Trotz ambitionierter Ziele steht die Außenpolitik auf schwachen Füßen
Lange Zeit trat die EU auf der weltpolitischen Bühne fast ausnahmslos als wirtschaftlicher und handelspolitischer Faktor in Erscheinung. Kaum eine Rolle spielte Brüssel indes in der Außenpolitik. Die 1993 im Vertrag von Maastricht auf die Gleise gebrachte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wirkte zunächst weithin konzeptions- und ziellos. Zudem gilt weiter das Primat der Außenpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten - ein vielstimmiger Chor. Seit Ende der neunziger Jahre hat die GASP jedoch an Dynamik gewonnen, was die Rolle der EU auf der weltpolitischen Bühne durchaus gestärkt hat. Ziele und Aufgaben der GASP sind mittlerweile klar definiert.
Seit dem Europäischen Rat von Köln 1999 fallen unter die GASP "humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben, Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen". Modernisiert wurde die GASP auf dem Folgegipfel in Helsinki, wo sich die Staats- und Regierungschefs auf die Prinzipien der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und auf den Aufbau einer Interventionsstreitmacht verständigten. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Entwicklung auf dem Gipfel in Nizza 2001, wo die zusehends Gestalt annehmende Außenpolitik der Union mit einer Vielzahl neuer politischer und militärischer Gremien unterfüttert wurde. Bereits 2003 bestand die EU ihre ersten kleineren Bewährungsproben bei einer Polizeimission in Bosnien-Herzegowina, einer Militäroperation in Mazedonien und beim ersten Militäreinsatz außerhalb Europas in der Provinz Ituri im Kongo, dort jedoch unter UN-Dach. Allerdings leiden GASP und ESVP unter einem strukturellen Problem: Diese Politik basiert auf der Kooperation zwischen den Regierungen der EU-Staaten, und dies meist auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Von einer integrierten, einer "vergemeinschafteten" Politik wie etwa beim Binnenmarkt ist die Union außenpolitisch noch weit entfernt. Der Beitritt von zehn neuen Nationen hat die Gemengelage unterschiedlicher Interessen noch einmal vergrößert. Es bleibt jedenfalls bislang im Prinzip unklar, welche Außenpolitik die EU als Ganzes eigentlich machen will. Neben GASP und ESVP spielen auch andere Themen in die Brüsseler Außenpolitik hinein, die Handelspolitik, das Engagement für die Dritte Welt, die humanitäre Hilfe, die Zusammenarbeit mit Drittländern oder die Kooperation der EU mit internationalen Organisationen in der Forschungs-, Bildungs-, Umwelt- und Gesundheitspolitik. Die Migrationspolitik und die Terrorbekämpfung sind im Kern auch ein Teil der Außenpolitik der Union. Ein vielfältiges, zuweilen auch verwirrendes Bild. Kein Zweifel: Brüssel befindet sich mitten in der Suche nach einem außenpolitischen Leitbild, das den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird. Alle Mitgliedsländer wollen das Gewicht der EU auf internationaler Ebene stärken. Welche Rolle aber soll die Union auf der globalen Bühne überhaupt spielen? Darüber herrscht Unklarheit, die GASP beantwortet diese Frage nicht. Frische Impulse geben soll die so genannte ESS: Im Dezember 2003 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs diese unter Javier Solana, dem Hohen EU-Repräsentanten für die GASP, erarbeitete Europäische Sicherheitsstrategie "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt" (ESS). Die ESS formuliert drei strategische Ziele für die Brüsseler Außenpolitik. Zum einen sollen Bedrohungen abgewehrt werden, wobei bereits "vor Ausbruch einer Krise zu handeln" ist. Zum anderen soll die Sicherheit im unmittelbaren Umfeld der Union gestärkt werden: Dabei richtet sich der Blick auf "Nachbarländer, die in gewaltsame Konflikte verstrickt sind, schwache Staaten, in denen organisierte Gewalt gedeiht, zerrüttete Gesellschaften oder explosionsartig wachsende Bevölkerungen in Grenzregionen". Und vor allem soll sich die Europäische Union für eine Weltordnung im Sinne eines Multilateralismus stark machen.
Mit diesem Konzept des Multilateralismus tritt Brüssel dem unilateralen Ansatz der einzig verbliebenen Supermacht USA ebenso entgegen wie dem multipolaren Modell Pekings, das auf der Existenz mehrerer großer Machtzentren wie etwa China, den USA oder Russland beruht. Dem Vorrang einer einzigen Macht oder dem Kräftespiel mehrerer Mächte will die EU ihre eigene Idee entgegensetzen: Die internationalen Beziehungen sollen auf rechtlichen Übereinkünften fußen, die Vertrauensbildung zwischen Staaten soll gefördert, die Rüstungskontrolle intensiviert werden. Deshalb stützt sich die ESS nicht nur auf militärische Kräfte, sondern auch auf diplomatische, präventive, zivile oder entwicklungspolitische Strategien. Ziel ist die Konfliktbewältigung und -verhütung. Brüssel will, so der ambitionierte Anspruch, dem Primat des internationalen Rechts zum Durchbruch verhelfen.
Die Bedrohungen durch Terrorismus, die Weitergabe von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte irgendwo auf der Welt, die organisierte Kriminalität: Die ESS benennt viele Felder, auf denen die Europäische Union gefordert sein kann. Dazu zählen auch Risiken, die der EU irgendwann in der Zukunft zu schaffen machen könnten, etwa die Verknappung von Ressourcen wie Öl. Allerdings hat die ESS einen gravierenden Mangel: Brüssel hat noch keine Kriterien entwickelt, anhand derer Risiken und Bedrohungen gewichtet werden können - was aber die Voraussetzung für adäquate Reaktionen auf solche Gefährdungen ist.
Eine gemeinsame EU-Außenpolitik hat zweifelsohne Fortschritte gemacht, ihr stehen aber immer noch vielfältige Hindernisse im Weg. Wird sich die Union vor diesem Hintergrund zu einem globalen Machtfaktor entwickeln? Das hängt nicht allein von der EU ab. Bildet sich international eine multipolare Ordnung he-
raus, in deren Geflecht die Union zwischen den USA, China, Russland und Schwellenländern wie Indien ihre Position und Rolle finden muss? Oder gelingt es Brüssel, seine Außenpolitik am Multilateralismus zu orientieren und diesem Prinzip international zur Geltung zu verhelfen? Es ist keineswegs ausgemacht, auf welche Seite sich die Waagschale neigen wird. Selbst innerhalb der EU gehen die Meinungen auseinander: Die ESS propagiert den Multilateralismus, gleichwohl aber finden sich in der Union neben den Anhängern dieser Strategie auch Befürworter der auf eine multipolare Weltordnung ausgerichteten Denkschule.
Die EU hat mit einem handfesten Problem zu kämpfen: So moralisch überzeugend und in sich stimmig der Kurs des Multilateralismus auch ist, so fehlen dieser Politik bislang vorzeigbare größere Erfolge - daran ändern auch die Einsätze in Bosnien-Herzegowina, in Mazedonien oder in der Kongo-Provinz Ituri nichts.
Den Ton geben daher vorerst wie gehabt andere an, in erster Linie die USA. Generell dürften auf absehbare Zeit weiterhin einzelne wirtschaftlich und militärisch starke Nationen und nicht die EU oder andere internationale Organisationen das Sagen auf der globalen Bühne haben: einfach auch deshalb, weil ja selbst innerhalb der EU außenpolitisch immer noch die divergierenden und teils gegensätzlichen Interessen einzelner Mitgliedstaaten vorherrschend sind.
Unabhängig von solch prinzipiellen Erwägungen sieht sich die Europäische Union aktuell mit konkreten Herausforderungen konfrontiert. So muss die GASP/ESVP in der Praxis handlungsfähiger gemacht werden. Der auf Eis liegende Verfassungsvertrag enthält Regelungen, welche die EU-Außenpolitik aufwerten und voranbringen können. Viel wird deshalb davon abhängen, ob dieser Vertrag doch noch rasch verabschiedet wird.
Häufiger mit einer Stimme sprechen sollten die EU-Staaten in der UNO. Das Auftreten der Europäer in den Vereinten Nationen berührt natürlich die Grundsatzfrage, ob die EU-Staaten die Union außenpolitisch als eigenständigen Faktor aufbauen und dann selbstständig gegenüber Staaten wie den USA, China oder Russland agieren lassen wollen. Und schließlich dürfte die EU nicht umhin kommen, intern und gegenüber der Öffentlichkeit Klarheit über Motive, Ziele und Prioritäten ihrer Außenpolitik zu schaffen. Warum engagiert sich Brüssel im Kongo, aber nicht im Sudan? Wie lässt sich die Politik gegenüber dem Iran, wo man die Herstellung von Atomwaffen verhindern will, mit der Nuklearpolitik gegenüber Libyen vereinbaren? Auf solche Fragen geben weder EU-Verträge noch ESS bislang eine Antwort.
Andreas Maurer leitet die Forschungsgruppe EU-Integration bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.