ESSAY
Gewissen nicht zum Nulltarif
von Winfried Kluth
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Bereits zwei Mal in diesem Jahr – bei den Abstimmungen über Bundeswehreinsätze in Mazedonien und gegen den internationalen Terrorismus – wurde von Abgeordneten der Koalitionsparteien erwartet, ihre persönlichen Bedenken zugunsten der Position der Bundesregierung und der Mehrheit von Koalition und ihrer eigenen Fraktion zurückzustellen. Bleibt hier die in Art. 38 Absatz 1 des Grundgesetzes garantierte Gewissensfreiheit der Abgeordneten auf der Strecke?
Die Furcht vor einer Vereinnahmung der einzelnen Parlamentarier durch die Partei oder Fraktion hat eine lange Tradition. Die Entscheidung für das freie Mandat, die in der Betonung der ausschließlichen Bindung der Abgeordneten an ihr Gewissen zum Ausdruck kommt, soll gewährleisten, dass sie nicht Partialinteressen einzelner Gesellschaftsgruppen dienen, sondern ihre Entscheidungen an einer eigenständigen Interpretation des Gemeinwohls orientieren. Insoweit ist die Verpflichtung auf das eigene Gewissen als eine Absage an alle Fremdbindungen der Parlamentarier zu verstehen.
Wie so mancher Grundsatz der Verfassung wird aber auch dieser durch gegenläufige Interessen beschränkt, die ebenfalls im Grundgesetz verankert sind. Hier ist namentlich auf die Funktion der Parteien zu verweisen, denen das Grundgesetz in Art. 21 eine tragende Rolle bei der Volkswillensbildung zuweist. Die Parteien sind es auch, die dem einzelnen Angeordneten durch Nominierung als Direktkandidat und Platzierung auf Landeslisten zu seinem Mandat verhelfen. Und es ist kein Geheimnis, dass viele Abgeordnete in erster Linie aufgrund des Erfolgs der Partei, ihrer Spitzenkandidaten und Programmatik den Einzug in den Deutschen Bundestag schaffen. Wenn deshalb bei einem von der Beschluss- und Interessenlage der Partei abweichenden Abstimmungsverhalten von Sanktionen gesprochen wird, so spiegelt sich darin die Mittlerfunktion der Partei wieder: Sie kann Mandate über die Vergabe von Listenplätzen ebenso geben wie nehmen. Niemand hat ihr gegenüber einen Rechtsanspruch auf die Wahrung von Besitzständen. Selbst der Fraktionsausschluss ist bei einer entsprechenden Schwere des politischen Schadens von abweichendem Abstimmungsverhalten verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da der Abgeordnete sein Mandat dadurch nicht verliert.
Wird aber damit das freie Mandat und die Bindung des Abgeordneten nur an sein Gewissen nicht konterkariert oder gar verletzt? Die Antwort auf diese berechtigte Frage kann ein Blick auf die Eigenarten des in Art. 4 Absatz 1 garantierten Grundrechtes der Gewissensfreiheit erleichtern. Für dieses Grundrecht ist allgemein anerkannt, dass die Berufung auf die Gewissensfreiheit nicht zum Nulltarif gewährleistet wird. Wer sich auf sein Gewissen als verbindliche innere ethische Instanz beruft, um staatlich auferlegte Pflichten abzuwehren, muss bereit sein, dafür auch Nachteile in Kauf zu nehmen.
Gewissenfreiheit ist als besonderer Ausdruck der Menschenwürde insofern als Instrumentalisierungsverbot zu verstehen. Wenn sie aber schwerwiegende Interessenkonflikte auslöst, kann die Berufung auf das Gewissen auch in der Option bestehen, dass Freiheit mit Nachteilen erkauft werden muss. Auch für den Abgeordneten bedeutet die Gewissensfreiheit deshalb im Zweifel die Wahl zwischen Treue zu sich selbst bzw. der verpflichtenden Stimme seines Gewissens und Treue zur Partei, zwischen Bereitschaft zur Aufgabe eines sicheren Mandats und der Chancensicherung auch für die kommende Wahlperiode.
Da das Bild von Abgeordneten, die sich trotz öffentlich geäußerter Gewissensbedenken für den Machterhalt entscheiden, jedenfalls auf Dauer sowohl den Abgeordneten selbst, als auch ihren Parteien und dem parlamentarischen System einen Glaubwürdigkeitsverlust beschert, sind Parteien und Fraktionen gut beraten, derartige Konflikte zu vermeiden. Deshalb ist es zu begrüßen, wenn bei ethisch brisanten Fragen, wie z. B. der im Januar anstehenden Entscheidung über Zulässigkeit und Förderung der Stammzellenforschung, die Fraktionsdisziplin aufgehoben wird. Wie im zivilen Leben gehören zur Berufung auf das Gewissen aber auch im parlamentarischen Alltag Bekenntnismut und die Bereitschaft, Nachteile in Kauf zu nehmen.
Winfried Kluth promovierte nach dem Studium von Rechtswissenschaft, Geschichte und Philosophie an den Universitäten Bonn und Münster und dem Ersten juristischen Staatsexamen 1987 zum Dr. jur. an der Universität Münster. Nach dem Zweiten juristischen Staatsexamen war er wissenschaftlicher Assistent an der Universität zu Köln. Dort 1996 Habilitation, Lehrbefugnis für die Fächer Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Finanzrecht. Seit 1998 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit Dezember 2000 Richter am Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt.