Herausbildung und Begründung öffentlicher Kulturpolitik
Zu unterschiedlichen Zeiten dominierte mal der eine, mal der andere Aspekt, und es gab in der deutschen Geschichte Phasen, in denen Kulturpolitik weitgehend dem Lobpreis der Macht diente. Aber auch in Phasen intensiver "Staatskunst" war stets das andere Element in der Kulturpolitik mit vorhanden, die Hervorbringung von Kultur und Kunst, die nicht dem Staatszweck diente. Umgekehrt ist aber in demokratischen Gemeinwesen Kulturpolitik immer auch ein "Mittel für Machtzwecke", und sei es nur in Gestalt des repräsentativen Glanzes eines Kulturereignisses, in dem sich die politischen Vertreter einer Kommune gerne sonnen oder "dreier Opern", von denen geglaubt wird, dass sich dies für die Hauptstadt der groß gewordenen Bundesrepublik geziemt.
Kulturpolitik wirkt vielfach stärker als andere Formen politischen Handelns auf Staat und Macht zurück und gibt ihnen, etwa als "Kulturstaat", eine besondere Gestalt. Dieser "Repräsentationscharakter" ist kein Nebenprodukt von Kulturpolitik, sondern ein Teil ihrer Funktion. Jeder Museumsneubau und jede Opernpremiere ist - allen Bekenntnissen zum Trotz, dass es um die Kunst geht - immer auch ein Ausdruck der gegenseitigen Spiegelung und Verstärkung von Kultur und Politik.
Die Zusammenführung der beiden Begriffe "Kultur" und "Politik" zu "Kulturpolitik" ist erstmals in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts nachweisbar. Sie wird aber erst in den 1910er-Jahren und vor allem in der Weimarer Republik gebräuchlich und steht seither für staatliches respektive kommunales Handeln im Bereich von Kultur und Kunst und lange Zeit auch von Bildung. Ihre Wurzeln liegen in der im 19. Jahrhundert entstandenen Wortfügung "Cultur-Policey" - "Policey" war die Bezeichnung für Verwaltungs- und Regierungsbelange.
Die Etablierung des Begriffs "Kulturpolitik" markiert einen Wandel im Verhältnis von Staat und Kultur und ist eng verknüpft mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und demokratischer Regierungsformen. Sein Vorläufer "Cultur-Policey" trat zu einer Zeit auf, als zunehmend mehr fürstliche Kunstsammlungen, Bibliotheken und Theater für die Allgemeinheit zugänglich wurden, als sich öffentliche Konzerte etablierten und Museen gegründet wurden und als die Forderungen nach öffentlicher Unterstützung von künstlerischen und kulturellen Aktivitäten zunehmend häufiger erhoben und dem von städtischen und landesherrlichen Obrigkeiten schrittweise nachgekommen wurde.
Gegen Ende dieses Jahrhunderts hatte die Förderung von Kunsteinrichtungen durch Kommunal- und Landeshaushalte beträchtlich zugenommen, das 1871 entstandene Reich trat mit der Zeit auch als kulturpolitischer Akteur auf, vom Bürgertum gegründete Museen, von Privatunternehmern betriebene Theater und von Fürsten nicht mehr zu finanzierende Kunstsammlungen wurden immer häufiger von Kommunen und Ländern übernommen.
Nach dem Ersten Weltkrieg nahm mit der Ablösung der monarchischen durch eine demokratisch-republikanische Regierungsform dieser Prozess der Kommunalisierung und Verstaatlichung von Kunst- und Kultureinrichtungen erheblich zu. Seit dieser Zeit hat auch der Begriff "Kulturpolitik" den der "Cultur-Policey" abgelöst und sich etabliert.
Wie die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft gerade in Deutschland ein langer, widerspruchsvoller Prozess war, so war auch die damit verknüpfte, in der frühen Neuzeit beginnende Entwicklung der Kulturpolitik alles andere als geradlinig und eindimensional. Eine Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungsstränge gingen in sie ein und prägen auch noch die heutige Kulturpolitik.
Es sind vor allem vier große gesellschaftliche Traditionsstränge, die Kulturpolitik konstituieren: der "Fürstenhof" mit seiner Kultur der Machtverherrlichung und des Vergnügens aber auch der Reglementierung, die "Bürgergesellschaft" mit kulturellen Institutionen der Selbstverständigung und Unterhaltung, das Ideal der "Kulturnation" bei der Bildung der deutschen Nation und aufgeklärt-kultivierter Menschen mittels Kunst und Kultur sowie das Bild vom "Wohlfahrtsstaat" mit den Vorstellungen einer staatlichen Gewährleistung nicht nur sozialer sondern auch kultureller "Versorgung".
Diese vier unterschiedlichen Traditionen und Einflüsse laufen in der entstehenden Kulturpolitik im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zusammen und vermischen sich kaum mehr unterscheidbar zu den verschiedenen Funktionen auch heutiger Kulturpolitik wie kulturell-künstlerische Teilhabe, repräsentativer Glanz, gesellschaftliche Integration, kulturelle Bildung und gemeinschaftliche Selbstverständigung sowie Unterhaltung. Manche überlagern andere ohne sie ganz zu verdrängen und in unterschiedlichen Phasen bestimmt mal die eine, mal die andere Funktion das Erscheinungsbild von Kulturpolitik
In dem Maße wie öffentliche Mittel, die einer Kontrolle ständischer oder parlamentarischer Vertretungskörperschaften unterlagen, für kulturelle Einrichtungen und künstlerische Aktivitäten aufgewandt wurden, bedurfte es einer gesellschaftlichen Legitimation anstelle fürstlichen Beliebens und bürgerschaftliche Selbstorganisation. Aus kulturellen "Klasseninstitutionen" des Adels und des Bürgertums beziehungsweise solchen, die sich über Angebot und Nachfrage reguliert hatten, wurden Kultureinrichtungen der gesamten Gesellschaft, die von Kommunen und Staat unterstützt und viele mit der Zeit auch getragen wurden.
Zur Begründung dieses neuen kommunal-staatlichen Handelns im Bereich von Kunst und Kultur wurde vor allem auf Programmschriften des aufgeklärten Bürgertums und des Deutschen Idealismus zurückgegriffen, in denen die Kultur und Kunst wichtige Orte gesellschaftlicher Kommunikation, individueller Emanzipation und demokratischer Öffentlichkeit waren. Dabei kam besonders dem Theater als "moralische Anstalt" und "Wegweiser durch das bürgerliche Leben" (Friedrich Schiller) eine wichtige Bedeutung zu.
Kulturelle Orte, die sich das neue Bürgertum und die bürgerliche Gesellschaft unter Einbeziehung des Adels und aufgeklärter Fürsten zum geselligen Austausch, zur Verständigung, Unterhaltung und Repräsentation geschaffen hatte, waren besonders Lesegesellschaften, Geselligkeits-, Kunst- und Musikvereine und ähnliche "Associationen". Auch Theateraufführungen gehörten, wenn auch eher am Rande, dazu. In dieser Zeit und in diesem Kontext entstanden in der deutschen Sprache in engem Bezug miteinander die Begriffe "Öffentlichkeit", "Publikum" und "Bürger", die teilweise synonym benutzt und zunehmend mit Kultur, Kunst und Bildung verbunden wurden. Diese theoretisch-konzeptionelle Engführung war der Ansatzpunkt für die Begründung kulturpolitischen Handelns durch kulturelle Reformschriften des aufgeklärten Bürgertums.
Da diese aber mit der Zeit immer weniger mit den realen Kulturorten zu tun hatten und im Widerspruch zur damaligen Bedeutung der Vordenker einer "ästhetischen Erziehung des Menschen" standen, trat an deren Stelle die Konstruktion einer solchen Bedeutung durch die Erfindung der "Klassik" als literarischer Epoche und die Kanonisierung der "Klassiker" als die Repräsentanten der deutschen Nation wie bei den Schillerfeiern von 1859 mit Veranstaltungen in 448 deutschen und 50 ausländischen Städten. Im "Klassikerjahr" 1867 - hier endete die Schutzfrist für Autoren, die vor 1837 gestorben waren - entstanden zahlreiche "Klassikerausgaben" und "Klassiker-Nationalbibliotheken" und startete Reclam seine Universalbibliothek mit Goethes "Faust". Diese Schaffung eines literarisch-künstlerischen Kanons etwa ab den 1850er-Jahren ging einher mit seiner Verknüpfung vor allem mit dem Theater als Bildungs- und moralische Anstalt, der Trennung von "Bildung" und "Unterhaltung" sowie der Kreierung einer "Hochkultur" in Abgrenzung zu der in dieser Zeit in größerem Umfang entstandenen kommerziellen "Massenkultur". Kunst wurde von "Nichtkunst" geschieden und Kunstaneignung zur Weihestunde, die in den Theatern, Museen und Konzerten zunehmend zur leeren Selbstpräsentation des Bürgertums und des Adels wurden, was später Herbert Marcuse treffend als "affirmative Kultur" charakterisiert hatte.
Die Berufung auf diese "Hochkultur" und die bildungsbürgerliche, obrigkeitsstaatliche Klassikerkanonisierung mit der Formulierung eines Bildungsauftrags an die Kultureinrichtungen bildete die zentrale Legitimation öffentlicher Kunstförderung und Kulturpolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Diese kulturpolitischen Begründungen, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts umfassender ausgearbeitet worden waren, bildeten auch die Grundlage für die Kulturpolitik in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland. Erst ab Ende der 60er-Jahre kam es zu einer kulturpolitischen Neuorientierung.
Diese Neue Kulturpolitik war Teil eines gesamtgesellschaftlichen Modernisierungs- und Demokratisierungsprozesses und der Ausdehnung wohlfahrtsstaatlicher Politik auf die Teilhabe-Möglichkeiten größerer Bevölkerungskreise an kulturell-künstlerischen Prozessen unter den Zielsetzungen Demokratisierung von, Partizipation an und Emanzipation durch Kultur und den beiden zentralen Motti "Kultur für alle" (Hilmar Hoffmann) und "Bürgerrecht Kultur" (Hermann Glaser). Zur ihrer Begründung bezog man sich nicht nur auf Schiller, die bürgerliche Aufklärung und den deutschen Idealismus, sondern genauso zentral auf die Marcusesche Kritik an der "affirmativen Kultur" und auf die Alltagskultur. Damit wurde versucht, den "Geburtsmakel" früherer Begründungen öffentlicher Kulturpolitik und ihrer darauf aufbauenden langjährigen Praxis zu korrigieren und die "Trennung zwischen der ,reinen' Welt des Geistes und den Niederungen der Realität" (Hermann Glaser) in einer anderen, soziokulturellen, alltagsorientierten Kulturpolitik zu überwinden.
Internet: www.kupoge.de
Der Autor ist wissenschaftlicher Leiter des Instituts für
Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft Bonn.