Rede von Ernst Cramer
16. Wahlperiode
Rede von Ernst Cramer anlässlich der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" am 27. Januar 2006
Es gilt das gesprochene
Wort
Niemand von Ihnen kann auch nur im Entferntesten ermessen, was es für mich bedeutet, hier zu stehen. Das von Paul Wallot vor 120 Jahren errichtete Reichstagsgebäude war für mich, dem im Kaiserreich Geborenen und in der Weimarer Republik Aufgewachsenen, in meinen jungen Jahren so eine Art Tempel der Nation, ein Dom der Demokratie, ein Garant der Aufklärung.
In diesem Palast glaubte ich Freiheit, Liberalität, Toleranz, Menschenwürde und wahres Deutschtum fest verankert.
Ich war betroffen, als sich in diesem Haus in den Tagen von Weimar Reichstagsabgeordnete der extremen Rechten und der äußersten Linken darin überboten, die deutsche Republik schlecht zu machen. Ich war entsetzt, als dieser ehrwürdige Bau am 27. Februar 1933 von Gegnern eben jenes Weimarer Staates in Brand gesetzt wurde, was andere Feinde der ersten deutschen Republik für ihre eigenen, üblen Zwecke nutzten. All das war ein böses Omen.
Trotz dieser Brandschatzung bestand der Reichstag als Institution weiter. Allerdings diente dieses Parlament bald nach der sogenannten Machtergreifung nur noch als Forum der Entgegennahme und Billigung von Erklärungen der nationalsozialistischen Reichsregierung.
Diese Schein-Volksvertretung, die in der Kroll-Oper zusammentrat, hat die allgemeinen Entrechtungen, die sofort nach dem 30. Januar 1933 begannen und stets besonders die deutschen Juden betrafen, jeweils bedenkenlos gebilligt.
Am 15. September 1935 hat dann der in jenen Tagen nur noch aus Nationalsozialisten bestehende Reichstag in der Parteitags-Stadt Nürnberg die nach diesem Ort benannten Gesetze erlassen. Durch diese wurden allen deutschen Juden, also auch mir, die Bürgerrechte geraubt. Über Nacht wurden mir und allen anderen deutschen Juden die Anrechte entrissen, die sich unsere Vorfahren durch Jahrhunderte langes Leben und Wirken in deutschen Landen erworben hatten. Ich - und Hunderttausende Andere - hatten aufgehört, deutsche Bürger zu sein.
Im November 1938 wurde ich in ein Konzentrationslager verschickt.
Heute nun, ein biblisches Menschenalter später, stehe ich hier im Reichstag, stehe vor den hohen Organen des nochmals erstandenen und wiedervereinten, freien Deutschlands und darf an die Untaten erinnern, die zwischen 1933 und 1945 von Deutschen begangen wurden. Mit Ihnen allen gemeinsam darf ich um die vielen Millionen Opfer trauern, die von Deutschen oder auf deutschen Befehl umgebracht wurden.
Dass diese totale Veränderung möglich wurde, dass Deutschland als freier, freiheitlicher und zutiefst verantwortungsbewusster Staat noch einmal erstehen konnte, aber auch dass wir der vielen Opfer von damals gedenken, dafür danke ich allen Beteiligten:
Den Soldaten vieler Nationen, die das nationalsozialistische Deutschland bekämpften und besiegten; den Politikern und Staatsmännern, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die Fehler von 1919 wiederholten, sondern einem geläuterten Deutschland die Chance der Erneuerung gaben; all denen, die halfen, die staatlichen, geistigen und wirklichen Trümmer zu beseitigen und das wahre Deutschland neu zu errichten.
Aber ich danke auch den Frauen und Männern - besonders im Osten dieses Landes -, die den Glauben an ein freies Deutschland nie aufgaben und durch ihren Mut die Wiedervereinigung möglich machten. Ich danke dafür, dass dieser Tag der Befreiung von Auschwitz von Bundespräsident Roman Herzog als Gedenktag für alle Opfer der nationalsozialistischen Unrechts- und Gewaltherrschaft festgelegt wurde.
Ich danke dem Bundestag, den in freien Wahlen gekürten Vertretern aller Deutschen, dass diese Gedenkstunde hier stattfinden kann. Ich danke den Musikern für die würdige Umrahmung dieser Feststunde. Von den Komponisten habe ich zwei persönlich gekannt. Und ich danke dem Herrn Bundestagspräsidenten für seine freundlichen und bemerkenswerten Worte und auch dafür, dass er mich eingeladen hat, hier zu Ihnen zu sprechen.
Aber ich danke ganz besonders Gott, dass Er all dies möglich gemacht hat. Ich danke Ihm mit einem uralten jüdischen Lobspruch, der für alle monotheistischen Religionen Gültigkeit hat, oder zumindest haben sollte: "Boruch Ha'Schem" - Gelobt sei Sein heil'ger Name.
Wir sind hier versammelt, um am Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz aller Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.
Auf Grund einer Entscheidung der Vollversammlung der Vereinten Nationen wird der Holokaust-Gedenktag heute auch weltweit begangen.
Auch in meiner Kindheit und Jugend war der 27. Januar eine Art Gedenktag. Allerdings ein ganz anderer, ohne die heutige Tragik. Es war Kaisers Geburtstag.
Obwohl Wilhelm II. schon vor meiner Schulzeit abgedankt hatte, überboten sich sowohl in der Volksschule als auch später im Gymnasium meine Lehrer darin, an jedem 27. Januar die Würde des letzten deutschen Kaisers zu preisen. Sie waren leider alle keine Sympathisanten der Republik gewesen.
Dass auch Wolfgang Amadeus Mozart an einem 27. Januar geboren wurde, fand man damals nicht erwähnenswert.
Und ich freue mich, dass heute dank des Komponisten von "Don Giovanni", "Figaros Hochzeit", "Zauberflöte", der Haffner-Symphonie und des Requiems - um nur einige Werke zu erwähnen - dieser Gedenktag an haarsträubende, von Deutschen begangene und dennoch dem deutschen Wesen nicht entsprechende, Untaten auch ergänzt wird durch die jubilierende Erinnerung an das universalste tonschöpferische Genie, das je in deutschen Landen gelebt und gewirkt hatte, eben an Wolfgang Amadeus Mozart.
Wir aber sind, ich wiederhole das, heute zusammengekommen, um der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.
"Auschwitz steht", das sagte Bundespräsident Roman Herzog in seiner vor zehn Jahren gehaltenen Gedenkansprache, "symbolhaft für millionenfachen Mord, vor allem an Juden, aber auch an anderen Volksgruppen."
Zwar war der Judenhass der Hauptmotor, der die Nationalsozialisten antrieb, und auch der wichtigste Kitt, der sie immer wieder zusammenhielt und wie ein Fliegenfänger auch viele andere Deutsche einfing. Dennoch gedenken wir heute, nicht nur der jüdischen, sondern auch aller anderen Opfer des Nationalsozialismus:
Kurz, wir gedenken in Demut, Trauer und dem feierlichen Versprechen in Zukunft die Freiheit jedes Menschen zu achten und zu verteidigen, aller, die von den Nationalsozialisten und ihren Helfershelfern drangsaliert, unterdrückt, verdammt, vertrieben und ermordet wurden.
Vor einem Jahr nannte der damalige Außenminister Joschka Fischer vor den Vereinten Nationen Auschwitz "den Tiefpunkt der deutschen Geschichte".
Dieses Urteil möchte ich nicht nur bekräftigen, sondern dazu eine Anmerkung wiederholen, die ich schon an anderer Stelle machte:
Was aber bedeutet der Millionenmord, an den wir uns heute - und hoffentlich nicht nur heute! - erinnern, für die Deutschen?
Der Zivilisationsbruch, den die Nationalsozialisten verübten und an dem viele Deutsche in den verschiedensten Formen mitwirkten, war auch die größte, wenn auch selbstverschuldete, Katastrophe und gleichzeitig unbegreiflichste Tragödie in der deutschen Geschichte. So tief war Deutschland vorher noch nie gesunken.
Ohne Täter und Opfer durcheinander zu bringen oder gar gleichzustellen, steht für mich fest: Die grauenhafteste Heimsuchung in der Geschichte der Juden war auch - spiegel- und schicksalsverkehrt - das größte Desaster in der Geschichte der Deutschen: eben der Tiefpunkt.
Ich weiss, wovon ich spreche. Als deutscher Jude, der ich trotz der vielen Wechselfälle meines Lebens immer geblieben bin, gehöre ich zu beiden Gruppen, zu den Juden und zu den Deutschen. Zweifach spüre ich deshalb das Leid und die Tragik.
Ich sprach von mir als deutschem Juden, der ich geblieben bin, obwohl ich 1945 als amerikanischer Soldat nach Deutschland zurückgekommen war.
Erlauben Sie mir deshalb, zur Erklärung jetzt ganz kurz auf mein Leben zurückzublicken.
Als ich aufwuchs und zur Schule ging, war beides, Judentum und Deutschtum, etwas Selbstverständliches, etwas scheinbar Untrennbares. Oft hatte mein Vater Jakob Wassermann zitiert, der in seinem Essay "Mein Weg als Deutscher und Jude" das aussprach, was der Großteil der deutschen Juden damals fühlte.
Ich selbst las, was Gabriel Riesser, der Hamburger Jurist und spätere Vizepräsident der Frankfurter Nationalversammlung, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesagt hatte: "Wir - die deutschen Juden - sind nicht eingewandert. Wir sind eingeboren."
Und bei anderer Gelegenheit:
"Wer mir den Anspruch auf mein Deutsches Vaterland bestreitet, bestreitet mir das Recht auf meine Gedanken, meine Gefühle, auf die Sprache, die ich rede, auf die Luft, die ich atme."
Überhöht sagte das ein Jahrhundert später der auch aus Deutschland vertriebene Theaterkritiker Julius Bab:
"Durch deutsche Weisheit und deutsche Kunst haben wir den Weg zur Kulturgemeinschaft der Welt gefunden."
Obwohl es immer wieder auch antisemitische Auswüchse gab, fühlte ich mich nicht nur als Deutscher. Ich war Deutscher wie all meine Schulkameraden und anderen Mitbürger neben mir.
Und meine Heimat, wie die fast aller deutscher Juden, war die deutsche Sprache, was z.B. Hannah Arendt und Karl Wolfskehl in der Emigration oft betonten, und was schon Heinrich Heine in seinem "Wintermärchen" beschrieb: "Und als ich die deutsche Sprache vernahm,/Da ward mir ganz seltsam zumute./ Ich meinte nicht anders, als ob/das Herz mir angenehm verblute."
Der Zionismus, der Wunsch zur eigenen jüdischen Heimstatt, nahm unter den deutschen Juden solange einen zweiten Platz ein, bis Adolf Hitler an die Macht kam.
Allerdings auch nach 1933 glaubten viele - darunter auch ich - noch lange, allzu lange, dass es selbst unter dem Nationalsozialismus für Juden in Deutschland einen modus vivendi, eine Lebensmöglichkeit gebe.
Aber das änderte sich nach dem Verlust der Bürgerrechte im September 1935 und nach einem KZ-Aufenthalt im Herbst 1938. Schließlich konnte ich im Sommer 1939 in die Vereinigten Staaten einwandern. Dafür werde ich immer dankbar bleiben.
Als im Dezember 1941 nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor die damalige deutsche Regierung den USA den Krieg erklärte, betrieb ich meine sofortige Einberufung in die amerikanische Armee. Als Soldat wurde ich auch amerikanischer Bürger.
1944 landete ich an der französischen Ärmelkanalküste und machte den Feldzug durch Frankreich und Deutschland mit. Durch einen Zufall war ich am 8. Mai 1945, am Tag des Kriegsendes, in meiner Heimatstadt Augsburg.
Noch bis zuletzt hatte ich gehofft, dort meine Eltern und meinen jüngeren Bruder lebend anzutreffen. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Sie waren alle schon in der Passionswoche des Jahres 1942 in den europäischen Osten deportiert und dann ermordet worden.
Das war in knappen Worten mein Lebenslauf bis zum Ende des Krieges.
Auschwitz habe ich also selbst nicht erlebt. Die Gründung dieses schließlich größten Konzentrations- und Vernichtungslagers erfolgte ja erst nach meiner Auswanderung; aber ich weiss natürlich, was für Verbrechen dort begangen wurden.
Die Vergasungen mit dem hochgiftigen Vertilgungsmittel Zyklon-B begannen in Auschwitz im September 1941. Die ersten Opfer waren gefangene sowjetische Soldaten. Die Vergasungen von Juden fingen im Oktober desselben Jahres an.
Neben Auschwitz gab es noch eine Reihe von anderen Vernichtungsstätten, z. B. Belzec, Chelmno, Majdanek, Sobibor, Treblinka. All diese Lager befanden sich im europäischen Osten und hatten einen Hauptzweck: die heimliche Tötung von unliebsamen Häftlingen, hauptsächlich von Juden.
Die genaue Gesamtzahl der dort und im ganzen europäischen Osten Ermordeten, die in die Millionen geht, ist unbekannt.
Immer wenn ich an das Grauen von Auschwitz denke, wo ich selbst nicht war, lebt in mir wie ein Albtraum die Erinnerung an Buchenwald auf. Dorthin wurde ich im Verlauf der Novemberpogrome des Jahres 1938 verbracht.
Ich will nun nicht im Einzelnen schildern, was ich dort alles erlebte und sah; sonst müssten wir hier noch mehrere Stunden beisammen bleiben.
Es mag genügen, dass ich sage, es war furchtbar, unvorstellbar; am schlimmsten natürlich für die Alten und Kranken.
In ganz Deutschland wurden während dieser Pogrome, bei diesen angeblich "spontanen" Ausschreitungen, unzählige Synagogen und Bethäuser demoliert und etwa 8.000 jüdische Geschäfte geplündert. Mehr als 100 Menschen kamen dabei ums Leben.
Diese Verwüstungen haben Tausende Nichtjuden gesehen. Aber so gut wie keiner hat etwas getan.
Natürlich gab es Ausnahmen, wie es während der ganzen nationalsozialistischen Zeit immer wieder Einzelne gab, die bei der allgemeinen Verrohung und beim Wegschauen nicht mitmachten.
Nur ein Beispiel will ich nennen:
Es war in Ostpreußen.
Als der Landrat von Schloßberg, Wichard von Bredow, hörte, dass in seinem Landkreis die Synagoge angezündet werden sollte, zog er seine alte Uniform an und sagte Frau und Kindern: "Ich will als Christ und Deutscher ein Verbrechen in meinem Amtsbereich verhindern."
Dann stellte er sich mit geladener Pistole vor die Synagoge und schwor, nur über seine Leiche könnte dieses Gotteshaus entweiht werden.
Die Synagoge blieb dank dieses wackeren Mannes unberührt.
Doch zurück zu Buchenwald.
Bald schon wurden solche Häftlinge entlassen, die nachweisen konnten, dass ihre Auswanderung bevorstand.
Damals - 1938 - war es noch nationalsozialistische Politik, die Juden zum Verlassen ihrer Heimat zu zwingen.
Die Politik des Massenmordens begann erst später.
Auch ich selbst wurde nach einigen Wochen aus Buchenwald entlassen.
Und auf der Rückreise begegnete ich zwei integer gebliebenen einfachen Leuten.
Ein Arbeiter steckte mir heimlich ein belegtes Brot in meine Tasche.
Und eine Klosettfrau in Berlin wollte von mir kein Geld nehmen, nachdem sie erkannt hatte, dass ich aus einem KZ kam.
Anstand war in Deutschland Mangelware geworden.
Aber man fand ihn noch, und manchmal an den unglaublichsten Plätzen.
Nicht ganz fünfeinhalb Jahre später war ich übrigens wieder in Buchenwald, - diesmal als amerikanischer Soldat, quasi als Befreier.
Aber was ich an jenem 11. April 1945 dort sah, ließ das, was ich selbst erlebt hatte, zu einem Nichts zusammenschrumpfen.
Die gerade befreiten Häftlinge waren lebendige Skelette. Sterbende lagen mit glanzlosen Augen am Boden. Tote waren wie Holzscheite aufeinandergestapelt. Ein Leichengeruch hing in der Luft, und der Gedanke, dass es in Auschwitz noch schrecklicher gewesen sein musste, war kaum zu ertragen.
1938 war Buchenwald ein sadistisch geführtes Straflager. 1945 war es ein Todeslager.
Wenn ich zurückblicke, war das Schlimmste in der Anfangzeit der nationalsozialistischen Diktatur, dass Menschen, mit denen man bisher normal verkehrte, sich plötzlich rar machten.
Man fühlte sich auf einmal als Außenseiter, als Paria, als Ausgestoßener.
Und das war nicht nur, wie es nach dem zweiten Weltkrieg oft verharmlosend hieß, Feigheit oder Angst. Es war für die meisten ein unverständliches Anpassen an das Böse, das man aber oft gar nicht mehr als solches erkannte.
Es war ein Gesinnungswandel, ja eine Gesinnungslumperei.
In vielen Menschen hatte der Teufel über Gott gesiegt.
Am meisten hat mich in jener Zeit das weitgehende Verstummen der christlichen Kirchen bestürzt. Und indem ich das feststelle, verbeuge ich mich in großer Dankbarkeit vor den wenigen, leuchtenden Ausnahme-Erscheinungen.
Eine der hehrsten möchte ich kurz zitieren.
Es ist der Widerstandsgeistliche Dietrich Bonhoeffer, der noch am 9. April 1945 auf Befehl Hitlers im KZ Flossenbürg gehängt wurde und dessen 100. Geburtstag nächste Woche begangen wird.
Pastor Bonhoeffer stellte fest: "Die Kirche … war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie".
Ich sprach von dem Versagen der christlichen Kirchen, und ich wiederhole, wie sehr ich die wenigen Einzelnen bewundere, die damals ihrem Glauben und ihrem Gewissen folgten.
Das Gebot: "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst" findet sich nicht nur beim Evangelisten Matthäus; es steht auch schon im dritten Buch Mose.
Aber der Aufruf zur für alle geltenden Liebe wurde sehr bald das wichtigste Moralgesetz des Christentums. Bereits im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther heißt es: "Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen."
Und Franz Rosenzweig sagte in seinem philosophischen Hauptwerk "Der Stern der Erlösung": "Liebe Deinen Nächsten, das ist, so versichern Jud' und Christ, der Inbegriff aller Gebote."
Ich fragte mich damals, und ich frage Sie heute:
Wo blieb in der Zeit zwischen 1933 und 1945 die christliche Liebe zu den Juden, Sinti und Roma und vielen anderen?
Die Kirchen bewährten sich damals in diesem so wichtigen Punkt ebenso wenig wie der Großteil der deutschen Bevölkerung; und das trotz der vorbildlichen Haltung Einzelner.
Unverständlich ist dieses fast allgemeine Versagen der Deutschen im Hinblick auf das, was sich vor den Augen eines jeden abspielte.
Gewiss, nur eine Minderheit konnte wissen, was in den Vernichtungslagern wirklich geschah. Das wurde bewusst geheim gehalten.
Aber jeder konnte sehen, was zuhause ablief.
Man sah, wie Behinderte schikaniert wurden, wie man Homosexuelle misshandelte oder Roma und Sinti entrechtete.
Und man sah ganz besonders, wie man den Juden zuerst die Lebensmöglichkeit nahm; dann ihre Gotteshäuser schändete, sie später vertrieb, abholte und in eine ungewisse Zukunft verschickte.
All das konnte man sehen.
Doch allzu viele haben damals weggeschaut. Erst in diesen Tagen sind ein angesehener Bergsteiger und Tibetforscher und eine großartige Schriftstellerin gestorben, die beide bekannten und bedauerten, in ihrer Jugend schuldig geworden zu sein.
Wenn ich an solche Menschen denke, stellt sich mir auch oft die Frage, wie ich mich wohl verhalten hätte, wenn ich damals ein nichtjüdischer Deutscher gewesen wäre. Ich hoffe, ich wäre, der Richtschnur meiner Mutter folgend, ehrenhaft geblieben. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht behaupten.
Und ich warne auch die Nachgeborenen.
Viele davon sprechen nicht nur ihre Väter und Großväter schuldig, sondern verkünden vollmundig, so etwas wäre bei ihnen völlig unmöglich gewesen.
Niemand aber sollte über andere urteilen, der den Verlockungen nicht selbst ausgesetzt war.
Ich mache jetzt in meinen Gedanken einen großen Sprung; komme vom Damals zum Heute.
Einerseits leben in Deutschland jetzt so gut wie keine "eingeborenen" deutschen Juden mehr, andererseits entwickelt sich hier eine wachsende jüdische Gemeinschaft. Und es gibt - weitgehend als Folge der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik - ein Land der Juden, Israel. Zu diesem Staat hat Deutschland seit 40 Jahren diplomatische Beziehungen und gehört seitdem zu seinen zuverlässigsten internationalen Fürsprechern.
Es gibt christlich-jüdische Vereinigungen, und in Deutschland werden mehr Doktorarbeiten über jüdische Themen geschrieben als in irgendeinem anderen Land.
Im Mai des vergangenen Jahres wurde in der politischen Mitte Berlins das Mahnmal für die ermordeten Juden eingeweiht. Die Berliner und ihre Besucher haben es sofort angenommen. (Hoffentlich folgend nun bald auch die versprochenen Gedenkstätten für andere Verfolgten-Gruppen.)
Es leben also in Deutschland wieder Juden. Aber es gibt, wie in anderen Teilen Europas, leider auch wieder einen Antisemitismus. Dieser ist da, auch wenn sich Judenfeindlichkeit oft weitgehend versteckt oder als Kritik an Israel tarnt, wobei man manchmal die sinnwidrige These hören kann, die Israelis seien die Nazis von heute.
Auch der Antiamerikanismus ist recht oft dem Antisemitismus sehr nahe. In leichter Abänderung einer Hitlerschen These hört man oft, die Juden hätten in den USA zuviel Einfluss. Sie bestimmten vor allem - hauptsächlich wegen Israel - die amerikanische Außenpolitik. Das ist Humbug, aber es wird geglaubt.
Neo-Nazis sind in diesem Lande wieder aktiv. Dabei handelt es sich nicht um alte Parteigenossen von früher, sondern weitgehend um junge Menschen, bei denen die bekannten Vorurteile wieder einen Saatboden finden.
Dennoch besteht kein Grund zur Sorge, wenn Sie, wenn wir alle, wachsam bleiben.
Wenn wir, sobald Antisemitismus irgendwo in der Welt - wie heute etwa bei der iranischen Staatsführung - virulent wird, das nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern zu aktivem Tun bereit sind.
Nun aber habe ich, zum Schluss kommend, noch einen Wunsch.
Ich bitte Sie, nach meinen Worten nicht, wie es üblich ist, Beifall zu klatschen.
Wir gedenken in dieser Feierstunde am zentralen politischen Gestaltungsort Deutschlands der Millionen Menschen, denen der Nationalsozialismus den Tod brachte. Wir gedenken der jüdischen und aller übrigen Opfer.
Daneben gedenke ich, gedenken viele von Ihnen, auch der anderen Opfer, die im vergangenen Jahrhundert in vielen Teilen der Welt getötet wurden, der Zeit, für die der weise Friedrich Nietzsche den Nihilismus voraussagte, dem Jahrhundert, in dem mehr Menschen von anderen Menschen umgebracht wurden als je zuvor.
Anstelle irgendeiner Beifallbekundung werde ich Sie um eine Minute des dem Angedenken gewidmeten Schweigens bitten.
Zunächst zum Gedenken an die sechs Millionen getöteten Juden, zu denen auch meine Eltern gehören, an die ermordeten Sinti und Roma und an alle Opfer des Nationalsozialismus. Aber darüber hinaus an alle, die im zwanzigsten Jahrhundert irgendwo auf der Erde um ihres Glaubens, Ihrer Rasse, ihrer Abstammung, ihres Geschlechts oder auch völlig grundlos ermordet wurden.
Auf diese Weise, durch gemeinsames Schweigen, ehren wir sie alle.
Ich darf Sie nun um diese eine Minute der absoluten Stille bitten.
Ich danke Ihnen sehr.
Niemand von Ihnen kann auch nur im Entferntesten ermessen, was es für mich bedeutet, hier zu stehen. Das von Paul Wallot vor 120 Jahren errichtete Reichstagsgebäude war für mich, dem im Kaiserreich Geborenen und in der Weimarer Republik Aufgewachsenen, in meinen jungen Jahren so eine Art Tempel der Nation, ein Dom der Demokratie, ein Garant der Aufklärung.
In diesem Palast glaubte ich Freiheit, Liberalität, Toleranz, Menschenwürde und wahres Deutschtum fest verankert.
Ich war betroffen, als sich in diesem Haus in den Tagen von Weimar Reichstagsabgeordnete der extremen Rechten und der äußersten Linken darin überboten, die deutsche Republik schlecht zu machen. Ich war entsetzt, als dieser ehrwürdige Bau am 27. Februar 1933 von Gegnern eben jenes Weimarer Staates in Brand gesetzt wurde, was andere Feinde der ersten deutschen Republik für ihre eigenen, üblen Zwecke nutzten. All das war ein böses Omen.
Trotz dieser Brandschatzung bestand der Reichstag als Institution weiter. Allerdings diente dieses Parlament bald nach der sogenannten Machtergreifung nur noch als Forum der Entgegennahme und Billigung von Erklärungen der nationalsozialistischen Reichsregierung.
Diese Schein-Volksvertretung, die in der Kroll-Oper zusammentrat, hat die allgemeinen Entrechtungen, die sofort nach dem 30. Januar 1933 begannen und stets besonders die deutschen Juden betrafen, jeweils bedenkenlos gebilligt.
Am 15. September 1935 hat dann der in jenen Tagen nur noch aus Nationalsozialisten bestehende Reichstag in der Parteitags-Stadt Nürnberg die nach diesem Ort benannten Gesetze erlassen. Durch diese wurden allen deutschen Juden, also auch mir, die Bürgerrechte geraubt. Über Nacht wurden mir und allen anderen deutschen Juden die Anrechte entrissen, die sich unsere Vorfahren durch Jahrhunderte langes Leben und Wirken in deutschen Landen erworben hatten. Ich - und Hunderttausende Andere - hatten aufgehört, deutsche Bürger zu sein.
Im November 1938 wurde ich in ein Konzentrationslager verschickt.
Heute nun, ein biblisches Menschenalter später, stehe ich hier im Reichstag, stehe vor den hohen Organen des nochmals erstandenen und wiedervereinten, freien Deutschlands und darf an die Untaten erinnern, die zwischen 1933 und 1945 von Deutschen begangen wurden. Mit Ihnen allen gemeinsam darf ich um die vielen Millionen Opfer trauern, die von Deutschen oder auf deutschen Befehl umgebracht wurden.
Dass diese totale Veränderung möglich wurde, dass Deutschland als freier, freiheitlicher und zutiefst verantwortungsbewusster Staat noch einmal erstehen konnte, aber auch dass wir der vielen Opfer von damals gedenken, dafür danke ich allen Beteiligten:
Den Soldaten vieler Nationen, die das nationalsozialistische Deutschland bekämpften und besiegten; den Politikern und Staatsmännern, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die Fehler von 1919 wiederholten, sondern einem geläuterten Deutschland die Chance der Erneuerung gaben; all denen, die halfen, die staatlichen, geistigen und wirklichen Trümmer zu beseitigen und das wahre Deutschland neu zu errichten.
Aber ich danke auch den Frauen und Männern - besonders im Osten dieses Landes -, die den Glauben an ein freies Deutschland nie aufgaben und durch ihren Mut die Wiedervereinigung möglich machten. Ich danke dafür, dass dieser Tag der Befreiung von Auschwitz von Bundespräsident Roman Herzog als Gedenktag für alle Opfer der nationalsozialistischen Unrechts- und Gewaltherrschaft festgelegt wurde.
Ich danke dem Bundestag, den in freien Wahlen gekürten Vertretern aller Deutschen, dass diese Gedenkstunde hier stattfinden kann. Ich danke den Musikern für die würdige Umrahmung dieser Feststunde. Von den Komponisten habe ich zwei persönlich gekannt. Und ich danke dem Herrn Bundestagspräsidenten für seine freundlichen und bemerkenswerten Worte und auch dafür, dass er mich eingeladen hat, hier zu Ihnen zu sprechen.
Aber ich danke ganz besonders Gott, dass Er all dies möglich gemacht hat. Ich danke Ihm mit einem uralten jüdischen Lobspruch, der für alle monotheistischen Religionen Gültigkeit hat, oder zumindest haben sollte: "Boruch Ha'Schem" - Gelobt sei Sein heil'ger Name.
Wir sind hier versammelt, um am Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz aller Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.
Auf Grund einer Entscheidung der Vollversammlung der Vereinten Nationen wird der Holokaust-Gedenktag heute auch weltweit begangen.
Auch in meiner Kindheit und Jugend war der 27. Januar eine Art Gedenktag. Allerdings ein ganz anderer, ohne die heutige Tragik. Es war Kaisers Geburtstag.
Obwohl Wilhelm II. schon vor meiner Schulzeit abgedankt hatte, überboten sich sowohl in der Volksschule als auch später im Gymnasium meine Lehrer darin, an jedem 27. Januar die Würde des letzten deutschen Kaisers zu preisen. Sie waren leider alle keine Sympathisanten der Republik gewesen.
Dass auch Wolfgang Amadeus Mozart an einem 27. Januar geboren wurde, fand man damals nicht erwähnenswert.
Und ich freue mich, dass heute dank des Komponisten von "Don Giovanni", "Figaros Hochzeit", "Zauberflöte", der Haffner-Symphonie und des Requiems - um nur einige Werke zu erwähnen - dieser Gedenktag an haarsträubende, von Deutschen begangene und dennoch dem deutschen Wesen nicht entsprechende, Untaten auch ergänzt wird durch die jubilierende Erinnerung an das universalste tonschöpferische Genie, das je in deutschen Landen gelebt und gewirkt hatte, eben an Wolfgang Amadeus Mozart.
Wir aber sind, ich wiederhole das, heute zusammengekommen, um der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.
"Auschwitz steht", das sagte Bundespräsident Roman Herzog in seiner vor zehn Jahren gehaltenen Gedenkansprache, "symbolhaft für millionenfachen Mord, vor allem an Juden, aber auch an anderen Volksgruppen."
Zwar war der Judenhass der Hauptmotor, der die Nationalsozialisten antrieb, und auch der wichtigste Kitt, der sie immer wieder zusammenhielt und wie ein Fliegenfänger auch viele andere Deutsche einfing. Dennoch gedenken wir heute, nicht nur der jüdischen, sondern auch aller anderen Opfer des Nationalsozialismus:
- der vielen ermordeten Sinti und Roma, die man damals allgemein Zigeuner nannte;
- der weiblichen und männlichen Homosexuellen;
- der Behinderten und anderen Euthanasie-Geschädigten;
- der Verurteilten einer willkürlichen, beziehungsweise auf Befehl handelnden Militärgerichtsbarkeit;
- der politischen und der angeblich arbeitsscheuen Häftlinge;
- der hauptsächlich aus dem europäischen Osten stammenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter;
- der Frauen und Männer des vielgestaltigen Widerstandes.
Kurz, wir gedenken in Demut, Trauer und dem feierlichen Versprechen in Zukunft die Freiheit jedes Menschen zu achten und zu verteidigen, aller, die von den Nationalsozialisten und ihren Helfershelfern drangsaliert, unterdrückt, verdammt, vertrieben und ermordet wurden.
Vor einem Jahr nannte der damalige Außenminister Joschka Fischer vor den Vereinten Nationen Auschwitz "den Tiefpunkt der deutschen Geschichte".
Dieses Urteil möchte ich nicht nur bekräftigen, sondern dazu eine Anmerkung wiederholen, die ich schon an anderer Stelle machte:
- Die Juden waren damals, das kann man nicht oft genug betonen, nicht die alleinigen Leidtragenden, aber die Hauptbetroffenen.
- Dieser ruchlose Massenmord, dieser Genozid, war die größte Katastrophe, welche die Juden je befiel, schlimmer als die Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70;
- schlimmer als die Massaker zu Beginn der Kreuzzüge;
- und schlimmer als die Vertreibungen von der iberischen Halbinsel im Zusammenhang mit der Inquisition.
Was aber bedeutet der Millionenmord, an den wir uns heute - und hoffentlich nicht nur heute! - erinnern, für die Deutschen?
Der Zivilisationsbruch, den die Nationalsozialisten verübten und an dem viele Deutsche in den verschiedensten Formen mitwirkten, war auch die größte, wenn auch selbstverschuldete, Katastrophe und gleichzeitig unbegreiflichste Tragödie in der deutschen Geschichte. So tief war Deutschland vorher noch nie gesunken.
Ohne Täter und Opfer durcheinander zu bringen oder gar gleichzustellen, steht für mich fest: Die grauenhafteste Heimsuchung in der Geschichte der Juden war auch - spiegel- und schicksalsverkehrt - das größte Desaster in der Geschichte der Deutschen: eben der Tiefpunkt.
Ich weiss, wovon ich spreche. Als deutscher Jude, der ich trotz der vielen Wechselfälle meines Lebens immer geblieben bin, gehöre ich zu beiden Gruppen, zu den Juden und zu den Deutschen. Zweifach spüre ich deshalb das Leid und die Tragik.
Ich sprach von mir als deutschem Juden, der ich geblieben bin, obwohl ich 1945 als amerikanischer Soldat nach Deutschland zurückgekommen war.
Erlauben Sie mir deshalb, zur Erklärung jetzt ganz kurz auf mein Leben zurückzublicken.
Als ich aufwuchs und zur Schule ging, war beides, Judentum und Deutschtum, etwas Selbstverständliches, etwas scheinbar Untrennbares. Oft hatte mein Vater Jakob Wassermann zitiert, der in seinem Essay "Mein Weg als Deutscher und Jude" das aussprach, was der Großteil der deutschen Juden damals fühlte.
Ich selbst las, was Gabriel Riesser, der Hamburger Jurist und spätere Vizepräsident der Frankfurter Nationalversammlung, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesagt hatte: "Wir - die deutschen Juden - sind nicht eingewandert. Wir sind eingeboren."
Und bei anderer Gelegenheit:
"Wer mir den Anspruch auf mein Deutsches Vaterland bestreitet, bestreitet mir das Recht auf meine Gedanken, meine Gefühle, auf die Sprache, die ich rede, auf die Luft, die ich atme."
Überhöht sagte das ein Jahrhundert später der auch aus Deutschland vertriebene Theaterkritiker Julius Bab:
"Durch deutsche Weisheit und deutsche Kunst haben wir den Weg zur Kulturgemeinschaft der Welt gefunden."
Obwohl es immer wieder auch antisemitische Auswüchse gab, fühlte ich mich nicht nur als Deutscher. Ich war Deutscher wie all meine Schulkameraden und anderen Mitbürger neben mir.
Und meine Heimat, wie die fast aller deutscher Juden, war die deutsche Sprache, was z.B. Hannah Arendt und Karl Wolfskehl in der Emigration oft betonten, und was schon Heinrich Heine in seinem "Wintermärchen" beschrieb: "Und als ich die deutsche Sprache vernahm,/Da ward mir ganz seltsam zumute./ Ich meinte nicht anders, als ob/das Herz mir angenehm verblute."
Der Zionismus, der Wunsch zur eigenen jüdischen Heimstatt, nahm unter den deutschen Juden solange einen zweiten Platz ein, bis Adolf Hitler an die Macht kam.
Allerdings auch nach 1933 glaubten viele - darunter auch ich - noch lange, allzu lange, dass es selbst unter dem Nationalsozialismus für Juden in Deutschland einen modus vivendi, eine Lebensmöglichkeit gebe.
Aber das änderte sich nach dem Verlust der Bürgerrechte im September 1935 und nach einem KZ-Aufenthalt im Herbst 1938. Schließlich konnte ich im Sommer 1939 in die Vereinigten Staaten einwandern. Dafür werde ich immer dankbar bleiben.
Als im Dezember 1941 nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor die damalige deutsche Regierung den USA den Krieg erklärte, betrieb ich meine sofortige Einberufung in die amerikanische Armee. Als Soldat wurde ich auch amerikanischer Bürger.
1944 landete ich an der französischen Ärmelkanalküste und machte den Feldzug durch Frankreich und Deutschland mit. Durch einen Zufall war ich am 8. Mai 1945, am Tag des Kriegsendes, in meiner Heimatstadt Augsburg.
Noch bis zuletzt hatte ich gehofft, dort meine Eltern und meinen jüngeren Bruder lebend anzutreffen. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Sie waren alle schon in der Passionswoche des Jahres 1942 in den europäischen Osten deportiert und dann ermordet worden.
Das war in knappen Worten mein Lebenslauf bis zum Ende des Krieges.
Auschwitz habe ich also selbst nicht erlebt. Die Gründung dieses schließlich größten Konzentrations- und Vernichtungslagers erfolgte ja erst nach meiner Auswanderung; aber ich weiss natürlich, was für Verbrechen dort begangen wurden.
Die Vergasungen mit dem hochgiftigen Vertilgungsmittel Zyklon-B begannen in Auschwitz im September 1941. Die ersten Opfer waren gefangene sowjetische Soldaten. Die Vergasungen von Juden fingen im Oktober desselben Jahres an.
Neben Auschwitz gab es noch eine Reihe von anderen Vernichtungsstätten, z. B. Belzec, Chelmno, Majdanek, Sobibor, Treblinka. All diese Lager befanden sich im europäischen Osten und hatten einen Hauptzweck: die heimliche Tötung von unliebsamen Häftlingen, hauptsächlich von Juden.
Die genaue Gesamtzahl der dort und im ganzen europäischen Osten Ermordeten, die in die Millionen geht, ist unbekannt.
Immer wenn ich an das Grauen von Auschwitz denke, wo ich selbst nicht war, lebt in mir wie ein Albtraum die Erinnerung an Buchenwald auf. Dorthin wurde ich im Verlauf der Novemberpogrome des Jahres 1938 verbracht.
Ich will nun nicht im Einzelnen schildern, was ich dort alles erlebte und sah; sonst müssten wir hier noch mehrere Stunden beisammen bleiben.
Es mag genügen, dass ich sage, es war furchtbar, unvorstellbar; am schlimmsten natürlich für die Alten und Kranken.
In ganz Deutschland wurden während dieser Pogrome, bei diesen angeblich "spontanen" Ausschreitungen, unzählige Synagogen und Bethäuser demoliert und etwa 8.000 jüdische Geschäfte geplündert. Mehr als 100 Menschen kamen dabei ums Leben.
Diese Verwüstungen haben Tausende Nichtjuden gesehen. Aber so gut wie keiner hat etwas getan.
Natürlich gab es Ausnahmen, wie es während der ganzen nationalsozialistischen Zeit immer wieder Einzelne gab, die bei der allgemeinen Verrohung und beim Wegschauen nicht mitmachten.
Nur ein Beispiel will ich nennen:
Es war in Ostpreußen.
Als der Landrat von Schloßberg, Wichard von Bredow, hörte, dass in seinem Landkreis die Synagoge angezündet werden sollte, zog er seine alte Uniform an und sagte Frau und Kindern: "Ich will als Christ und Deutscher ein Verbrechen in meinem Amtsbereich verhindern."
Dann stellte er sich mit geladener Pistole vor die Synagoge und schwor, nur über seine Leiche könnte dieses Gotteshaus entweiht werden.
Die Synagoge blieb dank dieses wackeren Mannes unberührt.
Doch zurück zu Buchenwald.
Bald schon wurden solche Häftlinge entlassen, die nachweisen konnten, dass ihre Auswanderung bevorstand.
Damals - 1938 - war es noch nationalsozialistische Politik, die Juden zum Verlassen ihrer Heimat zu zwingen.
Die Politik des Massenmordens begann erst später.
Auch ich selbst wurde nach einigen Wochen aus Buchenwald entlassen.
Und auf der Rückreise begegnete ich zwei integer gebliebenen einfachen Leuten.
Ein Arbeiter steckte mir heimlich ein belegtes Brot in meine Tasche.
Und eine Klosettfrau in Berlin wollte von mir kein Geld nehmen, nachdem sie erkannt hatte, dass ich aus einem KZ kam.
Anstand war in Deutschland Mangelware geworden.
Aber man fand ihn noch, und manchmal an den unglaublichsten Plätzen.
Nicht ganz fünfeinhalb Jahre später war ich übrigens wieder in Buchenwald, - diesmal als amerikanischer Soldat, quasi als Befreier.
Aber was ich an jenem 11. April 1945 dort sah, ließ das, was ich selbst erlebt hatte, zu einem Nichts zusammenschrumpfen.
Die gerade befreiten Häftlinge waren lebendige Skelette. Sterbende lagen mit glanzlosen Augen am Boden. Tote waren wie Holzscheite aufeinandergestapelt. Ein Leichengeruch hing in der Luft, und der Gedanke, dass es in Auschwitz noch schrecklicher gewesen sein musste, war kaum zu ertragen.
1938 war Buchenwald ein sadistisch geführtes Straflager. 1945 war es ein Todeslager.
Wenn ich zurückblicke, war das Schlimmste in der Anfangzeit der nationalsozialistischen Diktatur, dass Menschen, mit denen man bisher normal verkehrte, sich plötzlich rar machten.
Man fühlte sich auf einmal als Außenseiter, als Paria, als Ausgestoßener.
Und das war nicht nur, wie es nach dem zweiten Weltkrieg oft verharmlosend hieß, Feigheit oder Angst. Es war für die meisten ein unverständliches Anpassen an das Böse, das man aber oft gar nicht mehr als solches erkannte.
Es war ein Gesinnungswandel, ja eine Gesinnungslumperei.
In vielen Menschen hatte der Teufel über Gott gesiegt.
Am meisten hat mich in jener Zeit das weitgehende Verstummen der christlichen Kirchen bestürzt. Und indem ich das feststelle, verbeuge ich mich in großer Dankbarkeit vor den wenigen, leuchtenden Ausnahme-Erscheinungen.
Eine der hehrsten möchte ich kurz zitieren.
Es ist der Widerstandsgeistliche Dietrich Bonhoeffer, der noch am 9. April 1945 auf Befehl Hitlers im KZ Flossenbürg gehängt wurde und dessen 100. Geburtstag nächste Woche begangen wird.
Pastor Bonhoeffer stellte fest: "Die Kirche … war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie".
Ich sprach von dem Versagen der christlichen Kirchen, und ich wiederhole, wie sehr ich die wenigen Einzelnen bewundere, die damals ihrem Glauben und ihrem Gewissen folgten.
Das Gebot: "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst" findet sich nicht nur beim Evangelisten Matthäus; es steht auch schon im dritten Buch Mose.
Aber der Aufruf zur für alle geltenden Liebe wurde sehr bald das wichtigste Moralgesetz des Christentums. Bereits im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther heißt es: "Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen."
Und Franz Rosenzweig sagte in seinem philosophischen Hauptwerk "Der Stern der Erlösung": "Liebe Deinen Nächsten, das ist, so versichern Jud' und Christ, der Inbegriff aller Gebote."
Ich fragte mich damals, und ich frage Sie heute:
Wo blieb in der Zeit zwischen 1933 und 1945 die christliche Liebe zu den Juden, Sinti und Roma und vielen anderen?
Die Kirchen bewährten sich damals in diesem so wichtigen Punkt ebenso wenig wie der Großteil der deutschen Bevölkerung; und das trotz der vorbildlichen Haltung Einzelner.
Unverständlich ist dieses fast allgemeine Versagen der Deutschen im Hinblick auf das, was sich vor den Augen eines jeden abspielte.
Gewiss, nur eine Minderheit konnte wissen, was in den Vernichtungslagern wirklich geschah. Das wurde bewusst geheim gehalten.
Aber jeder konnte sehen, was zuhause ablief.
Man sah, wie Behinderte schikaniert wurden, wie man Homosexuelle misshandelte oder Roma und Sinti entrechtete.
Und man sah ganz besonders, wie man den Juden zuerst die Lebensmöglichkeit nahm; dann ihre Gotteshäuser schändete, sie später vertrieb, abholte und in eine ungewisse Zukunft verschickte.
All das konnte man sehen.
Doch allzu viele haben damals weggeschaut. Erst in diesen Tagen sind ein angesehener Bergsteiger und Tibetforscher und eine großartige Schriftstellerin gestorben, die beide bekannten und bedauerten, in ihrer Jugend schuldig geworden zu sein.
Wenn ich an solche Menschen denke, stellt sich mir auch oft die Frage, wie ich mich wohl verhalten hätte, wenn ich damals ein nichtjüdischer Deutscher gewesen wäre. Ich hoffe, ich wäre, der Richtschnur meiner Mutter folgend, ehrenhaft geblieben. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht behaupten.
Und ich warne auch die Nachgeborenen.
Viele davon sprechen nicht nur ihre Väter und Großväter schuldig, sondern verkünden vollmundig, so etwas wäre bei ihnen völlig unmöglich gewesen.
Niemand aber sollte über andere urteilen, der den Verlockungen nicht selbst ausgesetzt war.
Ich mache jetzt in meinen Gedanken einen großen Sprung; komme vom Damals zum Heute.
Einerseits leben in Deutschland jetzt so gut wie keine "eingeborenen" deutschen Juden mehr, andererseits entwickelt sich hier eine wachsende jüdische Gemeinschaft. Und es gibt - weitgehend als Folge der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik - ein Land der Juden, Israel. Zu diesem Staat hat Deutschland seit 40 Jahren diplomatische Beziehungen und gehört seitdem zu seinen zuverlässigsten internationalen Fürsprechern.
Es gibt christlich-jüdische Vereinigungen, und in Deutschland werden mehr Doktorarbeiten über jüdische Themen geschrieben als in irgendeinem anderen Land.
Im Mai des vergangenen Jahres wurde in der politischen Mitte Berlins das Mahnmal für die ermordeten Juden eingeweiht. Die Berliner und ihre Besucher haben es sofort angenommen. (Hoffentlich folgend nun bald auch die versprochenen Gedenkstätten für andere Verfolgten-Gruppen.)
Es leben also in Deutschland wieder Juden. Aber es gibt, wie in anderen Teilen Europas, leider auch wieder einen Antisemitismus. Dieser ist da, auch wenn sich Judenfeindlichkeit oft weitgehend versteckt oder als Kritik an Israel tarnt, wobei man manchmal die sinnwidrige These hören kann, die Israelis seien die Nazis von heute.
Auch der Antiamerikanismus ist recht oft dem Antisemitismus sehr nahe. In leichter Abänderung einer Hitlerschen These hört man oft, die Juden hätten in den USA zuviel Einfluss. Sie bestimmten vor allem - hauptsächlich wegen Israel - die amerikanische Außenpolitik. Das ist Humbug, aber es wird geglaubt.
Neo-Nazis sind in diesem Lande wieder aktiv. Dabei handelt es sich nicht um alte Parteigenossen von früher, sondern weitgehend um junge Menschen, bei denen die bekannten Vorurteile wieder einen Saatboden finden.
Dennoch besteht kein Grund zur Sorge, wenn Sie, wenn wir alle, wachsam bleiben.
Wenn wir, sobald Antisemitismus irgendwo in der Welt - wie heute etwa bei der iranischen Staatsführung - virulent wird, das nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern zu aktivem Tun bereit sind.
Nun aber habe ich, zum Schluss kommend, noch einen Wunsch.
Ich bitte Sie, nach meinen Worten nicht, wie es üblich ist, Beifall zu klatschen.
Wir gedenken in dieser Feierstunde am zentralen politischen Gestaltungsort Deutschlands der Millionen Menschen, denen der Nationalsozialismus den Tod brachte. Wir gedenken der jüdischen und aller übrigen Opfer.
Daneben gedenke ich, gedenken viele von Ihnen, auch der anderen Opfer, die im vergangenen Jahrhundert in vielen Teilen der Welt getötet wurden, der Zeit, für die der weise Friedrich Nietzsche den Nihilismus voraussagte, dem Jahrhundert, in dem mehr Menschen von anderen Menschen umgebracht wurden als je zuvor.
Anstelle irgendeiner Beifallbekundung werde ich Sie um eine Minute des dem Angedenken gewidmeten Schweigens bitten.
Zunächst zum Gedenken an die sechs Millionen getöteten Juden, zu denen auch meine Eltern gehören, an die ermordeten Sinti und Roma und an alle Opfer des Nationalsozialismus. Aber darüber hinaus an alle, die im zwanzigsten Jahrhundert irgendwo auf der Erde um ihres Glaubens, Ihrer Rasse, ihrer Abstammung, ihres Geschlechts oder auch völlig grundlos ermordet wurden.
Auf diese Weise, durch gemeinsames Schweigen, ehren wir sie alle.
Ich darf Sie nun um diese eine Minute der absoluten Stille bitten.
Ich danke Ihnen sehr.
Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/archiv/2006/gedenk/cramer_rede