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Das Projekt der umfassendsten Staatsreform seit 1949 ist in eine entscheidende Phase eingetreten: Das Gesetzespaket zur Föderalismusreform steht im Bundestag auf dem Prüfstand und wird in den Ausschüssen beraten. Vom 15. Mai bis zum 2. Juni führt der Rechtsausschuss des Bundestages gemeinsam mit dem Ausschuss für Innere Angelegenheiten des Bundesrates einen regelrechten Anhörungsmarathon durch. Über sieben Tage verteilt stehen mehr als hundert Sachverständige den Abgeordneten und Ländervertretern Rede und Antwort zu dem Reformvorhaben, das die Große Koalition im März ins Parlament eingebracht hat.
„Die Mutter aller Reformen“ hat der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) die Föderalismusreform genannt, die die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD am 10. März 2006 in den Bundestag eingebracht hat. Großes öffentliches Interesse ist dem Gesetzentwurf gewiss. Denn er betrifft eines der grundlegenden Prinzipien unserer Verfassung: die Bundesstaatlichkeit.
Laut Grundgesetz wirken die Bundesländer über den Bundesrat an der Verwaltung und Gesetzgebung des Bundes mit. Mit dem Reformpaket soll dieses Zusammenspiel von Bund und Ländern umfassend neu gestaltet werden. Dafür müssen 25 Grundgesetzartikel und 20 weitere Gesetze geändert werden. Sollten Bundestag und Bundesrat zustimmen, wäre es die größte Verfassungsreform seit Gründung der Bundesrepublik. Die Spitzen der Koalitionsfraktionen hoffen, dass sie zum 1. Januar 2007 in Kraft treten kann. Doch ob es dazu kommt, ist noch lange nicht entschieden. Denn um das Grundgesetz zu ändern, ist eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages und des Bundesrates erforderlich.
Die öffentlichen Anhörungen zu dem Gesetzentwurf, die vom 15. Mai bis zum 2. Juni im Bundestag stattfinden, wurden daher mit Spannung erwartet. Sie werden vom Rechtsausschuss des Bundestages gemeinsam mit dem Ausschuss für Innere Angelegenheiten des Bundesrates durchgeführt. Sieben Tage lang werden mehr als hundert Sachverständige Bundestagsmitgliedern und Ländervertretern Rede und Antwort stehen, was sie von dem Reformpaket in den Bereichen Gesetzgebung, Justiz, Inneres, Umwelt, Bildung, Finanzen, Soziales und Kultur halten.
Mangelnde Transparenz und Effektivität
Neu ist das Bestreben, die Zuständigkeiten von Bund und Ländern anders zu gestalten, nicht. Am Prinzip des Föderalismus selbst ist zwar nicht zu rütteln – die Bundesstaatlichkeit kann ebenso wenig abgeschafft werden wie die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit. Doch wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder einzelne Bestimmungen geändert.
In den letzten Jahren ist die Kritik am Zustand des föderalen Systems allerdings immer lauter geworden. Denn die Änderungen in der Vergangenheit hatten unter anderem zur Folge, dass heute etwa 60 Prozent der Gesetze, die der Bundestag erlässt, der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. (Der Anteil der zustimmungsbedürftigen Gesetze lag in den vergangenen Wahlperioden seit 1949 im Durchschnitt bei 53,2 Prozent.) Anders ausgedrückt: Weit mehr als die Hälfte aller Bundesgesetze kann die Länderkammer kippen.
Von dieser Möglichkeit macht sie durchaus Gebrauch, und nicht immer geht es dabei ausschließlich um Landesinteressen. „Die Ministerpräsidenten haben im Bundesrat immer zwei Hüte dabei. Man weiß nie genau, welchen sie aufsetzen“, erläutert der Föderalismusexperte Fritz W. Scharpf. „Da werden regelrechte Theaterstücke aufgeführt. Einmal treten die Ministerpräsidenten als Landesväter auf, die im Bundesrat tapfer die Interessen ihres Landes vertreten. Das nächste Mal geben sie Parteisoldaten, die im Interesse ihrer Farbe Politik machen.“
Die Folge: Wichtige Gesetzesvorhaben werden im Bundesrat oft blockiert. „Der Föderalismus in seiner jetzigen Form erlaubt es den Ministerpräsidenten und Bundespolitikern, sich gegenseitig den schwarzen Peter zuzuschieben", konstatiert Hartmut Kühne, Autor des Buches "Auslaufmodell Föderalismus?“. „Diese Unehrlichkeit führt zu Politikverdrossenheit – die Demokratie verliert zusätzlich an Rückhalt.“ Kritiker bemängeln außerdem zu wenig Transparenz und Effektivität, den der Mischmasch der Zuständigkeiten von Bundestag und Bundesrat bewirke.
Hauptstreitpunkt Bildung
Daher wurde im Oktober 2003 eine „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ eingesetzt. Insgesamt gehörten ihr 32 Repräsentanten der im Bundestag vertretenen Fraktionen sowie der Bundesländer an. Unter dem Vorsitz Stoibers und des damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering erarbeitete die Kommission Vorschläge für eine Neuordnung des föderalen Systems. Doch kurz vor einer glücklichen Einigung musste sie im Dezember 2004 ihr Scheitern bekannt geben: Es war ihren Mitgliedern nicht gelungen, sich in der Bildungspolitik auf Reformvorschläge zu einigen.
Erst im Rahmen der Koalitionsverhandlungen von Union und SPD wurde das Projekt Föderalismusreform im November 2005 wieder aufgegriffen. Auf der Basis der Vorschläge der Föderalismus-Kommission konnte nun auch im Hauptstreitpunkt „Bildung“ Einigkeit erzielt werden. Im Kern geht es bei der Reform darum, dass die Länder Zustimmungsrechte bei der Gesetzgebung des Bundes abgeben. Dafür erhalten sie auf bestimmten Gebieten mehr eigene Zuständigkeiten. Ziel ist es, das Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen, um das Reformtempo deutlich erhöhen zu können.
Außerdem soll die Finanzverantwortung von Bund und Ländern gegenüber der Europäischen Union (EU) neu geordnet werden. Eine grundsätzliche Neuregelung der Finanzbeziehungen zwischen gesamtstaatlicher und regionaler Ebene sieht die Föderalismusreform allerdings nicht vor. Eine eigenständige Reform der Finanzverfassung ist aber geplant und soll noch in dieser Wahlperiode abgeschlossen werden.
Stärkung des Bundes
Im Einzelnen will die Föderalismusreform durch folgende Änderungen die Rechte des Bundes stärken:
1. Bundesgesetze werden künftig insbesondere dann von der Zustimmung des Bundesrates abhängen, wenn sie „erhebliche Folgekosten“ in den Ländern verursachen. Durch diese Neuregelung soll die Quote der Zustimmungsgesetze von jetzt rund 60 Prozent auf voraussichtlich etwa 35 bis 40 Prozent sinken. Der Anteil der Zustimmungsgesetze in der 14. Wahlperiode (1998-2002) wäre von 55,2 Prozent auf 25,8 Prozent gefallen, in der 15. Wahlperiode (2002-2005) von 51 Prozent auf 24 Prozent.
2. Bisher durfte der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung Gesetze nur dann erlassen, wenn eine bundeseinheitliche Regelung zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ erforderlich war (Art. 72 Abs. 2 GG). Nun haben die Länder einer Änderung des Artikels zugestimmt. Danach darf der Bund in mehr als der Hälfte dieser Rechtsgebiete Gesetze erlassen, ohne den Nachweis erbringen zu müssen, dass sie nötig sind, um gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Dazu zählen auch das Bürgerliche Gesetzbuch, das Strafrecht und das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht.
3. Die Zuständigkeiten des Bundes im Bereich der Inneren Sicherheit – bislang eine Domäne der Länder – werden gestärkt. So erhält der Bund neue Kompetenzen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
4. Künftig soll allein der Bund für das Melde- und Ausweiswesen, das Waffen- und Sprengstoffrecht, das Kriegsfolgenrecht, den „Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland“ sowie die Kernenergie zuständig sein.
5. Die Zuständigkeiten für die Umwelt werden neu geordnet. Bislang war der Bund in diesem Bereich nur für die Rahmengesetzgebung zuständig. Jetzt erhält er die konkurrierende Kompetenz für den Naturschutz und die Landschaftspflege sowie den Wasserhaushalt. Damit kann er erstmals ein umfassendes Umweltgesetzbuch schaffen.
Allerdings dürfen die Länder in einigen Bereichen – dazu zählt unter anderem das Wasserrecht, Landespflege und Naturschutz – von den republikweiten Standards abweichen. Es werden jedoch Kernbereiche festgelegt, in denen ihnen dies nicht erlaubt ist. Außerdem erhält der Bund das Recht, nach einer abweichenden Regelung durch die Länder erneut ein Bundesgesetz zu schaffen, das das Landesrecht wieder außer Kraft setzt.
6. Die Länder beteiligen sich an der Finanzverantwortung des Gesamtstaates. Etwaige Sanktionszahlungen an die EU – beispielsweise beim Verstoß gegen den Europäischen Stabilitätspakt – trägt der Bund zu 65 Prozent. Die Länder steuern die verbleibenden 35 Prozent bei.
7. Die Rechte der Länder in Brüssel werden beschnitten. Sie dürfen auf EU-Ebene nur noch in den Bereichen schulische Bildung, Kultur (mit Ausnahme der auswärtigen Kulturpolitik) und Rundfunk die Bundesrepublik in Verhandlungen vertreten.
Neue Zuständigkeiten für die Länder
Im Gegenzug für diesen Verlust an Zuständigkeiten sollen die Länder eine Reihe neuer Rechte übertragen bekommen:
1. Die Zuständigkeit der Länder im Schulbereich wird weiter ausgebaut. Direkte Finanzhilfen des Bundes werden unzulässig. Eine in der Öffentlichkeit bereits viel diskutierte Konsequenz aus dieser Neuregelung ist, dass der Bund nicht mehr wie bislang den Ausbau von Ganztagsschulen finanziell unterstützen darf.
2. Auch für die Hochschulen sind die Länder in Zukunft fast komplett allein zuständig. Lediglich Hochschulzulassung und -abschlüsse werden vom Bund geregelt.
3. Die Kompetenzen für die Laufbahnen, die Besoldung und die Versorgung der Landes- und Kommunalbeamten gehen auf die Länder über.
4. Die Länder erhalten insbesondere die alleinigen Gesetzgebungskompetenzen für das Demonstrationsrecht, den Strafvollzug, das Notarrecht, das Heimrecht sowie das Ladenschluss- und das Gaststättenrecht.
Erklärtes Ziel der Föderalismusreform insgesamt ist es, die Kompetenzen von Bund und Ländern zu entwirren und klarere Zuständigkeiten bei der Gesetzgebung zu schaffen. Ob es durch die skizzierten Änderungsvorhaben erreicht werden kann, darüber wird im Bundestag vor der Sommerpause noch heftig debattiert werden.
Text: Nicole Alexander
Foto: Picture-Alliance
Erschienen am 22. Mai 2006
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