischen Welt getroffen: sich offen zu halten für eine eventuelle Mitgliedschaft der Türkei. Der diesjährige Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, der türkische Autor Orhan Pamuk, hat in einem Interview gesagt: "Wenn es einem muslimischen Land gelingt, durch Interkulturalität demokratische Standards zu erreichen, dann bedeutet das für die Türkei und für Europa eine radikale Neudefinition." Diese Feststellung kann auch auf das Verhältnis Europas zur gesamten islamischen Welt ausgedehnt werden.
Professor Udo Steinbach leitet das Deutsche Orient-Institut im
Deutschen Übersee-Institut in Hamburg.