Eine Garantie für die "kulturelle Grundversorgung"
Kultur in Deutschland ist geprägt von einem Zusammenspiel öffentlicher und privater Akteure: Das Spektrum reicht von staatlich und kommunal getragenen Kultureinrichtungen über öffentliche und private Kulturförderung sowie bürgerschaftliches Engagement, die öffentlichen-rechtlichen und privaten Medien bis hin zur Kulturwirtschaft. Dem vielfältigen Angebot steht eine Nachfrage der interessierten Bevölkerung gegenüber, die als Bürgerschaft das kulturelle Angebot der Kommunen und Länder ebenso wahrnimmt, wie sie als Kunde kulturelle Dienstleistungen am Markt abnimmt.
Im Wechselspiel von Kulturgesellschaft und Individuum, kommerziellen Angeboten und öffentlichen Kulturinstitutionen hat der "aktivierende Kulturstaat" mit seinen Kompetenzen und Potenzialen einen auch verfassungsrechtlich gebotenen Kulturgestaltungsauftrag wahrzunehmen. Dieser würde durch die von der Kultur-Enquete-Kommission vorgeschlagene Staatszielbestimmung: "Der Staat schützt und fördert die Kultur" jenseits von Artikel 5 Absatz 3 Grundgesetz (Kunstfreiheitsgarantie) ausdrücklich normiert.
Eine zentrale Frage ist, wofür Staat und Kommunen in der kulturellen Vielfalt von Akteuren und Angeboten stehen. Zur Beantwortung der Frage ist es grundlegend, die politischen Auftragsgrößen und Zielsetzungen nicht abstrakt, sondern mit Blick auf die jeweilige kulturelle Aufgabe und deren Charakter herauszuarbeiten: Die Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen ist hinsichtlich der sehr unterschiedlichen Aufgabenbereiche der verschiedenen staatlichen Ebenen auszudifferenzieren. Dabei bieten sich insbesondere vier größere Komplexe an:
Diese Bereiche haben jeweils einen sehr unterschiedlichen Charakter, auch wenn sie unter dem Oberbegriff "Kultur" zusammengefasst werden. Sie haben unterschiedliche verfassungsrechtliche Bezüge und es gibt je nach Ebene des Staates unterschiedliche Verantwortlichkeiten de facto und de jure sowie unterschiedliche Akteurs- und Trägerstrukturen.
Die Begriffe "Kulturelle Grundversorgung" und "Kulturelle Daseinsvorsorge" (Deutscher Kulturrat) haben in der Kulturpolitik der vergangenen Jahre verstärkt Konjunktur. Dabei geht es darum, Kulturpolitik in einer Weise argumentativ zu begründen und politisch durchzusetzen, dass der Kulturstaat Deutschland seine Errungenschaften im vereinigten Europa sichern kann. Die Begründung der öffentlichen Verantwortung hat mit Blick auf die GATS-Verhandlungen und die Dienstleistungsrichtlinien der EU eine konstitutive Bedeutung erhalten, da klar abzugrenzen ist, wofür der Staat auf der einen, der Markt auf der anderen Seite steht.
Die Sicherstellung der kulturellen Grundversorgung ist zudem in einen größeren gesellschaftlichen und politischen Kontext zu stellen: Herausforderungen der Demografie, der Globalisierung, der Medialisierung etc. sind bei der Herausarbeitung des öffentlichen Kulturauftrages zu berücksichtigen. Kulturpolitik ist und bleibt Gesellschaftspolitik. Meine Vorstellung von kultureller Grundversorgung nimmt demzufolge nicht den Staat, sondern Gesellschaft und Individuum zum Ausgangspunkt. Die Perspektive des Bürgers, nicht die Perspektive des Staates ist entscheidend. Der Bildungs- und Kulturbürger steht im Mittelpunkt der Kulturpolitik. Kulturelle Grundversorgung ist daher als Angebot der öffentlichen Hände an den Einzelnen auszugestalten. Ein so verstandenes Angebot zielt auf etwas, das sich im Englischen vielleicht besser ausdrücken lässt als im Deutschen: auf "Cultural Empowerment". Dabei geht es nicht um eine wie auch immer verstandene "Kulturhoheit", einen obrigkeitlichen Kulturstaat, weshalb die schon seit einiger Zeit andauernde Kritik an diesem Begriff richtig ist. Der Kulturstaat wird heute nicht - wie noch bei Hegel - als sittlich allgemeine Institution gesehen, die "von oben" und in eigenem Recht tätig wird, um die kulturelle Homogenisierung des Volkes als Untertan zu betreiben. Der "aktivierende Kulturstaat" ist das Leitbild, das eben gerade nicht von einem fürsorglich paternalistischem Handeln geprägt ist. Der zeitgemäße Kulturstaat ist zwar selbst Akteur, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass andere Kulturakteure - ob in Wirtschaft oder Gesellschaft - optimale Rahmenbedingungen vorfinden, um ihrerseits Kultur zu produzieren und zu präsentieren. Kulturelle Grundversorgung leistet in diesem Sinne einen Beitrag dazu, kulturelle Leistungen, Einrichtungen und Qualitätsstandards in einer Weise zu werten und zu verteidigen, dass ihre Bedeutung als Conditio sine qua non zur Sicherung der Grundlagen unseres Kulturlebens nachvollziehbar wird. Auf dieser Basis entstehen öffentliche Angebote (Kultur ist ein "öffentliches Gut"!), die nicht allein den Marktmechanismen der Kommerzkultur folgen, sondern die Freiheit der Kultur jenseits ökonomischer Zielsetzungen garantieren, ganz im Sinne der Formulierung Michael Naumanns, ehemaliger Kulturstaatsminister: "Kultur ist die schönste Form der Freiheit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft". Um kulturelle Grundversorgung im Einzelnen zu gewährleisten, sind normative Entscheidungen zu treffen. Im Grundsatz meist von politisch besetzten Gremien.
Diese normativen Grundlagen, ausgeprägt in Zielsetzungen und Auftragsgrößen, sind in den vier Handlungsfeldern sehr unterschiedlich: Die Künste leben von freier Entfaltung, bedürfen aber auch der Vermittlung. Für die kulturelle Bildung ist der allgemeine Zugang zu garantieren, ein flächendeckendes Angebot ist sicherzustellen. Das kulturelle Erbe ist zu erhalten, zugänglich zu machen und in seiner geschichtlichen Bedeutung zu vermitteln. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat einen dezidierten Kultur(-vermittlungs)auftrag, der der reinen Quotenorientierung zuwider läuft. Diese Auftragslage ist im Einzelnen herauszuarbeiten.
Bei einer genaueren Analyse stellt sich demzufolge heraus, dass die Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen in den jeweiligen Aufgabenbereichen einen unterschiedlichen Charakter und eine je nach Aufgabenbereich differenzierte Pflichtenlage zur Folge hat. Exemplarisch benannt sei etwa die kulturelle Bildung, die sowohl auf kommender Ebene durch Musik- und Kunstschulen, Bibliotheken und Volkshochschulen als auch durch das allgemeine öffentliche Schulwesen ausgestaltet wird und bei der die Länder letztlich stärkere Verantwortung haben als Bund und Kommunen. Gleichwohl vernachlässigen die Länder vielfach ihre Verantwortung, beispielsweise, wenn Kunst- und Musikunterricht ausfallen.
Zur Wahrnehmung der Verantwortung gemäß der Auftragslage und des Aufgabencharakters gibt es unterschiedliche Instrumente: Setzen von rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen (kulturelle Ordnungspolitik), unmittelbare Gestaltung von Einrichtungen (Trägerschaft), Ausgestaltung mit Blick auf die Einbeziehung privater Förderer oder von bürgerschaftlichem Engagement (Verantwortungspartnerschaft). Diese Gestaltungsinstrumente stehen den verschiedenen Ebenen des Kulturstaates Deutschland in je spezifischer Ausprägung zur Verfügung (Gesetzgebung, Satzungsrecht, Fördermittel, Verträge, Vergabegremien, Personalentscheidungen etc.).
Kulturelle Grundversorgung bedarf der Diskussion und Festlegung von (Qualitäts-) Standards: Es muss herausgearbeitet werden, mit welcher Qualität die staatlichen und kommunalen Leistungen zu erbringen sind. Ohne Standards läuft die Garantiefunktion leer. Dies gilt auch für die großen Produktions- und Vermittlungsinstanzen der öffentlich-rechtlichen Medien.
Verantwortungspartnerschaften mit privaten Anbietern und Förderern sowie Bürgerinnen und Bürgern können anhand vielfach erprobter Modelle (private-public-partnership, Vereine und Stiftungen) im Einzelnen ausgestaltet werden. Auf diesem Feld ist der Informations- und Erfahrungsaustausch im Sinne einer offensiven "Kulturstrukturpolitik" nachhaltig zu fördern.
Für die kulturpolitische Konkretisierung und die Einlösung des Auftrages zur kulturellen Grundversorgung und Sicherung der kulturellen Infrastruktur ergibt sich somit die gedankliche Schrittfolge: Öffentlicher Auftrag - Qualitätssicherung - Verantwortungspartnerschaften - Ausgestaltung. Dies ist ein tragfähiges und praxiserprobtes kulturpolitisches Grundmodell, das dem Leitbild eines "aktivierenden Kulturstaates" entspricht.
Der Autor ist Beigeordneter für Bildung, Jugend und Kultur der
Stadt Essen, Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft und
Mitglied der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" des
Deutschen Bundestages.