Der öffentlich-rechtliche Rundfunk beugt sich dem Quotendruck
Alle reden von ihr. Aber was "Kultur" im Rundfunk ist, vermag niemand messerscharf und verbindlich zu definieren. Und den "Kulturauftrag", der ARD und ZDF gestellt ist, schon gar nicht - auch wenn zum Beispiel der neue Vorsitzende des HR-Rundfunkrates, Alfred Möhrle, im Brustton der Überzeugung sagt: "Ich habe besonders den Kulturauftrag der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender im Blick. Diese haben die Pflicht, möglichst viel Information und Bildung zu garantieren. Bei den Privatsendern zeichnet sich derzeit ein Niveau ab, auf das wir uns, bei allem Wettbewerb um die besten Einschaltquoten, einfach nicht begeben dürfen. Die Quote ist nicht alles."
Wie erfüllen ARD und ZDF die Pflicht, von der Möhrle spricht? Man erinnert sich an die Diskussion über den Qualitätsbegriff im Journalismus. Kommunikationswissenschaftler verglichen ihn mit einem Pudding, den man nicht an die Wand nageln könne. Die EU-Kommissarin Viviane Reding, zuständig für Informationsgesellschaft und Medien, hat den Grundversorgungsauftrag, auf den sich die deutschen Öffentlich-Rechtlichen stützen, als zu "schwammig" und "nicht klar" bezeichnet. "Was ARD und ZDF genau sollen, weiß keiner, deswegen machen ARD und ZDF, was sie wollen", kommentierte der Medienpublizist Joachim Huber im Berliner "Tagesspiegel" die Lage.
Im April wurde für die Enquete-Kommission "Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien für die Kultur" das Ergebnis einer Untersuchung veröffentlicht, nach der beim ZDF nur 50 Minuten am Tag Kultur gezeigt wird. Bei der ARD seien es sogar nur 25 Minuten. Die Privatsender Vox und RTL kommen auf je 17 Minuten, sind also von der ARD nicht mehr weit entfernt. "50 Minuten - es gibt kein nationales Vollprogramm in Europa, außer ORF 2, das mehr Kultur sendet", verteidigt ZDF-Intendant Markus Schächter seine Anstalt. Und ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann zieht die Seriösität der Studie in Zweifel. Es seien nämlich nur die explizit als "Kultur" ausgewiesenen oder erkennbaren Sendungen erfaßt worden, Alltags- oder Populärkultur - was immer das sein mag - hätten die Verfasser lediglich in der Gestalt von Popkonzerten berücksichtigt. Der ARD sei es ganz wichtig, Kultur in die anderen Programme einzustreuen, "um Hemmungen zu überwinden und abzubauen".
Das Erste sieht sich in einer Doppelfunktion: Kulturmedium und Kulturfaktor. Man wolle nicht nur eine "schwache Elite" bedienen, sondern "breite Schichten" für Kultur interessieren, vermerken die Leitlinien für die Programmgestaltung 2005/2006. Will heißen: Wo Kultur draufsteht, kann auch Eß-, Sport- und Reisekultur drin sein. Als Kultur gelten neben den klassischen Kulturmagazinen, die zunehmend ein Schattendasein fristen, alle Beiträge über Film, Video, Medien, Werbung, Literatur, Kunst, Theater, Architektur, Denkmalschutz, Stadtkultur, Religion und Brauchtum. Doch beim Siegeszug der mit Gebühren plus Werbung gesegneten Öffentlich-Rechtlichen hat die Kultur verloren. Selbst in den Dritten Programmen, den einstigen Bastionen für Kulturbeflissene, dominieren regionale Themen und Servicesendungen. Ein Fernsehtag, errechneten die Autoren der erwähnten Studie, hat 2.055 Minuten "Kultur". Etwas mehr als die Hälfte davon läuft auf vier Sendern, die es gemeinsam auf zwei Prozent Marktanteil bringen: 3Sat mit 372 Minuten, BR alpha (273 Minuten), Phönix (260 Minuten) und Arte (210 Minuten). Man muss die Minutenzählerei nicht unbedingt als empirisch abgesichert betrachten, einen Trend zeigt sie jedenfalls an.
Kulturstaatsministerin Christina Weiß hat vor einem Jahr in Berlin, auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, die alte Frage "Wieviel Kultur verträgt das Fernsehen?" abgewandelt in "Welche Kultur meint das Fernsehen?" und damit einem Dilemma Ausdruck gegeben: Die einen irritiere eine Nachricht über den verunglückten Daniel Küblböck in der "Tageschau" gewaltig, andere hielten dies für eine Kulturmeldung und für legitim, weil 85 Prozent der Deutschen diesen "Star" kennen. Mitarbeiter der Staatsministerin hatten 14 Tage im November 2003 in den wichtigen ZDF-Nachrichtensendungen nach Kulturbeiträgen gesucht. Das Ergebnis: In 75 Sendungen nur 17 Kulturstücke, über "Harry Potter", Boris Beckers Memoiren, eine HipHop-WM in Bremen, die Versteigerung von Concorde-Ersatzteilen bei Christies. Aber nichts über die Neueröffnung des Münchner Hauses der Kunst, nichts über Rem Kohlhaas in Berlin, nichts über Delacroix in Karlsruhe.
Diese Analyse mündete in die Forderung der Politikerin nach einer Kulturquote in den Nachrichtensendungen. Kopfschütteln, Unverständnis bei den Machern. Doch Weiß beharrte darauf: Die kulturelle Essenz gehöre für sie zum festen Programm einer Nachrichtensendung, so wie das Feuilleton zu einer Qualitätszeitung gehöre. Auch in der ARD regiere meist das Zufallsprinzip, selten die journalistische Analyse, die Einordnung relevanter Kulturereignisse. "Ist also in den überregionalen Programmen nur erlaubt, was boulevardesk genug sei?" fragte Weiß.
Natürlich, mit einem hochgestochenen elektronischen Feuilleton wird sich der "Kulturauftrag" nicht erfüllen lassen. Aber 44 Prozent der Deutschen interessieren sich zumindest für Kultur und Kunst, für sie muss man Angebote bereithalten. Statt dessen wird verschoben, verkürzt, gestrichen. Dem Promi-Geplauder mit Sabine Christiansen wurden schon vor Jahren die alten Sendeplätze der ARD-Flaggschiffe "Kulturreport", "Kulturweltspiegel" und "Titel, Thesen, Temperamente" geopfert. Von Mai bis August startete das ZDF-Kulturmagazin "Aspekte" ständig deutlich später als regulär um 22.15 Uhr. Mit gravierenden Folgen für die Quote. Statt der durchschnittlichen 1,3 Millionen Zuschauer schalteten nur noch knapp 600.000 ein. Im September beginnt eine neue Testphase. Angeblich "ergebnisoffen". Immerhin gibt Programmdirektor Bellut seinem Kulturmagazin eine Bestandsgarantie.
Eloquent sucht Bellut den Eindruck zu zerstreuen, man mogele sich um die Erfüllung des "Kulturauftrags" herum. Der suggerierte Spagat zwischen Quote und Anspruch sei keineswegs eine lästige Übung, sondern ganz im Gegenteil der Schlüssel zum Erfolg eines öffentlich-rechtlichen Senders, schreibt er im soeben erschienenen ZDF-Jahrbuch. "Es ist durchaus nicht weit hergeholt, wenn ich mit Event-Formen wie ,50 Jahre Rock', ,Gottschalks große Benimm-Show', ,Sternflüstern', oder etwas ,Das Sibirien-Abenteuer' die Schnittmenge zwischen Kultur, Bildung und Unterhaltung betone." Sie alle verkörperten idealtypisch die Strategie auf dem Mainzer Lerchenberg: "Die Erfüllung des Funktionsauftrags durch die Vermittlung von Werten und das Schaffen und Zeigen von Kultur(-ereignissen) kann auch auf unterhaltsame Weise geschehen." Kultur und Unterhaltung schlössen sich nicht aus, böten sogar in ihrer Kombination eine "außerordentliche Sehmotiviation".
Doch Kultur in der Primetime, das wird, was von ARD und ZDF nur ungern zugegeben wird, immer mehr zum Problem. Seit Jahren geht der Trend zur Auslagerung aus den Hauptprogrammen, etwa in die Spartenkanäle. Die Digitalisierung treibt diese Entwicklung noch voran. WDR-Intendant Fritz Pleitgen hat in seiner Replik auf die angekündigte Übernahme von ProSiebenSat 1 durch das Haus Axel Springer verkündet: "Falls es tatsächlich dazu kommen sollte, würde der öffentlich-rechtliche Rundfunk für unsere Gesellschaft noch wichtiger." Das ist richtig erkannt. Aber dann müssten auch die richtigen Konsequenzen gezogen werden. Auch und gerade in puncto Kultur. Wer sich für sie interessiert, muss sie ohne Mühen im Hauptprogramm finden können.
Spartenkanäle sind nützlich, sie können Spezialbedürfnisse von Zielgruppen befriedigen. Aber einer sich atomisierenden Gesellschaft, in der es den Gruppen immer schwerer fällt, sich zu verständigen, kann das "Zielgruppenfernsehen" keine gemeinsame Basis mehr bieten. Die zu garantieren wird in der Tat erste Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bleiben. Das ergibt sich aus den diversen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Es hat ARD und ZDF eine Bestands- und Entwicklungsgarantie gegeben. Sie ist kein Freibrief für ungehemmte Expansion und Programmverlagerung. Karlsruhe besteht darauf, dass für die Gesamtheit der Bevölkerung Programme angeboten werden, die "umfassend und in der vollen Breite des Rundfunkauftrags informieren".
Wahrscheinlich geht es nicht mehr anders, als dass der bisher nirgendwo beschriebene Kulturbegriff endlich definiert beziehungsweise präzisiert wird. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk würde seine Gebührenlegitimität - die wird zunehmend, auch auf EU-Ebene angezweifelt - und damit seine Existenzberechtigung aufs Spiel setzen, sollte er Programminhalte und Programmformen in Zukunft denen der Privaten noch stärker als bisher annähern. Aber wie will man der Gefahr begegnen, dass auch die gebührenfinanzierten Sender zu Renditemedien verkommen, dass die "angleichende Konvergenz nach unten" weiter an Boden gewinnt, wenn man nicht über einen handhabbaren Kulturbegriff verfügt?
Der Autor ist Redaktionsmitglied der Tageszeitung "Die Welt".